BMCR 2016.03.02

The Oxford Handbook of Neo-Latin. Oxford handbooks

, , The Oxford Handbook of Neo-Latin. Oxford handbooks. Oxford; New York: Oxford University Press, 2015. xvii, 614. ISBN 9780199948178.. $150.00.

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Zusammenfassende Darstellungen des aktuellen Wissens bzw. Forschungsstands (meist in englischer Sprache, bezeichnet als Handbook, Companion, Guide) erfreuen sich in vielen Bereichen von Kultur und Wissenschaft steigender Beliebtheit. Auf dem Gebiet der Literatur geht es um das aktuelle Bild eines Autors, einer Gattung oder einer Epoche,1 doch werden anstelle des Vollständigkeitsanspruchs traditioneller Literaturgeschichten oder Lexika eher Schwerpunkte gesetzt. Im Bereich des Neulateinischen ist die Entwicklung anders, in gewisser Hinsicht umgekehrt, verlaufen: Als Neulatein in den 70iger Jahren des 20. Jahrhunderts begann, sich als selbstständiger Wissenschaftszweig zu etablieren, erschien als erstes und bis heute unentbehrliches Hilfsmittel der Companion to Neo-Latin Studies von Josef IJsewijn.2 Auch eine Generation später ist man von einer umfassenden Geschichte der neulateinischen Literatur noch weit entfernt, aber 2014/15 sollten gleich drei neue Companions etc. im obigen Sinn erscheinen. Deren Zielsetzung ist durchaus unterschiedlich, ähnlich wie in der Geschichte der Klassischen Philologie eine sprachlich-literarische Schwerpunktsetzung dem Konzept einer umfassenden Altertumswissenschaft gegenübersteht. Am breitesten angelegt ist die zweibändige Brill´s Encyclopaedia of the Neo-Latin World (2014), die alle Aspekte des kulturellen Lebens vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart unter verschiedenen methodischen Ansätzen berücksichtigt. Im Gegensatz dazu beschränkt sich The Cambridge Guide to Neo-Latin Literature, der in Kürze erscheinen wird, auf den im Titel genannten Bereich.3

Das hier zu besprechende Oxford handbook of Neo-Latin schlägt einen Mittelweg ein. Es versucht, die wichtigsten Aspekte des Neulateinischen und seines kulturellen Umfeldes zu erfassen, legt aber doch besonderes Gewicht auf Literatur. Der wissenschaftliche Apparat ist so angelegt, dass das Werk sowohl für Spezialisten als auch für ein breiteres Publikum Anreize bieten kann, und aufgrund des geringeren Umfangs ist es auch preislich günstiger. Die insgesamt 35 Beiträge sind in drei Gruppen angeordnet ( Language and Genre, Cultural Contexts, Countries and Regions) und von ausgewiesenen Fachleuten verfasst, die zum Teil auch an den beiden anderen Sammelbänden mitgearbeitet haben. Der beschränkte Umfang zwingt zu äußerster Knappheit, was der Lesbarkeit nicht immer zuträglich ist. Zur Weiterführung endet jeder Beitrag mit Lektüreempfehlungen und einem Literaturverzeichnis. — Der in Umfang und Qualität sehr ausgeglichene Charakter macht die Auswahl einzelner Beiträge zur näheren Vorstellung schwierig. Sie erfolgt hier mit dem Schwerpunkt auf Literatur.

Keith Sidwell (1) fragt nach den konstitutiven Merkmalen von klassischem Latein (und seinem schwer bestimmbaren Verhältnis zur Umgangssprache) sowie von Mittel- und Neulatein, wobei er sprachliche Veränderungen in den praktischen Bedürfnissen von Staat und Kirche sowie in denen der italienischen Renaissance begründet sieht. Die neue Latinität ist in den Schriften ihrer Vertreter sehr unterschiedlich ausgeprägt und zeigt vor allem im Lexikalischen eine kontinuierliche Weiterentwicklung entsprechend dem Stand der Kenntnisse und neuer Erkenntnisse, speziell in den Naturwissenschaften. Neulatein hat das intellektuelle Leben weltweit bis ins 19. Jahrhundert geprägt, doch sind seine individuellen, regionalen und zeitgebundenen Ausformungen noch weitgehend ein Forschungsdesiderat.

Wie Florian Schaffenrath (4) einleitend feststellt, war Vergil nicht nur das wichtigste Vorbild der neulateinischen Epik, eine Reihe von Dichtern versuchte ihm auch insofern nachzufolgen, als sie sich zunächst der Bukolik, dann dem Lehrgedicht und schließlich dem Epos widmeten. Neben Vergil orientierte man sich nicht nur an den anderen antiken Epikern, sondern auch an Zeitgenossen (was noch kaum näher erforscht ist), während Ovid meist nur für einzelne Abschnitte oder Szenen imitiert wurde. Selbstverständlich wurden typische Szenen wie Seesturm oder Götterversammlung häufig nachgeahmt. Neulateinische Epik stand oft im Dienst von Machthabern, Konfessionen und Orden, die Produktion erreichte ihren Höhepunkt im (späten) 16. Jahrhundert. Manche Epen wurden kurz nach ihrem Erscheinen kommentiert, einige sogar von ihren Verfassern. Schaffenrath stellt für jedes Jahrhundert von 14. bis zum 18. ein bis zwei repräsentative Vertreter vor: Petrarca, Basini, Bartolini und Vida, Vegio und May und schließlich Iturriagas Epyllion Californias. — Bei diesem Beitrag wird der beschränkte Raum, der für die einzelnen Gattungen zur Verfügung steht, besonders spürbar: So bleibt bei Petrarcas Africa die „Poetik“ des 9. Buches unerwähnt, und es gibt kein Beispiel für das 19. Jahrhundert, obwohl man auch hier noch einem Nachahmer der vergilischen Werkreihe begegnet, Wilhelm Menis aus Brescia: Visio poetica 1833, Hygea 1847, Radetzky 1850.

Patrick Baker (10) hält in seinem breit dokumentierten Beitrag zur Geschichtsschreibung zunächst fest, dass alle mittelalterlichen Varianten historiographischer Literatur in der Renaissance weiterleben, aber in Form und Sprache eine Neuorientierung an den antiken Vorbildern erfolgt. Deren Imitation, starker Einfluss der Rhetorik, eine kritische Haltung gegenüber Quellen und auctoritates sowie die Ableitung von Richtlinien für das eigene politische Verhalten zählen zu den zentralen Tendenzen, die im Einzelfall nicht immer geschlossen präsent sein müssen. Panegyrik bzw. gezielte Akzentsetzung im Dienst von Herrschern, Städten, „Nationen“ und Institutionen einschließlich der Kirche und der Konfessionen gewinnen an Bedeutung, ebenso wie aus der Vergangenheit Argumente für die Gegenwart abgeleitet werden. Die weit verzweigte Entwicklung wird anhand von ausgewählten Autoren verdeutlicht, unter denen Leonardo Bruni die erste Stelle einnimmt. Er hat nicht nur die griechische Geschichtsschreibung auf breiter Basis erschlossen, sondern in seinem vor allem an Livius orientierten Hauptwerk über Florenz die Bedeutung der libertas für das Gedeihen eines Gemeinwesens illustriert. Bruni und Flavio Biondo, der Begründer einer kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise, sind die Archegeten einer Entwicklung, die bald ganz Europa erfasst. Für die Chorographie, die in Deutschland einen besonderen Stellenwert hat, ist Enea Silvio Piccolomini zu nennen, für die Kirchengeschichte Carlo Sigonio. Mit Paolo Giovio und Jacques-Auguste de Thou sind Höhepunkte der Zeitgeschichte erreicht, bevor im 17. Jahrhundert die nationalsprachliche Geschichtsschreibung die lateinische zu ersetzen beginnt.

Jan Papy (11) zeigt anhand einer Fülle von Material, wie die eher stereotypen Produkte der mittelalterlichen ars dictaminis durch die Wiederentdeckung von Ciceros Briefen im 14. Jahrhundert von den persönlich akzentuierten Briefen der Humanisten abgelöst wurden. Bei diesen sind Briefe ein zentrales Mittel der Selbstdarstellung, was gleich bei Petrarca deutlich wird, haben oft aber auch didaktische Zielsetzungen wie im Fall von Erasmus, dem sie zur Verbreitung der Ideale seines christlichen Humanismus dienen. (So werden auch Papys Ausführungen über Erasmus‘ Briefe zu einer zusammenfassenden Darstellung von dessen intellektueller Position.) Bei Lipsius kommt ein, durch seinen Lebenslauf bedingtes, apologetisches Element hinzu, ebenso wie er Hinweise zur praktischen Umsetzung seines Neostoizismus einfließen lässt. In weiterer Folge gewinnt die Briefliteratur eine zusätzliche Funktion als Medium des wissenschaftlichen Diskurses in vielen Disziplinen.

Ingrid De Smet (13) geht in ihrer akribischen Darstellung der Satire von dem kontroversen Begriff und dem Problem der Abgrenzbarkeit dieser Gattung aus, auf deren Unterscheidung vom griechischen Satyrspiel noch Casaubonus bestehen musste. Die hexametrische Satire in der Art des Lucilius hat im Italien des 15. Jahrhunderts in Francesco Filelfo einen markanten Vertreter, der auf die Satirendichtung vieler Länder große Wirkung ausübte. Für die Menippeische Satire (bzw. das Prosimetrum) in der Nachfolge Senecas ist Justus Lipsius‘ Somnium (ein Angriff auf voreilige Textkritik!) hervorzuheben, dessen Grundidee viele Nachfolger gefunden hat. Die engen Verbindungen der Satire zum Roman zeigen die fließenden Grenzen der Gattung ebenso wie Albertis Momus oder die Dunkelmännerbriefe. Selbstverständlich findet der Streit zwischen den Konfessionen häufig Ausdruck in satirischer Form. Auffällig ist, dass Frauen unter den Verfassern von Satiren fast völlig fehlen, woran auch die Entdeckung der vermeintlichen Sulpicia-Satire gegen Domitian im Jahr 1493 nichts änderte.4 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass gerade im Bereich der Satire vieles anonym oder unter Pseudonymen publiziert wurde. Die Gefährlichkeit satirischer Äußerungen zeigt sich auch darin, dass viele Texte nur handschriftlich erhalten sind. Die gegenseitige Beeinflussung neulateinischer und volkssprachlicher Satire ist ein Forschungsdesiderat.

In seinem Beitrag zur Rolle des Lateinischen in der Politik, in dem er der laufenden wissenschaftlichen Diskussion und diversen Forschungsdesideraten besondere Aufmerksamkeit schenkt, analysiert Marc Laureys (22) die Bedeutung der lateinischen Sprache und klassischen Bildung als Instrument des politischen Diskurses vom Beginn des Humanismus bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Auf eine Phase des Ciceronianismus folgt eine des Tacitismus sowohl in sprachlich– stilistischer als auch in politischer Hinsicht. Humanisten vermittelten nicht nur klassische Bildung an (potentielle) Machthaber, sie waren (seit Coluccio Salutati) oft selbst erfolgreiche Politiker. Enge Verbindungen zwischen Politik und Rhetorik sind ebenso charakteristisch wie die Verbindung von Theorie und Praxis bei ein und derselben Person. Neben der (vorwiegend) panegyrischen Zielsetzung von Antike-Imitationen können diese auch kritisch-satirischen Zwecken dienen. Abschließend findet Laureys fünf Gründe für den Erfolg des Lateinischen auf politischer Ebene: seine weite Verbreitung, sein hohes Ansehen, seine Etablierung als Schriftsprache, seine politische Neutralität und seine Verwendung in der päpstlichen Kurie.

Dirk Sacré (30) gibt einen konzisen Überblick über die Entwicklung des Humanismus in den Niederlanden, beginnend mit der Gründung der Universität Löwen 1425 und der Ausprägung des christlichen Humanismus durch Erasmus. Seit der Spaltung des Landes in einen spanisch beherrschten, katholischen Süden und einen protestantischen Norden sowie der Gründung der Universität Leiden 1575 konzentriert sich die weitere Entwicklung eindeutig auf den Norden. Zwar führt der Einfluss der Jesuiten im Süden zum Großprojekt der Analecta Bollandiana, doch steht dem in den freien Niederlanden, beginnend mit Justus Lipsius, eine lange Reihe hervorragender Philologen gegenüber, die vor allem der Latinistik für mehr als ein Jahrhundert die Richtung weisen. — In der Folge bietet Sacré einen materialreichen Überblick über die einzelnen Literaturgattungen: In der Dichtung liegt der Schwerpunkt bei Lyrik und Elegie, worin Johannes Secundus eine europaweit führende Rolle spielt. Bedeutende Leistungen wurden, vor allem im Norden, auch in der Rhetorik, Geschichtsschreibung und wissenschaftlichen Literatur erbracht (z.B. von Andreas Vesalius, dem Begründer der modernen Anatomie), aber auch andere Gattungen wie die Reiseliteratur verdienen Beachtung.5

Der abschließende Beitrag von Noël Golvers (35) betrifft Latein in Asien, speziell in China, wo es (ebenso wie in Indien und Japan) durch die Missionstätigkeit der Jesuiten und anderer Orden ab dem 16. Jahrhundert eine gewisse Bedeutung gewinnt. Etwa zwei Drittel der nach Europa gesandten Berichte geographisch-ethnographischen, naturwissenschaftlichen und linguistischen Inhalts waren in lateinischer Sprache verfasst und wurden zum Teil im Druck veröffentlicht. Als Beispiel seien die Werke des besonders produktiven Martino Martini genannt: Grammatica linguae Sinensis (1652/53, ein Versuch auf Basis der lateinischen Grammatik), Sinicae historiae decas prima (1658, Material aus chinesischen Quellen), Atlas Sinensis (1655, sehr erfolgreich). Kunstprosa oder Dichtung in lateinischer Sprache konnte sich unter den schwierigen Umständen der fernöstlichen Mission nicht entwickeln, aber einzelne Chinesen erwarben fundierte Kenntnisse des Lateinischen. Gegenwärtig ist ein erneutes Interesse an der Sprache zu beobachten, wie die vor Kurzem gegründete Academia Latina in Beijing zeigt.

Für das Herausgeberteam des Oxford Handbook of Neo-Latin war es keine leichte Aufgabe, auf dem eingeschlagenen Mittelweg den Erwartungen einer möglichst großen Zahl von Interessenten entgegenzukommen. So blieb kein Raum für die aufstrebende Forschung zur humanistischen Klassikerkommentierung. Auch könnte man meinen, dass die im Literaturbetrieb der Frühen Neuzeit prominente Panegyrik zu sehr unter anderen Sachtiteln versteckt sei, aber eben dort ist sie immer wieder präsent. Der schwierige Kompromiss zwischen breiter Information und kompakter Darstellung ist durchaus gelungen, und darüber hinaus bietet das Buch zahlreiche Anregungen zu weiterführender Forschung.

Notes

1. Z.B. behandeln mehr als 40 Cambridge Companions Themen der antiken Welt, vor allem Autoren von Homer bis Augustinus.

2. 1. Teil, History and Diffusion of Neo-Latin Literature, 1977, 2. Aufl. 1990; 2. Teil, Literary, Linguistic, Philological and Editorial Questions, zusammen mit Dirk Sacré, 1998.

3. Das Konzept des Buches wurde beim 16. Kongress der International Association for Neo-Latin Studies in Wien im August 2015 vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt, wie bei den Cambridge Companions (siehe Anm. 1), auf Autoren und deren Werken.

4. Mit „Sulpicia, the poetess of Pliny‘s day“ wird die historische Existenz dieser Dichterin vorausgesetzt. Sie ist allerdings nur als eine der (fiktiven?) Gestalten Martials (10, 35 & 38) belegt.

5. Die Bezeichnung der durch Giselin van Busbeck entdeckten Res Gestae Divi Augusti als Grabinschrift greift wohl zu kurz.