Ausgangspunkt des Buches bildet die Behauptung des Atheners, dass die Erziehung bereits im Kind das Verlangen wecken müsse, ein vollkommener Bürger zu werden (ἐραστὴν τοῦ πολίτην γενέσθαι τέλεον Nom. 643e5). Sie veranlasst Prauscello zu der Frage, welche Strategien in Magnesia angewandt werden, um dieses von ihr als ‚erotics of citizenship‘ bezeichnete Verlangen im gewöhnlichen Bürger zu wecken.
Um sie zu beantworten, vergleicht sie im Teil I (Performing ordinary virtue in Plato’s utopias: citizenship, desire and intention) die Verwendung der Sprache des Begehrens und die Grade der Tugend im Staat der Politeia und in Magnesia.
In Kap. 1 (Citizenship in Callipolis) zeigt sie, dass das Gemeinschaftsgefühl in Kallipolis durch den Gedanken der Freundschaft (φιλία) und den Mythos der Verwandtschaft aller als Kinder der Mutter Erde und der daraus resultierenden Pflicht zur Sorge um die Stadt gefördert wird. Das Wort ἔρως wird nur mit Bezug auf die zwei oberen Klassen verwendet, von denen die Wächter nur bis zum interpersonalen Eros gelangen, während die Philosophen in der Liebe zur Weisheit eine nichtpersonale Form des Eros erreichen. Hiermit kontrastiert Prauscello den Appell des Perikles, die Bürger sollten Liebhaber (ἐρασταί) der Polis werden (Thuk. 2,43,1). Eine solche Eroskonzeption ist in Kallipolis eliminiert: in die Regierungsämter dürfen gerade keine ἐρασταὶ τοῦ ἄρχειν gelangen ( Resp. 521b4-5). Als emotionales Engagement fordert die beste Stadt lediglich kindliche Ergebenheit und Fürsorge für die Stadt.
Die entsprechenden Verhältnisse in Magnesia beschreibt Prauscello in Kap. 2 (Citizenship in Magnesia): Um Bürger Magnesias zu sein, reicht eine instinktive Sophrosyne, die auch Sklaven und Metöken angeboren sein kann, nicht aus; erforderlich ist eine aus Selbsterkenntnis hervorgegangene Sophrosyne. Innerhalb der Bürgerschaft gibt es unterschiedliche Grade moralischer und kognitiver Fähigkeiten; die in dieser Hinsicht fähigsten Bürger bekleiden die Regierungsämter. Im Unterschied zur Politeia ist jedoch die Stufe des vollkommenen (ἀκρός 823a5) Bürgers allen Bürgern erreichbar, da diese, wie das an die gesamte Bürgerschaft gerichtete ‚Meta-Proömium‘1 feststellt, lediglich Gehorsam gegen die schriftlichen und die ungeschriebenen Gesetze erfordert (822e8f.). Um die Lücke zwischen der Elite und dem Rest des Bürgerkörpers zu überbrücken, dehnt Platon die Sprache und Rhetorik des Begehrens, speziell des erotischen Begehrens, auf die gesamte Bürgerschaft aus. Abgesehen vom interpersonalen gleichgeschlechtlichen Eros, der nur zugelassen wird, wenn er sich auf die Tugend des Geliebten richtet (837d4-6), und dem „göttlichen Eros“ des weisen Staatsmannes (711d6-7), ist die Liebe (ἔρως) zur bürgerlichen Tugend als Motivationsquelle jedem Durchschnittsbürger erreichbar und daher auch Teil des magnesischen Erziehungsideals. Denn nicht nur richtige Meinung, sondern auch ἐπιθυμία und ἔρως sind emotionale und kognitive Zustände zur Förderung der bürgerlichen Tugend. Die Erziehung beginnt mit richtiger Gewöhnung der ‚prärationalen‘ Emotionen, die das Verlangen wecken soll, ein vollkommener Bürger zu werden (643e5). Dass das Objekt der Liebe nicht wie bei Perikles die Stadt, sondern das Ideal des vollkommenen Bürgers ist, wertet Prauscello gegenüber dem durch formale Kriterien bestimmten athenischen Bürgerbegriff als Verinnerlichung im Sinne einer ‚freiwilligen Zugehörigkeit‘ zur Stadt. Bürger zu sein ist in Athen ein Status oder eine erreichte Leistung, in Magnesia dagegen eine lebenslange Praxis.
In Teil II (Citizenship and performance in the Laws) befasst sich Prauscello mit den Mitteln, mit denen die Rhetorik der ‚erotics of citizenship‘ in Magnesia implementiert wird.
Kap. 3 (Choral performances, persuasion and pleasure) behandelt den Chortanz (χορεία) als das wichtigste Instrument der Implementierung. Im Chortanz verkünden Bürger der gesamten Bürgerschaft die Überzeugung, dass das tugendhafteste Leben auch das lustvollste ist. Das gewöhnliche Bürgersein wird so zu einer performativen Handlung, die zur kollektiven Verhaltenssteuerung beiträgt. Für die Macht des gemeinsamen Chortanzes, in den Ausführenden und den Zuschauern erotisches Verlangen zu wecken, beruft sich Prauscello S. 114 mit L. Kurke2 auf entsprechende Äußerungen in der archaischen und klassischen Dichtung.
Da Platon im Kontext des Chortanzes auch die Tragödie erörtert (817a2ff.), stellt sich das Problem ihres gegenseitigen Verhältnisses. Prauscello löst es durch die Unterscheidung zweier Formen von Mimesis: der nicht-dramatischen (lyrischen) und der dramatischen (tragischen). Lyrisch ist die Mimesis dann, wenn die Choreuten zugleich als Bürger sich selbst darstellen. Da sie so zugleich Sprecher und Adressaten der von ihnen geäußerten Ansichten sind, können sie eine gemeinsame Bürgeridentität ausdrücken. Darauf beruht die größere Inklusivität und Autorität lyrischer Mimesis gegenüber der tragischen. Tragische Mimesis, bei der die Darstellenden andere Charaktere darstellen, birgt die Gefahr der Entfremdung durch Aneignung anderer Lebensweisen. Diese Gefahr wird vermieden durch die absolute Identität zwischen dem darstellenden Choreuten und dem dargestellten Bürger.
Die auch in der archaischen Lyrik thematisierte Verbindung von Musik und emotionaler Erziehung wird von Platon noch vertieft durch seine Physiologie der menschlichen Lust: der Chortanz aktiviert die von den Göttern geschenkte Fähigkeit, die Ordnung in Stimme und Bewegung, d.h. Harmonie und Rhythmus, wahrzunehmen und dabei Lust zu empfinden (654a). Das Wiederholungsmuster des Rhythmus weckt die Erwartung späterer Ereignisse und verbindet die von der Wahrnehmung der Ordnung ausgehende Lust mit der von der Lust hervorgebrachten emotionalen Überzeugung (δόξα) eines geordneten Fortgangs des bisherigen Verlaufs.
Kap. 4 (Patterns of chorality in Magnesia) ist den drei in Magnesia vorgesehenen Chören gewidmet. Während die den Musen und dem Apoll geweihten Chöre primär den sozialen Zusammenhalt fördern, konkurriert der Dionysoschor der Alten mit der Tragödie in der Aneignung des lyrischen Diskurses. Die Aussagen des Atheners über den Dionysoschor stehen nämlich, wie Prauscello—teils im Anschluss an eine noch unveröffentlichte Arbeit von G. B. D’Alessio, teils unabhängig von ihm—darlegt, in einem intertextuellen Dialog mit zwei Passagen der attischen Tragödie: Mit den Worten der Alten in der Parodos des aischyleischen Agamemnon (104-106) teilen sie das Motiv der auf dem Alter und auf göttlicher Inspiration beruhenden Autorität und auch das chorlyrische Motiv der Anstrengung des Tanzes und der versagenden Knie. Mit dem 2. Stasimon des euripideischen Herakles 637-700 verbindet sie das lyrische Motiv der Verjüngung durch den von Dionysos geschenkten Wein bzw. durch das Singen in Gegenwart des Dionysos; daraus schließt Prauscello, dass Platon diese euripideische Passage, in der neben Dionysos auch Apollo als Mittänzer fungiert, bewusst auswählte, um seine Musik sowohl vor dramatischer Mimesis wie vor dem Neuen Dithyrambus zu retten und die Kluft zwischen tragischer und lyrischer Mimesis zu überbrücken. Auch die ‚tragische‘ Emmeleia führt Platon nach Prauscello wieder in Magnesia ein, weil sie das Gefühl des Wohlbefindens und der Mäßigung und damit ein Ethos ausstrahle, das dem besonders in den Klagegesängen der euripideischen Tragödie verbreiteten Jammern entgegengesetzt sei.3
Kap. 5 (Comedy and comic discourse in Magnesia) befasst sich mit dem Problem, wie die Komödie und ihre beleidigende Sprache in ein System kollektiver Aufführungen passt, welche die Bürgertugend propagieren und zugleich darstellen. Platons Position wird von Prauscello mittels der Kategorie der Alterität (alterity) interpretiert:4 Die Komödie ist der kontrollierte soziale Raum, in welchem die Bürger mit einer ‚Andersheit‘ bezüglich ihrer Identität dadurch bekannt werden, dass sie ästhetisch und moralisch negative Handlungsmuster kennen lernen, ohne durch experientielle Mimesis emotional in eben diese Handlungen verwickelt zu werden; denn als komische Darsteller werden nur Sklaven und Fremde zugelassen. Auch Verbalinjurien deutet Prauscello als eine von der Komödie abhängige Sprache,5 die Platon einer bestimmten sozio-ethnischen Kategorie (Sklaven und Fremden) zuweise, wobei sie aber zugeben muss, dass gerade die aristophanische Komödie keinen sprachlichen Unterschied zwischen Sklaven und Freien erkennen lässt.
In Platons Beschränkung des Lächerlichen auf den Bereich des unschädlichen Scherzes und seiner Forderung, dass an der Komödie stets etwas Neues hervortreten müsse, sieht Prauscello eine Bezugnahme auf zwei Elemente der Selbstdarstellung der Komödie: Aristophanes kehrt ständig die scherzhafte Dimension hervor, beansprucht aber zugleich, einen ernsten Zweck zu verfolgen; in der Parodos seiner Stücke gibt er sich als Neuerer und zugleich als Bewahrer traditioneller Werte. Dass Platon ferner bei der Zurückführung von Beleidigungen auf Wahnsinn nicht nur an die im Timaios 86b, 87a-b vertretene Aitiologie des Wahnsinns anknüpft, sondern auch das Komödienmotiv des wahnsinnigen Helden oder Dichters aufgreift (und damit die moralische Basis des komischen Lachens entlarvt), belegt Prauscello mittels einschlägiger Stellen der Komödie und durch den überzeugenden Nachweis, dass das in der Politeia ausgesprochene Verbot der Mimesis von Wahnsinnigen und geräuschimitatorischer Mimesis ( Resp. 396b3-5) eher die Komödie als die Tragödie betrifft.
Im Kap. 6 (Epilogue: On law, agency and motivation) resümiert Prauscello die Hauptergebnisse ihrer Arbeit. Platons Modell bürgerlicher Vollkommenheit gründet in einem fundamentalen Aspekt der menschlichen Natur, nämlich der Handlungsmotivation durch Begehren. Deshalb sind die Individuen in Bürger zu transformieren, die leidenschaftlich begehren, der im Gesetz verkörperten Vernunft zu gehorchen. Gemäß dem Drahtpuppengleichnis ist aber der Draht der Vernunft schwach und auf Helfer angewiesen; als solche erweisen sich die richtig erzogenen Leidenschaften und Begierden.6 Mit dieser Reflexion auf die affektive Dimension des Bürgerseins nehme Platon das heutige Interesse an der sozialen Psychologie des Bürgerseins vorweg.
Aber Gefühle können auch vorgetäuscht werden (Prauscello verweist gut auf Aristophanes, Ach. 142-5 und Ritter 732-5). Daher schafft Platon unter Ausnutzung der apriorischen Empfänglichkeit für das Schöne und Geordnete eine tiefere Verbindung zwischen der Physiologie der Wahrnehmung und der moralischen Psychologie. Indem er die Liebe zur bürgerlichen Tugend zu einem allen Bürgern Magnesias offenstehenden Reservoir an Emotionen macht, schreibt er zugleich das attische Konzept des demokratischen Voluntarismus („jeder der will“ ὁ βουλόμενος) um. Jeder, nicht nur wer will, wird angeleitet, ein perfekter Bürger sein zu wollen.
Das vorstehende Referat kann nur einen Ausschnitt aus der Fülle der behandelten Themen wiedergeben. Indem Prauscello zum Verständnis der Nomoi die griechische Dichtung ebenso wie die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts heranzieht, gelingen ihr immer wieder überzeugende Einsichten. Ihre Interpretationen verraten eine souveräne Kenntnis der umfassenden Fachliteratur (nicht nur der englischsprachigen) und zeigen ein hohes, von der kognitiven Neurowissenschaft und dem ‚performative turn‘ der Kulturwissenschaften beeinflusstes Reflexionsniveau.
Das selbstgesetzte Ziel, eine Lücke zwischen Platons Philosophie und der Literatur zu schließen, hat Prauscello in vollem Umfang erreicht.7 Durch eine Analyse der in Magnesia angewandten Überredungsstrategien zeigt sie, wie die Formen des politisch-sozialen Diskurses einschließlich der Choraufführungen den in der griechischen Polis entwickelten Formen kultureller Performanz verpflichtet sind und sich zugleich vom genuin platonischen Standpunkt aus mit diesen kritisch auseinandersetzen.
Notes
1. Zu dieser Kategorisierung des Abschnitts 822e4-823a6 gelangt Prauscello, weil sie zwischen den für die Bürger bestimmten Partien (Gesetzestexte, Proömien) und den Partien, in denen der Athener mit seinen Gesprächspartnern diskutiert oder einen Sachzusammenhang entwickelt, nicht differenziert. Wegen 822d4ff., 823a2 und c4 wird der Passus richtiger als ein für potentielle Gesetzgeber bestimmter methodischer Hinweis verstanden.
2. ‚Imagining chorality: wonder, Plato’s puppets, and moving statues‘ in A.-E. Peponi (ed.), Performance and Culture in Plato’s Laws, Cambridge 2013, 123-170. Unklar bleibt freilich, wie aus dem vom Chortanz geweckten erotischen Verlangen das Verlangen entsteht, ein vollkommener Bürger zu werden.
3. Prauscellos Scheidung zweier Arten der ἐμμέλεια geht aber nicht glatt auf; denn die von ihr S. 182 der tragischen ἐμμέλεια zugewiesenen Merkmale (Gefühl des Wohlbefindens, Mäßigung) werden in 816b3-4 gerade den von ihr als untragisch aufgefassten ἐμμέλειαι zugeschrieben.
4. Auch die von Beobachtern aus dem Ausland mitgebrachten Informationen über die auswärtigen Gesetze deutet Prauscello mittels dieser Denkfigur. Ihre Behauptung, dass dieses mitgebrachte „Andere“ stets abgewiesen werde, um die Überlegenheit der magnesischen Gesetze zu bekräftigen (S. 210), scheitert allerdings am Partizip ἐπανορθούμενον (951c2), welches impliziert, dass der Rechtsvergleich durchaus zur Verbesserung magnesischer Gesetze führen kann (für die Möglichkeit einer Verbesserung spricht auch 772c7-d4, wie Prauscello S. 208 selber konstatiert).
5. Verfehlt ist allerdings der Bezug von 936a2-3 auf 816e statt auf 829c (vgl. Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch VIII-XII, Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2011, S. 518).
6. Die direkte Gleichsetzung der „Helfer“ (645a6) der Vernunft mit den irrationalen Seelenteilen (S. 151) widerspricht jedoch der Forderung, dass man mit Hilfe der Vernunft gerade gegen die Emotionen ankämpfen soll (644e4-6, 645a7-8). Helferin ist vielmehr die korrekte Erziehung der Emotionen, die dadurch erst zu Helfern der Vernunft werden (so Prauscello richtig S. 224).
7. Dieses Urteil wird nicht dadurch geschmälert, dass Prauscellos Annahme einer bewussten Bezugnahme Platons gerade auf das zweite Stasimon des Herakles nicht jeden überzeugen dürfte. Denn dem Beweisziel Prauscellos genügt auch eine bloß motivische Nähe Platons zur lyrischen Selbstreflexivität tragischer Chöre, die sich überlieferungsbedingt zwar nur durch den Herakles belegen lässt, aber vermutlich auch in anderen, verlorenen Tragödien ihren Ausdruck fand.