In den letzten Jahrzehnten erfreute sich Ostia, die Hafenstadt Roms, einer wachsenden Beliebtheit seitens der archäologischen Forschung. Zahlreiche Untersuchungen zu einzelnen Gebäuden und zur Stadtentwicklung haben unsere Kenntnisse insbesondere der zuvor nur am Rande beachteten späten Phasen der Stadt bereichert. In der deutschen Archäologie genoss Ostia zuletzt eine besondere Popularität. Dies spiegeln nicht nur Forschungsprojekte wie die von Michael Heinzelmann und Axel Gering geleiteten Untersuchungen, sondern auch zwei jüngst erschienene Überblickswerke wider. Klaus Stefan Freyberger stellte einer breiten Leserschaft 2013 in seinem Buch Ostia: Facetten des Lebens in einer römischen Hafenstadt anhand ausgesuchter Gebäude unterschiedliche Aspekte urbanen Lebens vor. An einen ähnlichen Adressatenkreis richtet sich auch die hier rezensierte Darstellung von Marion Bolder-Boos.
Die Gestaltung des Bandes erweckt einen ansprechenden Eindruck. Der Text liest sich flüssig und ist im Wesentlichen gut redigiert. Einzelne orthographische Fehler und redaktionelle Ungenauigkeiten lassen sich zwar feststellen, trüben den Gesamteindruck aber kaum. Anders als bei älteren Bänden der Reihe unterstreicht der Verzicht auf Einzelnachweise den populärwissenschaftlichen Charakter des Buches, lässt den Leser aber leider auch im Ungewissen über den Ursprung von Datierungen und Deutungen. Dem Fachmann fällt dieser Verzicht auf Transparenz, der durch ein Verzeichnis mit 48 wissenschaftlichen Publikationen im Anhang nur bedingt kompensiert werden kann, negativ auf. Positiv hervorzuheben sind die zahlreichen Fotografien unter den 121 Abbildungen, die durchweg farbig und hoch aufgelöst sind. Pläne wurden dagegen sparsam eingesetzt. Die eigens angefertigten Umzeichnungen sind zudem äußerst schematisch. Auf die Angabe unterschiedlicher Bauphasen wurde verzichtet, so dass die Grundrisse einen aus nicht zusammengehörigen Bauteilen resultierenden, ahistorischen Zustand zeigen.
Ihre inhaltliche Zielsetzung stellt Bolder-Boos zu Beginn klar heraus: Keine „komplette Darstellung der antiken Stätte“, sondern „eine chronologische Übersicht über die Stadt und ihre bauliche Entwicklung“ sei ihr Anliegen (S. 7). Die Gliederung des Buches folgt dieser Zielsetzung, indem sie Epoche für Epoche die von der Autorin als repräsentativ angesehenen Gebäude behandelt. Themen wie Sakral- und Wohnarchitektur werden in nahezu allen Kapiteln aufgegriffen, um die Veränderungen auf religiöser und sozialer Ebene zu veranschaulichen. Andere Gebäude wie die großen Getreidespeicher, die vor allem in der frühen und mittleren Kaiserzeit errichtet wurden, werden hingegen an jeweils geeigneter Stelle betrachtet. Literarische Quellen und Inschriften liegen den Ausführungen zu den historischen Zusammenhängen zugrunde, werden jedoch nur vereinzelt ausdrücklich genannt.
Betrachten wir den Aufbau des Bandes etwas genauer: Nach einem kurzen Vorwort (S. 7) wird in einem ersten Kapitel das frühe Castrum besprochen (S. 9–15). Die Autorin stellt der literarischen Tradition, nach der Ostia als erste Kolonie Roms im 7. Jh. v. Chr. von Ancus Marcius gegründet worden sein soll, den archäologischen Befund gegenüber. Demzufolge wurde erst im 4. Jh. v. Chr. aus strategischen Gründen eine befestigte Siedlung an der Tibermündung angelegt. Diese kann nur bedingt rekonstruiert werden, da sich aus der Frühzeit allein wenige Reste der Befestigungsmauern und der Binnenbebauung erhalten haben. Von der Kolonie des 2. und 1. Jh. v. Chr., der das zweite Kapitel gewidmet ist (S. 16–36), lässt sich ein differenzierteres Bild gewinnen. Bolder-Boos beschreibt, wie die Siedlung als Hafen Roms an Bedeutung gewann und zur Stadt heranwuchs. Als repräsentativ für deren Entwicklung werden die ersten merkantilen Bauten, die zunehmende Anzahl an Heiligtümern, drei Atriumhäuser, der erweiterte Mauerring des 1. Jh. v. Chr. und die außerhalb gelegenen Nekropolen besprochen. Die Veränderungen der julisch-claudischen sowie der flavischen und trajanischen Zeit werden im dritten und im vierten Kapitel dargelegt (S. 37–51 und S. 52–70). Hervorgehoben wird die Förderung der Stadt durch die Mitglieder der jeweiligen Kaiserfamilien, die in den Bau neuer Hafenanlagen wie des Portus Traiani investierten, die Errichtung öffentlicher Thermen und Prachtbauten sowie die zunehmende Anzahl an Speicherbauten. In trajanischer Zeit errichtete man schließlich erste Mietblöcke mit Appartements für die wachsende, im Gewerbe tätige Bevölkerung.
Im fünften Kapitel bespricht die Autorin die hadrianische Zeit, ohne wie in anderen Kapiteln die soziale und wirtschaftliche Verfassung der Stadt klar herauszuarbeiten (S. 71–95). Die monumentale Ausgestaltung des Forums, der Bau weiterer gewerblicher Einrichtungen, Vereinshäuser und Großbauten sowie zahlreicher der in dieser Zeit besonders beliebten medianum -Appartements suggeriert jedoch eine besondere Prosperität. Neben die Heiligtümer römischer Gottheiten traten in jener Zeit auch Kultstätten für orientalische Götter. In antoninischer Zeit, der das sechste Kapitel gewidmet ist (S. 96–117), scheinen im Wesentlichen ältere Entwicklungen fortgeführt worden zu sein: Wie in den vorhergehenden Kapiteln werden Vereinshäuser, Thermen und Speicherbauten besprochen. Ein Mietshaus und eine Stadtvilla veranschaulichen die Wohnkultur dieser Zeit. Auch in diesem Kapitel vermisst der Leser jedoch eine historische Einführung. Das 3. Jh. n. Chr. wird in einem kurzen siebten Kapitel besprochen (S. 118–128). Neben dem letzten großen heidnischen Sakralbau und einem späten Vereinstempel stellt Bolder-Boos drei herrschaftliche Stadthäuser vor. Diese sollen zeigen, dass Ostia von der sogenannten Krise des 3. Jh. n. Chr. nicht spürbar in Mitleidenschaft gezogen wurde. In einem achten Kapitel wird die spätantike Stadt präsentiert (S. 129–138). Nach einer knappen Darlegung des urbanen Wandels und der religiösen Verfassung Ostias im 4. und 5. Jh. n. Chr. konzentriert sich die Autorin auf drei luxuriöse Häuser. Abschließend werden der städtische Niedergang und die Abwanderung der Bevölkerung in das nahegelegene Gregoriopolis thematisiert.
Ein letztes Kapitel resümiert die neuzeitlichen Forschungen in Ostia (S. 139). Fünf Themenkästen zu sozial- und religionsgeschichtlichen Phänomenen sowie zu ausgesuchten Bauten („Tod und Begräbnis“; „Das römische Badewesen“; „Ein Hotel in Ostia“; „Das macellum “; „Der römische Mithraskult“) ergänzen die Kapitel. Anhänge, die dem fachfremden Leser bei der Lektüre Orientierungshilfen bieten sollen, runden den Band ab: Hier finden sich eine Liste mit den Epochen der römischen Kultur und den Regierungszeiten der römischen Kaiser, eine schematische Darstellung der römischen Mauerwerks- und Fußbodenarten sowie ein Glossar mit den verwendeten Fachbegriffen. Die bereits erwähnte Liste mit weiterführender Literatur verweist auf die wichtigsten wissenschaftlichen Publikationen.
Obwohl das Ziel der Autorin die Veranschaulichung der Stadtentwicklung in chronologischer Abfolge ist, werden nicht alle Phasen in gleichem Maße gewürdigt. Der Schwerpunkt liegt auf der frühen und mittleren Kaiserzeit (S. 37–117), während die Siedlung der republikanischen Zeit (S. 9–36) ebenso wie die Stadt des 3. bis 5. Jh. n. Chr. (S. 118–138) nur am Rande betrachtet werden. Entsprechend kleinteilig erscheint die Untergliederung der frühen und mittleren Kaiserzeit in vier ausführliche Kapitel, während die frühen und die späten Phasen der Stadtgeschichte in jeweils zwei kurzen Abschnitten besprochen werden. Während die knappe Behandlung der Frühzeit die spätere Überbauung vieler älterer Strukturen durch kaiserzeitliche und spätantike Gebäude widerspiegelt, hätte man die späten Phasen der Stadt gerade in Anbetracht der zahlreichen jüngeren Forschungen zur Entwicklung Ostias in der Spätantike auch differenzierter darstellen können.
Jenseits seines chronologischen Schwerpunkts gestattet der Band unterschiedlich tiefe Einblicke in bestimmte Phänomene oder zeitliche Abschnitte. Besonders gelungen sind etwa die Ausführungen zu den Heiligtümern (S. 20–30, 37–40, 78–85) und zu den Aquädukten (S. 47–50), die sich nicht auf Beschreibungen der erhaltenen Bauten beschränken, sondern deren Bedeutung vor ihrem jeweiligen historischen Hintergrund erläutern. Dagegen scheinen mir die Besprechungen verschiedener Wohnbauten sowie die Einordnung der Gebäude in die historischen Zusammenhänge der hadrianischen und antoninischen Zeit weniger gelungen. Beispielsweise hätten die signifikanten städtebaulichen Veränderungen hadrianischer Zeit wie die Errichtung großangelegter Planviertel mit ihren sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Implikationen klarer herausgearbeitet werden können. Anstatt dessen beschreibt Bolder-Boos hier mehr als sie erklärt. Diese Beobachtung lässt sich auch auf die Besprechung verschiedener Bauten in anderen Kapiteln übertragen: Warum wird etwa die Unregelmäßigkeit des Grundrisses der Horrea di Hortensius ausführlich beschrieben, aber nicht erklärt (S. 19)?
Einige der ausgewählten Befunde scheinen mir an falscher Stelle genannt zu werden oder generell wenig geeignet zu sein, um die Entwicklung der Stadt sinnvoll zu repräsentieren. Weshalb wird beispielsweise die Domus delle Pareti Dipinte als Exempel eines spätrepublikanischen Wohnhauses herangezogen, wenn sie doch „keinen für römische Wohnhäuser typischen Grundriss“ besitzt (S. 30)? Die Domus della Fortuna Annonaria ist kein besonders gelungenes Beispiel „für die gehobenen Stadthäuser des mittleren 2. Jhs. n. Chr.“ (S. 110), da ihr Zustand zu dieser Zeit nur sehr lückenhaft zu rekonstruieren ist. Eher hätte sie die Wohnkultur des 4. Jh. n. Chr. repräsentieren können, wie übrigens auch die als Beispiele für das 3. Jh. n. Chr. herangezogenen Domus IV, IV, 7 und Domus delle Colonne (S. 126–127). So stützen die Befunde für die Autorin den tatsächlich nur teilweise zutreffenden Eindruck, dass „das Leben in der Stadt in dieser Zeit weiterhin pulsierte“ (S. 128). Ihre Einschätzung steht jedoch im Gegensatz zu der vorherrschenden Forschungsmeinung, der zu Folge für Ostia ab der Mitte des 3. Jh. n. Chr. von einer rückläufigen wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung auszugehen ist.1
Die Deutungen anderer Gebäude sind nicht plausibel oder müssen als überholt gelten. Einige Beispiele können dies veranschaulichen: So bezeichnet Bolder-Boos etwa die Domus delle Gorgoni, die üblicherweise als Wohnhaus angesehen wird, mit Verweis auf die „neuesten Forschungen“ als Vereinshaus der Leichenbestatter (S. 35). Dabei handelt es sich jedoch um eine isolierte und nicht ausreichend fundierte Hypothese.2 Umstritten ist die Deutung des sogenannten Sede degli Augustali als Vereinshaus der Kaiserpriester (S. 100–102). Anstatt dessen wurden zuletzt Interpretationen als schola eines anonymen Vereins oder als großes Stadthaus vorgeschlagen.3 Auch die traditionelle Auslegung des sogenannten Macellum entbehrt einer ausreichenden Grundlage (S. 108).4 Falsch sind die Behauptungen, die Wände des Vestibüls in der Domus del Ninfeo seien „im unteren Abschnitt mit Marmorplatten verkleidet“ gewesen (S. 134) und die Begrenzungen ihres rückwärtigen Hofes seien nicht freigelegt worden (S. 135).5
Diese Kritik soll jedoch nicht über die Stärken des Buches hinwegtäuschen: Eine zusammenfassende Besprechung der komplexen Stadtgeschichte und der baulichen Entwicklung von Ostia ist ohne Zweifel eine große Herausforderung. Dass Bolder-Boos dabei auf bestimmte Phänomene und Phasen besonderes Augenmerk legt, andere hingegen flüchtiger behandelt, ist ebenso verzeihlich wie kleinere inhaltliche Schwächen. Gegenüber dem eingangs erwähnten Buch von Klaus Stefan Freyberger entfaltet der hier rezensierte Band gerade in der diachronen Darstellung urbanen Wandels seine Stärken. Im Wesentlichen ist es der Autorin damit gelungen, gerade dem deutschsprachigen Laien eine gut lesbare und schön bebilderte Darstellung der antiken Hafenstadt Roms und ihrer Geschichte an die Hand zu geben. Ebenso mag der Band Studienanfängern des Faches einen ersten Zugang zur archäologischen Stadtforschung eröffnen. Für einen tieferen und differenzierteren Einblick in die Entwicklung und den Baubestand der Stadt ist eine Lektüre des 1960 erstmals erschienen Standardwerks Roman Ostia von Russell Meiggs jedoch ebenso unerlässlich wie eine Konsultation der weiterführenden Forschungsliteratur.
Notes
1. C. Pavolini, L’edilizia commerciale e l’edilizia abitativa nel contesto di Ostia tardoantica, in: A. Giardina (Hrsg.), Società Romana e impero tardoantico 2: Roma. Politica, economia, paesaggio urbano (Rom 1986) 246– 254; C. Pavolini, La trasformazione del ruolo di Ostia nel III secolo d. C., Mélanges de l’École Française de Rome 114, 1, 2002, 343–349.
2. J. T. Bakker, Regio I – Insula XIII – Domus delle Gorgoni (I, XIII, 6).
3. M. L. Laird, Reconsidering the so-called “Sede degli Augustali” at Ostia, Memoirs of the American Academy in Rome 45, 2000, 72; C. Pavolini, Un gruppo di ricche case ostiensi del Tardo Impero. Trasformazioni architettoniche e cambiamenti sociali, in: O. Brandt – P. Pergola (Hrsg.), Marmoribus vestita. Miscellanea in onore di Federico Guidobaldi, Studi di antichità cristiana 62 (Rom 2011) 1025–1026; P. Pensabene u. a., Ostiensium marmorum decus et decor. Studi architettonici, decorativi e archeometrici, Studi miscellanei 33 (Rom 2007) 437.
4. V. Kockel – S. Ortisi, Ostia. Sogenanntes Macellum (IV 5, 2). Vorbericht über die Ausgrabungen der Universität Augsburg 1997/8, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 107, 2000, 351– 354.
5. G. Becatti, Case Ostiensi del Tardo Impero (Rom 1949) 10–13; Calza u. a., Topografia generale, Scavi di Ostia 1 (Rom 1953) Beil. 11.