Éric Gilardeau verbindet bei seiner zu besprechenden Untersuchung zu bekannten “politischen Prozessen” der griechischen und römischen Antike in erfreulicher Weise die Perspektiven eines aktiv vor heutigen Gerichten tätigen französischen Juristen (als avocat à la Cour d’Appel de Paris) und Fachmannes für Probleme des Strafrechtes, der Rechtskodifikation und Rechtsphilosophie und eines Autors zur antiken Rechtsgeschichte. Bedingt durch die sehr ungleichmäßige Quellenüberlieferung konzentriert sich Gilardeau sinnvollerweise exemplarisch auf wenige große politische Prozesse in der athenischen Demokratie des 5.-4. Jh. v. Chr. (Arginusenprozeß, Sokratesprozeß, Verfahren gegen Timarchos, Gesandtschafts- und Kranzprozeß), in der späten römischen Republik des 1. Jh. v. Chr. (Prozesse gegen Sextus Roscius und Murena) und der beginnenden Prinzipatszeit unter Kaiser Tiberius (Pisoprozeß). Man könnte natürlich ohne Mühe auch aus anderen Epochen und Staatswesen der griechisch-römischen Antike viele “politische Prozesse” in einem weiten Begriffsverständnis anführen, also formelle Gerichtsverfahren mit eigentlich bedeutenderen politischen Konnotationen im Hintergrund.
Gilardeau verweist in seiner Einleitung (p. 7-16) und abschließend im Schlußkapitel (p. 265-267) zu Recht darauf, daß in breiten Kreisen der heutigen westlichen Demokratien auf dem Hintergrund der bitteren Erfahrungen der politischen Schauprozesse in totalitären Systemen des 20. und beginnenden 21. Jh. der Begriff des “politischen Prozesses” an sich bereits automatisch mit Assoziationen der politischen Repression und des Mißbrauchs der Justiz zur Ausschaltung unliebsamer Einzelpersonen oder ganzer Oppositionsgruppen durch die Herrschenden verbunden ist. Dagegen seien politische Prozesse als legitimes Mittel der Auseinandersetzung in der athenischen Demokratie des 5.-4. Jh. v. Chr. und der späten römischen Republik des 1. Jh. v. Chr. wesentlich differenzierter zu sehen. So boten die Volksversammlung als Gerichtshof sowie die Gerichtshöfe des Volkes (dikasteria) in der athenischen Demokratie (neben der pnyx, dem Versammungsplatz des Volkes, dem Ratsgebäude, den Theaterbühnen oder der agora) allgemein anerkannte, legitime öffentliche Foren der agonalen politischen Auseinandersetzung einzelner Rhetoren und Bürgergruppen um wichtige Sachentscheidungen, die Weiterentwicklung des Gemeinwesens oder in der Auswahl (oder Ablehnung) führender Rhetoren und Strategen. Ähnliches gilt mutatis mutandis unter den Bedingungen einer aristokratischen res publica statt einer direkten Demokratie auch für die großen Gerichtsverhandlungen der römischen Republik im Vergleich mit den gleichzeitigen römischen Auseinandersetzungen vor Volksversammlungen oder im Senat in der Curia. Erst der Pisoprozeß unter Tiberius und die folgenden maiestas-Verfahren der römischen Kaiserzeit zeigen Gilardeau zufolge als Instrumente der mißbräuchlichen kaiserlichen Machtausübung mit Hilfe der Justiz typische Charakteristika der systematischen Repression ähnlich den neuzeitlichen “politischen Prozessen” (p. 7-8; 237-263).
1. Teil: Große politische Prozesse in der griechischen Antike (p. 17-161)
Gilardeau meint, daß politische Prozesse in der athenischen Geschichte erst zusammen mit der Durchsetzung der direkten Demokratie als Verfassungsordnung entstanden und diese im späten 5. und 4. Jh. bis an ihr Ende begleiteten. Es gab typische, sehr oft gewählte Verfahrensformen politischer Prozesse in Athen (graphe paranomon, eisangelia, Rechenschaftsverfahren über Amtsführung, ferner dorodokia-, asebeia- oder hybris-Verfahren), aber angesichts der besonderen Eigenarten des demokratischen Gerichtswesens ließ sich fast jedes Gerichtsverfahren teilweise in einen politischen Prozeß umfunktionieren. Es bleibt noch offen, inwieweit sich die an athenischen Fallbeispielen deutlichen Eigenarten politischer Prozesse auf andere antike griechische Staatswesen übertragen lassen.
Als erstes Fallbeispiel (p. 23-58) wählt Gilardeau den Arginusenprozeß (406 v. Chr.), in dem die Volksversammlung als Gerichtshof in einem formell fehlerhaften Kollektivverfahren mehrere Strategen zum Tode verurteilte. Es sei “le premier grand procès politique de l’Antiquité grecque” (23) gewesen, eine fragliche Einschätzung, wenn man an die sicher bezeugten großen Verfahren gegen athenische Rhetoren und Strategen schon vor 406 denkt. Der Arginusenprozeß ist oft als ein Paradebeispiel für strukturelle Mängel des demokratischen Gerichtswesens des 5. Jh. zitiert worden. Gilardeau dagegen hält diesen Prozeß keineswegs für einen “dérapage occasionel” (oder einen bedauerlichen juristischen Betriebsunfall) der demokratischen Justiz. Er interpretiert das Verfahren als geschickt inszenierte Aktion der Gegner der radikalen Demokratie, um die umfassenden juristischen Kompetenzen der Volksversammlung zu diskreditieren (p. 18ff, 43). In diesem wie auch in den folgenden Kapiteln gibt Gilardeau leider zu den politischen Rahmenbedingungen wie dem genauen Ablauf der Verfahren nur sehr wenige, zudem nicht selten veraltete Literaturhinweise (siehe z.B. p. 29, 35). Er legt mit häufigen Zitaten oder engen Paraphrasen anschaulich und juristisch klar den Argumentationsgang der jeweiligen Prozeßparteien dar, wobei er sich eng an die jeweiligen antiken literarischen Hauptquellen hält. Für diese stützt er sich jedoch mehrfach auf französische Übersetzungen des 19. Jh. (z.B. zu Diodor auf Hoefer 1865; ebenso zu den Reden des Aischines und des Demosthenes auf Stiévenarts Übersetzung von 1843!), die aus heutiger Sicht an entscheidenden Stellen nicht mehr immer zuverlässig sind, da sie auf inzwischen längst veralteten Ausgaben der Originaltexte beruhen.
Gilardeau sieht den Arginusenprozeß wie auch das zweite Fallbeispiel, den Prozeß gegen Sokrates (399 v. Chr; p. 59-105), als signifikante Indizien für eine Krise und einen beginnenden Niedergang der athenischen Demokratie (u.a. p. 58). Die jüngere Forschung zur athenischen Demokratie und Rechtsgeschichte des 4. Jh. hat hier meines Erachtens dagegen überwiegend ein differenzierteres, weniger kritisches Bild gewonnen. Nach Gilardeau war Sokrates ein eindeutiger Gegner des demokratischen Systems und Anhänger eines “gouvernement aristocratique” (p. 59). Mit der Errichtung der Zensusdemokratie auf Befehl Antipaters 322 v. Chr. in Athen seien die eigentlichen verfassungspolitischen Ideale des Sokrates verwirklicht worden (daher p. 105: “Socrate avait fini par gagner son procès contre la démocratie athénienne”). Gilardeau hält das Verfahren gegen Sokrates für einen der bedeutendsten politischen Prozesse Athens überhaupt, da es im Kern kompromißlos um die gesamte Legitimität der direkten Demokratie und ihres Gerichtswesens gegangen sei, die Sokrates öffentlich angezweifelt habe.
Es folgen drei bekannte Gerichtsverfahren des 4. Jh., in denen sich in unterschiedlichen juristischen Rollen zwei der einflußreichsten Rhetoren der Epoche gegenüberstanden, Aischines und Demosthenes. Für die Verfahren gegen Timarchos (Aeschin. or. 1), mehr noch durch die erhaltenen Reden und Gegenreden für den Gesandtschaftsprozeß (Aeschin. or. 2, Dem. or. 19) und den Kranzprozeß (Aeschin. or. 3 und Dem. or. 18) ist die Quellenlage außerordentlich gut. Gilardeau bezeichnet diese Verfahren und die erhaltenen Plädoyers treffend als “véritable feuilleton judiciaire” (p. 112). Gilardeau stellt die politische Rahmensituation dieser drei Verfahren zwischen 345 und 330 mit Athens Kampf gegen Philipp II. von Makedonien und der neuen Lage als Mitglied des Korinthischen Bundes und im Schatten des Universalreiches Alexanders jedoch mehrfach zu grob vereinfachend dar.1 Den Gesandtschaftsprozeß (343 v. Chr.) um die Verantwortung für den inzwischen ungeliebten Frieden von 346 (p. 123-139) bewertet Gilardeau politisch als “une victoire du parti macédonien” (123). An dieser Einschätzung kann man Zweifel äußern, wenn man die gesamte Prozeßserie und die politische Entwickung zwischen 345 und 338 in den Blick nimmt.2 Den vielleicht berühmtesten Prozeß der griechischen Rechtsgeschichte der klassischen Epoche, den Kranzprozeß von 330 v. Chr (p. 146-161), rühmt Gilardeau als letzten großen politischen Prozeß der griechischen Antike und als Schwanengesang der Demokratie (p. 141).3 Gilardeau kann die komplizierte Gedankenführung und die politische Dramatik des Kranzprozesses seinen Lesern eindringlich vermitteln.
Teil 2: Große politische Prozesse der römischen Antike (p. 163-267)
Drei weitere Fallstudien führen den Leser in die Welt der späten römischen Republik und der frühen Prinzipatszeit. Gilardeau sieht die politische Bedeutung der erfolgreichen Verteidigung des Sextus Roscius (80 v. Chr.) gegen den Vorwurf des Vatermordes durch Cicero (p. 167-206) mit politischer Unterstützung durch die Meteller als führende Familie der Nobilität abgesehen von den interessanten technischen Details des Falles aus Sicht der antiken Rechtsgeschichte darin, daß dieses viel beachtete Verfahren der erste wichtige juristisch-politische Schritt zur Beendigung der sullanischen Diktatur gewesen sei. Cicero verwandelte seine formelle Verteidigung des Roscius gegen den Vorwurf des Vatermordes rhetorisch brillant in eine politische Anklage des sullanischen Systems und seiner Nutznießer. Man hätte in der Einleitung des Teiles zu Rom einen Hinweis bereits auf ältere berühmte, ebenfalls politisch konnotierte Prozesse in der Republik zwischen ca. 287 und 80 v. Chr. einfügen können.
In der erfolgreichen Verteidigung (63 v. Chr.) des für das kommende Amtsjahr bereits gewählten Konsuls Murena gegen den Vorwurf des Wahlbetruges (bzw. der Wählerbestechung, ambitus) (p. 207-236), den u.a. sein bei der Wahl unterlegener Konkurrent Servius Sulpicius Rufus erhob, wirkten mit Hortensius, Crassus und Cicero als amtierendem Konsul dieses Jahres der Catilinarischen Verschwörung drei der einflußreichsten Politiker juristisch zusammen. Cicero verteidigte den tatsächlich wohl zu Recht angeklagten Murena im höheren Interesse der Staatsräson (ratio rei publicae, Gilardeau nennt es p. 165 “une des premières références historiques à la raison d’Etat”) zur Stabilisierung der Republik angesichts der Gefahren durch die noch nicht niedergeschlagene Catilinarische Verschwörung. Einmal mehr hegt der Rezensent hier Zweifel, ob er Gilardeaus subjektiver Einschätzung folgen soll, daß schon dieser Murena-Prozeß von 63 v. Chr. wirklich der letzte große politische Prozeß der römischen Republik gewesen sei (p. 236).
Mit der Errichtung der neuen Prinzipatsordnung veränderten sich unter Augustus selbst und noch stärker dann unter Tiberius die Rahmenbedingungen für politische Prozesse im antiken Rom. Bereits den Prozeß gegen Piso nach dem überraschenden Tod des Germanicus unter Kaiser Tiberius 20 n. Chr. (p. 237-263) und die folgenden maiestas-Prozesse des 1. Jh. sieht Gilardeau zu Recht als neuartige Mittel der systematischen Herrschaftssicherung des Prinzeps unter Mißbrach juristischer Verfahrensformen.4
Die Bibliographie (p. 269-274) ist angesichts des chronologisch und thematisch sehr weit gespannten Themas zu knapp. Man findet hauptsächlich französische, nicht immer aktuelle Literatur, dazu wenige englische Titel; es fehlen aber viele einschlägige jüngere Standardwerke zur Rechtsgeschichte der athenischen Demokratie, der späten römischen Republik und des beginnenden Prinzipates. Gilardeau verzichtet in der Präsentation seines Materials bis auf wenige termini technici durchweg auf griechische oder lateinische Originaltexte und arbeitet auf der Basis französischer Übersetzungen. Hieraus und aus der formalen Gestaltung des Buches (Anmerkungen, Quellenbelege, Hinweise auf Sekundärliteratur etc.) wird deutlich, daß sich der Autor nicht primär an Fachleute der Altertumswissenschaften oder im engeren Sinne der griechischen und römischen Rechtsgeschichte wendet, sondern an ein breites Publikum interessierter Laien, darunter gewiß auch mit der Antike bisher weniger vertraute Politiker, Juristen usw. Ihnen kann das vorliegende Buch (allerdings aus altertumswissenschaftlicher Sicht mit gewissen Einschränkungen) einen gut lesbaren Einstieg in die Problematik bieten.5
Notes
1. Z.B. p. 107 Aischines “préside aux destinées du parti macédonien” und “Démosthène dirige la parti de la résistance”; auch finden sich Fehler und Versehen, z.B. wird der Philokratesfrieden von 346 auf p. 115 als “Paix du Roi” bezeichnet.
2. Bei den häufigen Zitaten und Paraphrasen aus den Reden des Aischines und Demosthenes gibt Gilardeau leider jeweils nur die Seitenzahl der verwendeten (veralteten) Übersetzungen an, nicht aber, wie üblich und präziser, die Paragraphen der Reden.
3. Man denke aber z.B. auch an die Harpalosprozesse 324/3 und den Epitaphios des Hypereides 322 als alternative Kandidaten für solche großen Bezeichnungen wie Schwanengesang der Demokratie.
4. Angesichts der lebhaften Diskussion um den Pisoprozeß, die durch epigraphische Neufunde und eine kritische Sicht der taciteischen Berichte in den letzten Jahrzehnten angeregt wurde, erstaunt es doch sehr, daß Gilardeau die epigraphischen Zeugnisse als ergänzende und z.T. korrigierende Primärquellen zum Bericht des Tacitus nicht ausführlich würdigt. Vgl. Werner Eck et al., Das Senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996; siehe ferner aus der sehr reichen jüngeren Literatur Marayke Frantzen, Mors voluntaria in reatu: Die Selbsttötung im klassischen römischen Recht, Göttingen 2012, insb. 44-53 und Michael Hausmann, Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbüchern der “Annalen”, Berlin 2009.
5. Eben dieser Leserkreis sei ergänzend zu Gilardeau auf drei Werke verwiesen, die hohe altertumswissenschaftliche und rechtsgeschichtliche Kompetenz mit einer leserfreundlichen Präsentation des Themas verbinden: Jürgen von Ungern-Sternberg und Leonhard Burckhardt (eds.), Große Prozesse im antiken Athen, München 2000, Ulrich Manthe und Jürgen von Ungern-Sternberg (eds.), Große Prozesse der römischen Antike, München 1997, Detlef Liebs, Vor den Richtern Roms, Berühmte Prozesse der Antike, München 2007. Diese Werke behandeln z.T. die gleichen Verfahren wie Gilardeau.