Forschungen zur Geschichte der Altertumswissenschaften sind insbesondere in den USA, in Deutschland und Italien seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts en vogue, wobei in den letzten Jahren der Schwerpunkt eindeutig auf der Zeit des Nationalsozialismus und den damit zusammenhängenden Problemen liegt. Im Zentrum der Erörterung stehen folgende Fragen: Wie konnte es geschehen, daß die deutschen Universitäten innerhalb kürzester Zeit ‛gleichgeschaltet’ wurden? Welche Haltung nahm der Nationalsozialismus gegenüber den Altertumswissenschaften ein und wie beeinflußte die NS-Ideologie wissenschaftliche Arbeiten? 1 Wie versuchten Gelehrte, sich selbst oder ihrem Fach durch Konzessionen an die neue Ideologie Vorteile zu verschaffen oder gar das Fach zu retten? Wie haben sich Gelehrte gegenüber gefährdeten Kollegen verhalten? Welche Folgen hatte die Emigration so vieler zum Teil hochrangiger Gelehrter für die deutschen Universitäten und welchen Einfluß übten diese auf die Entwicklung der Wissenschaft in den aufnehmenden Ländern aus?2 Eine der ersten umfangreichen Untersuchungen dieser Art war der Hochschulalltag [der Hamburger Universität] im „Dritten Reich“ von 1991, in dem Gerhard Lohse die Geschichte des Klassisch-Philologischen Seminars in der Zeit des Nationalsozialismus behandelt hat.
Zur Klärung einiger der hier aufgeworfenen Fragen leistet das vorliegende Werk einen wesentlichen Beitrag, da der Autor sich „die Darstellung eines Teilsegments der Geschichte der Altertumswissenschaften in der Emigration“, nämlich in den USA, zum Ziel gesetzt hat. Zu diesem Zweck hat Obermayer zehn Altertumswissenschaftler ausgewählt, deren Weg ins amerikanische Exil er minutiös rekonstruiert, um „ein möglichst anschauliches und umfassendes Bild ihrer spezifischen Flucht- und Emigrationserfahrungen“ zu entwerfen (17). Bildnisse, auch unbekannte, aller behandelten Gelehrten bereichern den Text. Die Auswahl ist auf Grund der zur Verfügung stehenden Quellen und der unter den Gelehrten bestehenden Querverbindungen getroffen. Neben sehr bekannten und renommierten Gelehrten stehen jüngere, von denen einige keine oder kaum Spuren in der Wissenschaft vom Altertum hinterlassen haben.
In einer ersten Gruppe sind vier Archäologen zusammengestellt: Margarethe Bieber (1879-1978), Karl Lehmann-Hartleben (1894- 1960), Elisabeth Jastrow (1890-1981), Tochter des berühmten Nationalökonomen Ignaz Jastrow, und Otto Johannes Brendel (1901- 1973). Die drei zuerst Genannten waren jüdischer Herkunft, Brendel selbst„jüdisch versippt“, wie es damals hieß (wie Rudolf Pfeiffer und Walther Kranz). Als Fazit kann man feststellen, daß die beiden Frauen es erheblich schwerer hatten, weniger erfolgreich waren und gegenüber den Männern benachteiligt wurden, besonders wenn man Biebers hohe wissenschaftliche Reputation, ihre Beliebtheit und ihren Erfolg als Lehrerin an der Columbia University in Rechnung stellt. Während sich Bieber bis zu ihrer Emeritierung (1948) mit der Stellung eines ‘Associate Professors’ begnügen mußte, wurde Lehmann-Hartleben schon 1937 zum Full Professor ernannt (Brendel hatte seit 1941 eine unbefristete Stelle und wurde 1956 Full Professor).
Im Mittelpunkt des Werkes stehen Kurt von Fritz (1900-1985) und Ernst Kapp (1888-1978) und ihre lebenslange Freundschaft. Daß diese niemals getrübt wurde, grenzt fast an ein Wunder und ist ein Zeichen für von Fritz’ anständiges menschliches Verhalten. Denn während von Fritz in München ein Schüler Kapps war – Knapp hatte von Fritz als Oberassistenten nach Hamburg geholt und diesen gefördert, nachdem er zum Hamburger Ordinarius ernannt worden war –, war das Verhältnis in den USA umgekehrt; dort war Kapp, der erst unmittelbar vor Kriegsausbruch in die USA gelangte, auf von Fritzʼ Hilfe angewiesen, der bereits seit 1938 Full Professor an der Columbia University war. In selbstloser und unerschrockener Weise hat er Kapp unterstützt und schließlich (1948) seine Ernennung zum Full Professor gegen manchen Widerstand (vor allen Gilbert Highets) durchgesetzt (vgl. 380 mit Anm. 568).
Zu einer dritten Gruppe hat Obermayer drei etwa gleichaltrige, seit ihrer gemeinsamen Studienzeit befreundete Gelehrte zusammengefaßt: Paul Oskar Kristeller (1905-1999), Ernst Abrahamsohn (1905-1958) und Ernst Moritz Manasse (1908-1997). Allen drei gelang nach einem Zwischenaufenthalt in Italien 1938/39 die Emigration in die USA, wo die drei Freunde sich nach Kräften gegenseitig unterstützten. Der Bedeutendste ist Kristeller, der an der Columbia University Fuß fassen konnte und 1956 zum Full Professor ernannt wurde, während die anderen beiden ihr weiteres Leben an weniger anerkannten Institutionen verbrachten und kaum als Klassische Philologen gewirkt haben.
Der letzte Abschnitt ist dem Schicksal Paul Friedländers (1882-1968) gewidmet, dem einzigen der behandelten Gelehrten, dem ein fünfwöchiger (629 Anm. 113) Aufenthalt in einem Konzentrationslager Ende 1938 nicht erspart geblieben ist und der erst im Alter von 57 Jahren unmittelbar vor Kriegsausbruch (am 20. August 1939, zwei Tage nach Kapp) in die USA einreisen konnte.
Obermayers Vorgehensweise ist folgende: Zunächst werden Bildung und Karriere in Deutschland dargestellt, die Gründe und die Umstände der Entlassung und schließlich der Gang ins Exil und das Leben in den USA, worauf der Schwerpunkt liegt. Geschildert werden dabei die Bemühungen um Stipendien und finanzielle Unterstützung durch die Hilfskomitees, die Verzweiflung bei der Suche nach geeigneten Stellen, welche die Voraussetzung zum Erhalt von Einreisegenehmigungen bildeten, der oft an Dramatik kaum zu überbietende Wettlauf mit der Zeit, die selbst in den USA bisweilen bedrückende Lage, wenn ungewiß war, wie und ob man die nächste Zeit finanziell überstehen könne, kurz, das mit der Emigration verbundene menschliche Leid.
Berufen war der Verfasser dazu wie kein anderer; hat er doch ein umfangreiches Quellenmaterial erschlossen, so die Akten der wichtigsten Hilfskomitees und zahlreiche Briefe und Nachlässe in Universitäts- und anderen Archiven. Obermayers Darlegungen beruhen also weitgehend auf ungedruckten Quellen, deren Sichtung, Auswertung und Aufbereitung zu einer gut dokumentierten und lesbaren Untersuchung eine bedeutende Leistung darstellt. Auf Grund der Kenntnis der Primärquellen ist es Obermayer wiederholt möglich, bisherige Angaben und Ansichten zu korrigieren.
Besonders aufschlußreich ist der Vergleich der Quellen mit späteren Aussagen der Beteiligten. Während es sich bei manchen chronologischen Irrtümern um bloße Versehen handeln kann, ist in anderen Fällen der Verdacht einer (Selbst-) Stilisierung nicht von der Hand zu weisen. Während Kurt von Fritz Ende 1933 ernsthaft, wenn auch widerwillig, bestrebt war, die arische Abkunft seiner Großeltern nachzuweisen, erklärte er 1975, er habe dem Ministerium geantwortet, er „wisse nichts davon, daß meine Vorfahren aus Indien oder Persien eingewandert seien, falls aber gemeint sei, ob ich Juden unter meinen Vorfahren habe, könne ich solche allerdings auch nicht nachweisen.“3
Nicht ganz so starke Divergenzen bestehen bei von Fritzʼ Äußerungen zur Verweigerung des Eides auf Adolf Hitler. Während seine späteren schon bekannten Formulierungen gegenüber der vorgesetzten Behörde in den Schriftstücken von 1975/79 recht schroff und provokativ klingen („daß ich den geforderten Eid nur leisten könne, wenn …“), hat er 1934 wesentlich vorsichtiger und verbindlicher agiert, in dem Sinne, daß er den Eid zwar leisten wolle, aber in dem Gehorsam, der geschworen werden solle, keine Verpflichtung anerkennen könne, Dinge zu lehren, die seiner Überzeugung widersprächen. Der Vorgang, der schließlich trotz des Einsatzes der Hamburger und Münchner Kollegen zu von Fritzʼ Entlassung führte, ist ausführlich von Obermayer (247-56) behandelt worden.4
Es ist meines Erachtens schwer zu entscheiden, ob in derartigen Fällen eine bewußte Manipulation vorliegt oder ob es ein ganz allmählich sich vollziehender natürlicher Prozeß ist, der durch die Menge der zwischenzeitlichen Erlebnisse zu einer Umdeutung der Ereignisse im Gedächtnis führt, ohne daß man sich selbst einer Täuschung oder eines Erinnerungsfehlers bewußt wird. Diese Beispiele verdeutlichen, daß Aussagen von sogenannten Zeitzeugen oft nicht zuverlässig sind und immer kritisch überprüft werden müssen; sie aber grundsätzlich als „Schauspieler und Geschichtenerfinder“ abzuwerten, ist sicher auch übertrieben.5
Darüber hinaus gewähren die von Obermayer zitierten Quellen vielfach Einblicke und Einsichten in das amerikanischen Universitäts- und Gesellschaftswesens; dabei tritt das bisweilen herrschende Ressentiment gegenüber den Deutschen, auch den von Hitler vertriebenen, der Antisemitismus und Rassismus deutlich zu Tage (215 Anm. 102; 378 Anm. 563; 585ff. 590ff.). Insbesondere die Jüngeren fürchteten die Konkurrenz der Immigranten. Hervorgehoben verdient ferner, daß Werner Jaeger trotz der seit 1928 bestehenden Animositäten zwischen Hamburg (Kapp/Snell) und Berlin (Jaeger) Kapp in den USA nach Maßgabe seiner Möglichkeiten geholfen hat. Interessant zu beobachten ist, wie bei der Beurteilung der deutschen Lehrer und Kollegen durch die Emigranten nicht die Parteizugehörigkeit entscheidend ist, sondern das menschliche Verhalten; so werden Viktor Pöschl, obwohl Mitglied der SS, und Martin Heidegger (seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP und Freiburger Rektor) übereinstimmend für ihre Unterstützung und anständige Haltung gelobt (593. 412f. 418), während Wolfgang Schadewaldt, der – da seine erste Begeisterung für den Nationalsozialismus bald verflogen war – nie Mitglied der NSDAP geworden ist (er war bereits vor 1933 Ordinarius), wegen seines menschlichen Versagens und seines Verhaltens nach dem Krieg von Kristeller, Manasse und Friedländer heftig getadelt wird (418 Anm. 39; 593. 664f. ). Überraschend ist vielleicht auch, daß Giovanni Gentile, der erste Kulturminister des faschistischen Italien und ein Freund Mussolinis, sich sogar persönlich bei Mussolini für Kristellers Verbleib an der SNSP (Pisa) einsetzte und daß Kristeller kurz vor seiner Ausreise aus Italien gleichsam als Entschädigung für seine Entlassung eine Geldsumme als dono personale del Duce erhielt (454ff. 502 Anm. 318).
Diese Angaben zum reichen Inhalt des Buches, das kaum Druckfehler und Versehen aufweist,6 müssen hier genügen.
Zuletzt noch kurz zum Ziel, eine „Geschichte der Altertumswissenschaften“ in der amerikanischen Emigration zu schreiben (17), das Obermayer später etwas relativiert, wenn er sich zuversichtlich zeigt, daß die von ihm entworfenen Gelehrtenporträts „zu Recht den Anspruch“ erheben können, ein „gewichtiger erster Schritt in Richtung einer umfassenden ‛Geschichte der Altertumswissenschaften in der Emigration’ zu sein“ (22). Grundlage dieser Zuversicht ist die Caldersche Prämisse, daß „Wissenschaftsgeschichte im Grunde Wissenschaftlergeschichte“ ist.7 Nun wird niemand bestreiten, daß persönliche Umstände (wie die Herkunft) und Erlebnisse das Denken und die wissenschaftliche Richtung, die jemand einschlägt, bestimmen können. Aber die von Calder vorgenommene Gleichsetzung ist meines Erachtens unzulässig, da die Kenntnis einer Gelehrtenpersönlichkeit nur Teil der Wissenschaftsgeschichte ist und lediglich eine ihrer Voraussetzungen bildet. Doch selbst wenn der biographische Ansatz gewählt wird, um die Geschichte der deutschen Altertumswissenschaften während und nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA zu rekonstruieren, genügt die Nennung der in der Emigration entstandenen Veröffentlichungen und gelegentliche Verweise auf akademische Neuerungen nicht.8 Um seinem Anspruch gerecht zu werden, hätte Obermayer etwa folgende Fragen behandeln müssen: Wie hat sich die Emigrationserfahrung auf die wissenschaftliche Entwicklung ausgewirkt? Haben sich die Emigranten anderen Themen als zuvor in Deutschland zugewandt? Sind sie durch eine speziell amerikanische Altertumswissenschaft beeinflußt worden oder haben sie ihrerseits Einfluß auf die amerikanische Philologie und das dortige Studium genommen? Hat die Lehre an amerikanischen Universitäten die Forschung der Emigranten beeinflußt? Doch sollen diese Feststellungen die herausragende Bedeutung dieses Werkes, das mit großer Anteilnahme am Schicksal der Emigranten geschrieben ist, nicht herabmindern.
Nützliche Übersichten, darunter ein Quellenverzeichnis, aufgeschlüsselt nach den behandelten Gelehrten, ein Literaturverzeichnis und ein Namens- und Sachindex beschließen den Band.
Notes
1. Vgl. z. B. Volker Losemann, Die Dorier im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre. In: Zwischen Rationalismus und Romantik. Karl Otfried Müller und die antike Kultur. Hildesheim 1998, 313-348 (und andere Arbeiten Losemanns, dessen Werk Nationalsozialismus und Antike von 1977 eine Pionierleistung war).
2. Zum Einfluß Eduard Fraenkels auf die Professionalisierung der englischen Philologie vgl. beispielsweise William Calder in der Einleitung zu Anton Bierl/W. M. Calder III/Robert L. Fowler, The Prussian and the Poet. The Letters of Wilamowitz to Gilbert Murray. Berlin 1991, 2-3.
3. Dazu Obermayer 245f. Vergleichbar ist der Fall Kapp: Snells Erklärung von 1982 gegenüber Walther Ludwig und in seinen noch ungedruckten Erinnerungen, Kapp habe der Behörde geantwortet, „man könne ihm nicht zumuten herauszufinden, von wem seine Frau und deren Eltern abstammten“, steht in eklatantem Widerspruch zu den Bemühungen Kapps, wie sie sich aus seiner Personalakte ergeben. Vgl. Obermayer 307-10, insbes. 209 Anm. 326 (nach Lohse).
4. Besonders instruktiv Anm. 96 und 98. Anm. 97 muß es heißen „Schreiben vom … 7. November 1934“ (statt 1935). Ein Beispiel dafür, mit welcher Naivität der Eid geleistet werden konnte, sind Friedrich Pfisters Erinnerungen aus meinem Leben (Würzburg 1989) 163: „Auch der Beamteneid, den man im August 1934 schwören mußte, forderte nichts Außergewöhnliches“ (niedergeschrieben 1945).
5. So Swetlana Alexijewitsch in ihrer „Ansprache aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels“ (Frankfurt 2013) 64: „Erinnerungen sind ein launisch Ding. Da legt der Mensch alles hinein. … Zeitzeugen sind weniger Zeugen, sie sind vielmehr Schauspieler und Geschichtenerfinder.“
6. Zu 305 Anm. 314: Snells 1935 in Amersfoort gehaltener Vortrag enthält entgegen seiner eigenen Aussage im Vorwort keine Stelle, die damals hätte Anstoß erregen können. – Der 522 Anm. 8 zitierte Brief muß wegen der genannten Vorlesungen in das Jahr 1926 (statt 1924) datiert werden.
7. William M. Calder III, Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftlergeschichte. Das Altertum 42, 1997, 245-56 = Calder, Men in Their Books : Studies in the Modern History of Classical Scholarship (Spudasmata 197). Hildesheim 2010, 71-86.
8. Immerhin erwähnt Obermayer 358 Anm. 490 von Fritz’ erfolglose Bemühungen, das Studium an der Columbia University nach deutschem Vorbild zu reformieren. Sicher ist auch, daß wir Kapps „Emigration … einige seiner wichtigsten Werke, die ihn in Amerika als universitätswürdig ausweisen sollten“, verdanken, wie Snell in seinen Erinnerungen bemerkt (o. Anm. 3).