Lothar Willms ist vor allem Gräzist. Er wurde 2004 mit einem Kommentar von Epiktets Diatribe Über die Freiheit in Trier promoviert (erschienen in zwei voluminösen Bänden 2011) und hat sich ebenfalls 2011 in Heidelberg mit einer Arbeit über Transgression, Tragik und Metatheater habilitiert, aus der in der anzuzeigenden Arbeit bereits zitiert wird (2014). Zwischenzeitlich legte er 2013 einen Band über Klassische Philologie und Sprachwissenschaft vor. Das hier zu besprechende „Büchlein“ (1) war ursprünglich eine Zulassungsarbeit für das Staatsexamen 1999 im Frühjahr in Trier unter der Ägide von H.-O. Kröner. Sie wurde stark überarbeitet und berücksichtigt Literatur bis 2013. Behandelt wird die letzte Partie des Urania-Teils von Aviens Phaenomena : der letzte der ‚Himmelskreise‘ (der Tierkreis), und die gleichzeitigen Auf- und Untergänge der extrazodiakalen Sternbilder (Paranatellonta).
Es ist sehr verdienstvoll, daß der Autor dem Kommentar eine Edition des lateinischen Textes und eine Übersetzung vorausgeschickt hat (in seinem Epiktet hatte er sich mit einer am Ende beigegebenen Übersetzung begnügt). Nicht selten entstehen Kommentare ohne Edition und / oder Übersetzung wie etwa der M. Fiedler zu Avien, Aratea 367-746 (2004). So können sich die Kommentatoren leicht um textkritische Entscheidungen drücken und sich weniger angreifbar machen. Willms legt dagegen über seinen Text an jeder Stelle kritisch Rechenschaft ab. Er folgt weitgehend der Konstitution von Soubiran (1981) und begründet die Abweichungen im Kommentar. Die von Soubiran eingefügten Absätze und Zwischenüberschriften übernimmt er allerdings nicht. Dies vermindert zwar die Benutzbarkeit und hat in einem Fall auch zu Fehlern geführt (Vertauschung der Lemmata 61), trägt aber den von Arat intendierten gleitenden Übergängen Rechnung.
Es wäre von Vorteil gewesen, die Übersetzung synoptisch neben dem lateinischen Text abzudrucken. Sie ist „ausgangssprachenorientiert“ (18), die Abweichungen von Soubiran werden im Kommentar ausführlich begründet. Die äußerst knappen Erläuterungen in den Fußnoten werden im Kommentar nicht wiederholt.
Die Kommentierung versucht, über die Quellenforschung um 1900 hinauszukommen (6f.) und fragt vor allem nach dem „Wozu?“ der Übertragung. Sie vollzieht sich in zwei Schritten. Voran geht ein „Philologischer Kommentar zur Übersetzung“ (29-72). Er enthält grammatische, metrische und semantische Beobachtungen. Bei textkritischen Fragen mußten auch astrothetische und sachliche Probleme zur Sprache kommen. Besonders gelungen erscheinen die Ausführungen 34 zu 1021 implicet; 35 zu 1029 über den verschiedenen Gebrauch des Verbums condere; 47 zu 1096 inclinabitur gegen B. Rehm; 49f. zu 1114 conscia; 50f. zu 1118 canum … Olorem über die graue Farbe des Schwans in Bezug auf die von diesem tangierte Milchstraße; 51f. zu dem Neologismus 1119 efflua über die „Mündung“ des Eridanus tief im Süden; 53-56 zu 1132 plurimus über die möglichen Bedeutungen dieses Wortes; 63f. zu 1250 curvis puppim super … oris über die ‚Landung‘ der Argo. Ausgiebig benutzt Willms den Thesaurus linguae Latinae. Bei jedem Artikelverfasser wird sorgfältig der abgekürzte Vorname ermittelt. In einem Fall hat Willms sogar bei der Geschäftsstelle nachgefragt (56 Anm. 226). Er benutzt das Lexikon durchaus kritisch und bemängelt zu Recht manche Klasifizierungen und weist Fehler nach. Es war allerdings unnötig, bei den Stellenangaben stets den Thesaurus als Quelle anzugeben. Die sklavische Übernahme ganzer Passagen mit gekürztem oder fehlendem Lemmawort samt Fettdruck führt notwending zu inkonsequenter Handhabe der Kursive, zu fehlenden Versgrenzen und ungenauen Stellenangaben.
Der zweite Kommentardurchgang, „Detailvergleich und –interpretation“ (73-112), möchte eine „Fallstudie im Bereich der antiken Übersetzung“ bieten (73) und beginnt mit kurzen Überlegungen zu Theorie und Praxis der antiken Übersetzer nach A. Steele und M. Mülke. Avien gestaltet eine äußerst freie Übersetzung, und das ist typisch römisch in der Tradition von imitatio und aemulatio (74). Willms möchte erarbeiten, „mit welchen sprachlichen Mitteln Avien wie nahe am Original bleibt, seinem dichterischen Anspruch gerecht bleibt […] und er sich inwieweit um Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung bemüht“ (75). Er vergleicht die drei ganz oder teilweise erhaltenen Arat- Übersetzungen (Cicero – Germanicus – Avien) inhaltlich und besonders stilistisch: Ciceros Stil ist archaisch, Germanicus bleibt kurz, Avien schmückt seine Übertragung in epischer Breite aus. Willms achtet auf Grammatik, Wortstellung im Vers, Syntax, Satz- und Versgrenzen, Satzverknüpfungen, etymologische Verwandtschaften und im Zusammenhang mit der Vermenschlichung der Sternbilder auch auf moralische Komponenten. Es geht um wörtliche Übernahmen von den früheren Übersetzern und um Überbietungen. Der Kommentator argumentiert mit der ästhetischen Kategorie des Wohlklangs und scheut sich nicht vor Werturteilen. Zusammenfassend (108-112) konstatiert er drei Tendenzen: „Verfremdung, Veranschaulichung, Vereinfachung“ (109), von denen die erste zuvor aber kaum genannt wurde. Er erkennt bei Avien ein dichterisches Selbstwertgefühl, ein Geltungsbedürfnis (111), und in seinem Stil eine Neigung zum Grandiosen (116; 121).
Willms erwähnt zwar, daß es außer Cicero und Germanicus noch andere Arat-Übersetzer gegeben hat: Varro Atacinus und Ovid (3) sowie Gordian (112), aber es gab deren noch mehr wie etwa den Vater des Statius. Die Fülle der Arat- Übersetzungen erklärt sich daraus, daß Arat Schulautor war, wie Willms im Anschluß an H. Weinhold selbst bemerkt (111 Anm. 392), dazu W. Hübner, „Die Rezeption der Phainomena Arats in der lateinischen Literatur“ (2005), 134. Die vergleichende Interpretation tut aber dennoch so, als habe es nur die drei Versionen gegeben. Germanicus war „Aviens unmittelbarer Vorgänger“ (55) eben nur insofern, als es sich um die erhaltenen Übersetzungen handelt.
Germanicus hat bekanntlich einige von Hipparchs Korrekturen in seiner Übersetzung berücksichtigt, Avien macht dies nur in seltenen Fällen nach. Astronomiegeschichtlich bedeutet die Bearbeitung Aviens also einen Rückschritt. Seine Stärke sieht Willms zu Recht in der stilistischen „Verfeinerung“ (79 und öfter) und vor allem in der epischen Breite. Demgegenüber wird die kurze Fassung des Germanicus leicht abgewertet. Dem ist entgegenzuhalten, daß eine versgenaue Übersetzung sehr viel schwerer ist als eine ausgreifende Übertragung mit Abundanzen und Ausschmückungen.
Ein vierter Abschnitt (113-119) setzt sich mit Anne-Marie Lewis’ furor -Theorie (zuerst 1983) auseinander. Die Zeus-Frömmigkeit Arats stehe im Gegensatz zu dem durchgängigen furor -Motiv bei Avien. Willms weist der Autorin methodische Fehler nach und unterzieht die Rolle des furor bei Avien einer detaillierten Nachuntersuchung. Während für Arat Jupiter allein die Höchstinstanz ist, kommt bei Avien der positiv gewertete furor poeticus als weitere, allerdings von Jupiter konzedierte, Wirkkraft hinzu. Diese Thematik berührt das Thema der Habilitationsschrift (114 Anm. 407). Der unpassende christliche Begriff der Gnade (115; 117) leitet zu der These von D. Weber über, Avien habe wegen der inhaltlichen Nähe des Heidentums zum Christentum versucht, seine Haltung einem christlichen Publikum zu vermitteln. Diese Annahme wird zu Recht zurückgewiesen (118f.).
Am Ende von Kapitel 4 heißt es (119): „Aviens zahlreiche Erweiterungen zeigen, dass es ihm nicht primär um eine möglichst wörtliche Übersetzung … ging“. Das unmittelbar anschließende und nur durch eine Blanco-Seite getrennte Kapitel 5 beginnt mit den Worten (121): „Avien ist bestrebt, sich durch eine möglichst wörtliche Übersetzung Arats von seinen lateinischen Vorgängern abzusetzen.“ Das ist ein glatter Widerspruch, der einmal mehr zeigt, wie schwer generelle Aussagen – über die Erweiterungen hinaus – zu treffen sind.
Bei der Erklärung der gleichzeitigen Auf- und Untergänge der Paranatellonten hätten die grundlegenden Ausführungen in F. Bolls Sphaera (1903) nicht fehlen dürfen, vgl. auch den RE -Artikel „Paranatellonta“ von W. Gundel (1949). – Die von Willms hervorgehobenen gleitenden Übergänge (104 zu Arat 683 und 107 zu Avien 1320-1326) stammen grundsätzlich und in verstärkter Handhabung schon von Arat, denn dieser versucht mit den verschiedensten stilistischen Mitteln, bei dem Leser die Vorstellung einer kontinuierlichen Jahresbewegung ständig wachzuhalten: W. Hübner, „Manilius als Astrologe und Dichter“ (1984), 175.
Der Kommentator ist – besonders bei menschengestaltigen Figuren – bestrebt, zwischen den realen Gegebenheiten der Sternbilder am Himmel und den irdischen Gestalten zu unterscheiden, doch läßt sich dies längst nicht immer streng auseinander halten. Wenn er etwa Cicero, Aratea 413 occidit über den Untergang des Sternbildes hinaus auch auf den drohenden Tod Andromedas beziehen möchte (96), ist das überinterpretiert, denn Andromeda wird ja gerettet. Wenn überhaupt, wäre eine solche Ambiguität beim Walfisch am Platze.
Der Autor will zwar nicht vollständig sein (29), dennoch hätte ein Benutzer an etlichen Stellen mehr erwartet. Gerade ein Gräzist hätte auch den Sternkatalog aus der Syntaxis des Ptolemaeus heranziehen sollen; dieser wird jedoch nur einmal (69) aus zweiter Hand nach Le Bœuffle herangezogen. In astrothetischen und mythologischen Fragen ist der Roscher -Artikel „Sternbilder, Sternglaube und Sternsymbolik bei Griechen und Römern“ (1937) von F. Boll und W. Gundel einschlägig, zu den Epitheta der Tierkreiszeichen W. Hübner (1982, in der Bibliographie genannt, aber nicht benutzt), weiterführend über die Paranatellonten Manilius, Astronomica, Buch V (2010). Zum „Miniaturdrama“ der Kepheus-Familie bei Arat (96) vgl. die breite Ausgestaltung des Mythos bei Manilius 5,540-618 (ebendort II 319-351) sowie die Trierer Dissertation von F. Bubel mit der kommentierten Edition der Fragmente der damals sehr beliebten euripideischen Andromeda (1991).
Einige Behauptungen sind fraglich, überinterpretiert oder unpassend. Hinzu kommen sachliche Fehler: Wenn es zu 1022 devexo … ab ordine heißt (34): „Ich beziehe es nicht auf die schräge Lage der Erdachse, sondern des Tierkreises. (Die Schrägheit der Erdachse ist selbstredend der Grund, warum der Tierkreis zu den anderen Himmelskreisen schräg versetzt ist.)“, macht die Parenthese den ersten Satz hinfällig. Im folgenden liest man, daß Avien Arats λοξός (527) in Vers 1015 unübersetzt gelassen habe. Die Übersetzung steht jedoch im vorangehenden Vers: 1014 obliqua … via (mit demselben von Cicero und Germanicus gebrauchten Adjektiv). In Bezug hierauf heißt es denn auch (76), „daß er [Avien] … den schrägen Verlauf des Tierkreises in einem eigenen Satz voranstellt.“ – Der Stern θ Eridani (Acamar) markierte zwar in der Antike das südliche Ende des Sternbildes (Ptolemaeus, Syntaxis 8,1 p. 140,12): ὁ ἔσχατος τοῦ Ποταμοῦ λαμπρός, doch er galt, wie schon die Zahl θ sagt, nicht als der hellste des Bildes (51,-2). Erst Johannes Bayer hat in seiner Uranometria (1603) den in antiker Sicht südlichsten Stern mit dem in der Neuzeit entdeckten sehr hellen Stern Achernar (α Eri) verwechselt, der sich nunmehr seinerseits im äußersten Süden befindet, vgl. P. Kunitzsch, Arabische Sternnamen in Europa (1959), 99-101 unter Nr. 1 und 2. – Daß die Fische keine hellen Sterne aufzuweisen hätten (68 nach Slawik-Reichert), stimmt nicht, denn α Psc (Alrescha = Nodus Piscium) hat immerhin die Helligkeitsklasse 1,3. – Die ‚Punktualität‘ der zentralen Erde (79f.) geht nicht etwa auf ein Aratscholion zurück (80,4), sondern mathematisch auf das erste Theorem Euklids, und als philosophisch-moralischer Topos ist das Wort punctum besonders bei den Stoikern reich belegt. – Die ‚Flucht‘ Orions vor dem Skorpion ist bei weitem nicht die einzige „echte“ Sternsage (98 nach H. Gundel): Zu dem häufigen Motiv von Flucht und Verfolgung von Sternbildern, besonders in der Nähe des Himmelsäquators, wo sie sich für uns am schnellsten zu bewegen scheinen, Manilius 219 mit Anm. 259; Kommentar I 31f.; II 127 zu Manilius 5,233.
In der Bibliographie hätte man unter den Ausgaben die kommentierte Manilius-Edition von S. Feraboli – E. Flores – R. Scarcia (1996 und 2001) und sonst die wichtigen Arbeiten von W. Ludwig zu Arat (1963 und 1965) erwartet. – Einige falsche Stellenangaben, falscher Text und wenige Druckfehler trüben die insgesamt akkurate Präsentation.
Den Band beschließen sechs heterogene Abbildungen, zum Schluß zwei Photographien der Grabstätte der Familie von Franz Boll auf dem Neuenheimer Friedhof. Sie bilden gleichsam die Brücke von der Trierer Staatsexamensarbeit zu der neuen Wirkungsstätte, vgl. H. Gärtner, „«Finsternisse» und die Heidelberger Klassische Philologie: Franz Boll” (2000). Willms hat von Boll allerdings nur die Abhandlung über Antike Beobachtungen farbiger Sterne (1916) herangezogen (37; 45). Wenn er seine Arbeit mit dem berühmten Epigramm des Ptolemaeus eröffnet, hätte die Erwähnung von Bolls spätem Aufsatz (1921) mit einer letztgültigen eigenen Übersetzung, die auch dem Band seiner Kleinen Schriften (1950) voransteht, die Gelegenheit zu einer Ringkomposition geboten, wie er sie bei Avien lobend hervorhebt (107).
Insgesamt handelt es sich um eine streng philologische gewissenhafte Kommentierung der Phaenomena Aviens im Vergleich zu Cicero und Germanicus, mit gesunden Urteilen in Zweifelsfällen und mancherlei neuen Erkenntnissen, die das Niveau der ursprünglichen Examensarbeit durch zwischenzeitliche intensive Recherchen weit übertrifft. Sie geht allerdings nicht überall mit gleichschwebendem Interesse in die Tiefe. Ein Benutzer erwartet besonders bei astrothetischen und mythologischen, aber auch bei grammatischen und verstechnischen Fragen sowie im Vergleich zu den übrigen Astrologumena und deren Kommentierung weitere Aufschlüsse. Die äußere Präsentation leidet trotz der Bemühung um Akkuratesse an Inkohärenz und formalen Fehlern.