Im Jahre 1862 hielt Georg Curtius seine Antrittsvorlesung an der Universität Leipzig mit dem Titel Philologie und Sprachwissenschaft,1 in der er für eine Annäherung von klassischer Philologie und Sprachwissenschaft plädierte. Die Idee war fruchtbar: Leipzig wurde zu einem Zentrum der sprachwissenschaftlichen Erforschung der klassischen Sprachen, der Indogermanistik und der Sprachen im Allgemeinen; hier lehrten die bekannten Sprachwissenschaftler Karl Brugmann2 und August Leskien,3 hier studierte und promovierte Ferdinand de Saussure, der Begründer der modernen Linguistik.
Tempora mutantur. Klassische Philologie und Sprachwissenschaft sind eigene, getrennte Wege gegangen, und heute gibt es nur noch in Heidelberg einen Lehrstuhl für lateinische und griechische Sprachwissenschaft.
Die Publikation des neuen Handbuchs Klassische Philologie und Sprachwissenschaft von Dr Lothar Willms, dessen Titel eine Brücke zu der großartigen Leipziger Zeit schlägt, kann man daher nur begrüßen. Entstanden ist das Werk aus Einführungsveranstaltungen in die Sprachwissenschaft für klassische Philologen, die der Verfasser, z. Z. Privatdozent am Seminar für Klassische Philologie der Universität Heidelberg, an den Universitäten Trier und Heidelberg gehalten hat (p.17).
Nach einer detaillierten Inhaltsübersicht (pp. 5-16) stellt der Autor in seinem Vorwort (pp. 17-22) kurz Inhalt – klassische Sprachen und Indogermanistik, Latein und Griechisch als Sprachen in der Antike sowie antike Sprachreflexion, antike Sprachen und moderne linguistische Theorien, Fortleben der klassischen Sprachen in den modernen Sprachen – Ziel – Vermittlung von sprachlichem Grundwissen an klassische Philologen – und Aufbau des Werkes vor. Darauf folgt ein Verzeichnis der Schaubilder, Abbildungen und Karten (pp. 23-24) sowie eine Auflistung der Abkürzungen und Symbole (pp. 25-27).
Das erste Kapitel des Buches, „Wissenschaftsgeschichte und allgemeine Sprachwissenschaft“ (pp. 29-84), gibt einen Überblick über die Entwicklung der Sprachwissenschaft, von der vormodernen Beschäftigung mit Sprache, u. a. in Griechenland und Rom, über die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft bis zu moderner Linguistik, Strukturalismus,generativer Transformationsgrammatik u.a.
In den Kapiteln 2 (pp. 85-139), 3 (pp. 140-208), und 4 (pp. 209-249) wird jeweils die äußere Sprachgeschichte des Indogermanischen, Griechischen und Lateinischen behandelt. Kapitel 5 (pp. 250-301) gibt einen Überblick über die historische Lautlehre des Lateinischen und Griechischen, Kapitel 6 (pp. 302-434) behandelt die historische Formenlehre der beiden klassischen Sprachen.
Das letzte Kapitel (pp. 435-491) ist dem Fortleben des Griechischen und Lateinischen in den modernen Sprachen gewidmet.
Eine Literaturliste zur Grundlagenliteratur (pp. 492-503) rundet das Werk ab. Nützliche Literaturangaben sowie Testfragen und Übungen findet man ebenfalls am Schluss der verschiedenen Unterkapitel.
Ein Handbuch zur Sprachwissenschaft der klassischen Sprachen, das in linguistischen Einführungsseminaren benutzt werden kann, war ohne Zweifel ein Desiderat, und man sollte dem Autor dankbar sein, diese langwierige Arbeit in Angriff genommen und zu Ende geführt zu haben. Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft hat viel Detailwissen nicht nur zu den klassischen Sprachen zusammengetragen; die Materialfülle ist also beachtlich, und vieles wird dem Leser in diesem Bande dargeboten.
Aber gerade in dieser Materialfülle lauern auch Gefahren, und manchmal ist Dr Willms diesen Gefahren zum Opfer gefallen. Zu oft bleibt das Buch nicht bei seinem eigentlichen Thema, den klassischen Sprachen. So ist es z. B. unverständlich, warum ein ganzes Unterkapitel der ersten germanischen und der zweiten hochdeutschen Lautverschiebung (pp. 287-293) gewidmet ist. Einige Fußnoten dort, wo eine Verbindung zur Phonetik der klassischen Sprachen hergestellt werden kann, hätten ohne Zweifel genügt. Auch das Kapitel über den Einfluss des Lateinischen und Romanischen auf den Wortschatz und Satzbau des Englischen (pp. 467-491) ist problematisch. Der Autor hätte sich hier strikt auf das Lateinische beschränken und das Romanische der Romanistik überlassen sollen.
Manchmal fehlt eine tiefgreifende Analyse des Materials, und ältere Beobachtungen werden kritiklos übernommen, wie man dies z.B. bei der Periodisierung der lateinischen Sprache beobachten kann (pp. 223-224), wo der Autor mit problematischen, althergebrachten Konzepten wie Vulgärlatein (pp. 230-239) oder lateinische Umgangssprache (pp. 239-249) arbeitet, oder bei der Chronologie des lateinischen Lautwandels (pp. 251-252), in der – unverständlicherweise – Mittellatein, Humanistisches Latein und Neulatein aufgeführt werden. Besser wäre es hier gewesen, auf neuere, wissenschaftlich fundierte Periodisierungsversuche zurückzugreifen, so wie sie z.B. von Prof. Banniard (2006: 32-33) vorgeschlagen worden sind4.
Syntax war nicht im Fokus der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Die moderne Linguistik der klassischen Sprachen hat sich jedoch verstärkt diesem Bereich zugewandt, und besonders in der Latinistik wurden hier durch die Publikationen von Guy Serbat (1996), Christian Touratier (1994) und Harm Pinkster (1990) u. a. bemerkenswerte Fortschritte erzielt5. Leider sucht man vergeblich in diesem Handbuch nach einem Kapitel zur Syntax der klassischen Sprachen.
Die Sprachwissenschaft des Griechischen und Lateinischen braucht ohne Zweifel Handbücher wie das von Dr Willms, um Seminare zu gestalten und Vorlesungen zu begleiten. In diesem Sinne sollte man die Publikation auf jeden Fall begrüßen. Dem Buch haftet jedoch etwas Unfertiges an; es ist meiner Meinung nach zu sehr Vorlesungsmanuskript oder Notizen zur Seminarübung geblieben. Der Autor sollte daher sein Werk überarbeiten, hier kürzen, dort vertiefen und vervollständigen, damit es seinen Zweck voll zu erfüllen vermag: Studenten der klassischen Philologie in die Linguistik des Griechischen und Lateinischen einzuführen und, vielleicht, zu begeistern.
[For a response to this review by Lothar Willms, please see BMCR 2015.02.16.]
Notes
1. Philologie und Sprachwissenschaft; zum Leben und Werk, cf. Meister, Richard, „Curtius, Georg“ in Allgemeine Deutsche Biographie (1903), S. 597-602 [Onlinefassung].
2. Cf. Brugmann, Karl, in: Norbert Fries, Online Lexikon Linguistik;Sommer, Ferdinand, „Brugman, Karl Friedrich Christian“, in Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 667 [Onlinefassung].
3. Cf. Pohl, Heinz Dieter, „Leskien, August“, in Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 329-330 [Onlinefassung].
4. Banniard, Michel. “Le français et la latinité: de l’émergence à l’illustration. Genèse de la langue française (IIIe-Xe siècles)”, in: Histoire de la France littéraire I. Naissance, Renaissances, Moyen Âge-XVIe siècle, volume dirigé par Frank Lestringant et Michel Zink. Paris: Quadrige / PUF 2006, 9-35.
5. Serbat, Guy. L’emploi des cas en latin. Grammaire fondamentale du latin, 6. Louvain [etc.]: Peeters, 1996; Touratier, Christian. Syntaxe latine. Louvain-la-Neuve: Peeters, 1994; Pinkster, Harm. Latin Syntax and Semantics. London, New York: Routledge, 1990.