Trägt man aus den Schriften des Isokrates sämtliche Aussagen über Sparta zusammen, ergibt sich nach dem bisherigen Stand der Forschung kein widerspruchsfreies Gesamtbild. Die geringsten Schwierigkeiten bereitet dieser Befund denjenigen, die Isokrates’ Wirkungsabsicht vornehmlich in der formalen Demonstration seiner Rede- und Argumentationskunst vermuten. Für sie erklärt sich selbst eine Schrift wie der Archidamos, der mit den andernorts vertretenen politischen Standpunkten ihres Verfassers am wenigsten zu harmonieren scheint, als rhetorische Übung, deren besonderer Reiz darin liege, die spartanische Perspektive einzunehmen und in dieser Rolle so überzeugend wie möglich zu argumentieren. Betrachtet man Isokrates hingegen als einen ernsthaften politischen Publizisten, dessen Worte ausnahmslos seine persönlichen Ansichten widerspiegelten, muss man annehmen, dass sich seine Meinung über Sparta mit der jeweiligen politischen Stimmungslage gewandelt habe; so ließe sich z.B. die mit dem Archidamos getroffene Themenwahl auf die gegen Theben gerichtete Annäherung zwischen Athen und Sparta nach 371 zurückführen.
Thomas Blank gibt sich mit diesen Erklärungsversuchen nicht zufrieden und geht die Frage nach dem Spartabild des Isokrates in seiner Tübinger Dissertation auf einem ganz anderen Weg an. Seine Arbeit gliedert sich in drei große Abschnitte: In der Einführung (A) skizziert er die bislang dominierenden Forschungspositionen und begründet seinen eigenen methodischen Ansatz, den Hauptteil bilden die Einzeluntersuchungen (B) der für das Thema relevanten isokratischen Schriften ( Helena, Busiris, Panegyrikos, Plataikos, Kyprische Reden, Archidamos, Areopagitikos, Friedensrede, Antidosis, Philippos, Panathenaikos), abschließend werden die Ergebnisse (C) zusammengefasst.
Blanks Ansatz beruht auf der Annahme, dass Isokrates nicht im Sinne ‚politischer Publizistik‘ eine breite meinungsbildende Wirkung beim Demos erstrebte, sondern für ein elitäres athenisches Lesepublikum schrieb (36–38), dem er weniger die (technischen) Fertigkeiten der Redekunst als vielmehr politisch- ethische Werte vermitteln wollte (53). Seine Lehrmethode sei nicht ausschließlich mimetisch, d.h. auf die Nachahmung der als ‚ideale‘ Muster zu verstehenden eigenen Schriften ausgerichtet, sondern enthalte auch ein kritisch- diskursives Element: Um das Urteilsvermögen seiner Leser zu schulen, habe Isokrates absichtlich auch schwache oder unzulässige Argumente verwendet, zu deren Entlarvung es der genauen Kenntnis seines als Einheit konzipierten Gesamtwerks bedurfte. Widersprüche innerhalb dieses Gesamtwerks seien daher als bewusst platzierte Signale aufzufassen, die die Aufmerksamkeit des Publikums wecken und seine Wahrnehmung lenken sollen (71). Bereits in der Einführung deutet sich an, dass Blank Schwierigkeiten hat, seine Theorie mit validen Textbelegen zu untermauern. Ein Beispiel: 12,136 sagt Isokrates, er wünsche sich ein Publikum, das sich an das erinnere, was er der Rede vorausgeschickt habe. Das ist am ehesten so zu verstehen, dass ein Leser, der sich der im Proömium des Panathenaikos erklärten Zielsetzung bewusst ist, die Länge und Schmucklosigkeit der Ausführungen verzeihen sowie die Funktion der einzelnen Redeteile besser zu erkennen und zu würdigen wissen wird. Blank (59) interpretiert die Aussage allgemeiner: (Der ideale Leser) „achtet bei der Lektüre auf das bereits zuvor Gesagte – das kann fraglos die Aufforderung beinhalten, auf mögliche Inkonsistenzen innerhalb der Reden zu achten.“ Auch dem 12,137 formulierten, durchaus nicht nur von Isokrates verwendeten (vgl. z.B. [Dem.] 60,1) Bescheidenheitstopos (δέδοικα μὴ … πολὺ καταδεέστερον εἴπω τῶν πραγμάτων) möchte Blank einen Hinweis darauf abgewinnen, „dass die isokratischen Schriften möglicherweise an manchen Stellen hinter dem Möglichen zurückbleiben, also bewusst eine nicht ‚ideale‘ Argumentation präsentieren“ (59 Anm. 136).
Ausgehend von dieser Hypothese isoliert Blank, um verlässliche Kriterien für die Qualität von Argumenten zu gewinnen, aus den frühen Schriften Helena und Busiris mehr oder minder explizit formulierte Argumentationsregeln (zusammengefasst 72–73), welche Isokrates seinen Lesern als ‚Interpretationsschlüssel‘ für seine künftigen Publikationen an die Hand gegeben habe. Diesen Maßstab legt Blank in den Einzeluntersuchungen an, zieht aus Verstößen gegen das Regelwerk Konsequenzen für die Interpretation und macht so gewissermaßen eine ‚zweite Stimme‘ des Isokrates vernehmbar.
Blanks Methode eröffnet neue Möglichkeiten, Widersprüche aufzulösen, wie z.B. im Falle des Archidamos : Dort schaffe Isokrates u.a. durch die Wahl der Sprecher-persona Archidamos III, in der der Leser ein negatives Gegenbild zu dessen bei Thukydides dargestelltem Großvater und zu Isokrates selbst sehe, Distanz zu den Inhalten der fiktiven Rede. Die aus dieser Distanz erkennbare implizite Kritik an der kriegerischen spartanischen Außenpolitik und an der Abkehr von alten spartanischen Werten harmoniere mit den an anderen Stellen geäußerten Ansichten des Isokrates. Mithin sei dessen Spartabild konsistenter als bislang angenommen.
Alle Ergebnisse, die Blank aus der Einzelanalyse der isokratischen Schriften gewinnt, auch nur annähernd vollständig zusammenzufassen ist hier nicht möglich. Ebenso wenig kann jede einzelne Argumentationslinie nachgezeichnet werden. Die Betrachtung soll deshalb auf den wohl interessantesten Aspekt, Blanks u.a. von Terry Papillon und Jeffrey Walker1 inspirierten, in seiner spezifischen Ausprägung aber neuen methodischen Ansatz fokussiert werden. Um einen Eindruck zu vermitteln, wie Blank seine Theorie aus dem Text entwickelt und auf den Text anwendet, seien einige Beispiele aus seiner Interpretation des Panegyrikos angeführt.
Die von Isokrates im Proömium genannte Motivation für die Abfassung des Panegyrikos, ἱκανὸν νομίσας ἆθλον ἔσεσθαί μοι τὴν δόξαν τὴν ἀπ᾿ αὐτοῦ τοῦ λόγου γενησομένην (4,3), setzt Blank (167f.) in Beziehung zu der Verwendung des δόξα-Begriffs in den „Proömien der vorangegangenen Schriften“, wo δόξα ‚Meinung‘ heißt (vgl. z.B. 11,3 μεθιστάναι τὴν δόξαν τῶν οὕτω πρὸς τοὺς συμβουλεύοντας διακειμένων). Diese Bedeutung schwinge auch 4,3 mit: Isokrates gehe es sowohl um eigenen Ruhm als auch um die Beeinflussung der Meinung seines Publikums. Gegen die Auffassung von δόξα im Sinne von ‚Meinung‘ spricht an dieser Stelle jedoch u.a. die Präposition ἀπό (‚ausgehend von‘) sowie der (in Blanks Übersetzung nicht wiedergegebene) Zusatz αὐτοῦ: Warum sollte eigens betont werden, dass die Meinung ausgehend von (?) der Rede selbst entsteht? Noch fragwürdiger ist die Annahme einer doppelten Bedeutung 4,76 (οὗτος ἐδόκει πλοῦτον ἀσφαλέστατον κεκτῆσθαι καὶ κάλλιστον, ὅστις τοιαῦτα τυγχάνοι πράττων ἐξ ὧν αὐτός τε μέλλοι μάλιστ᾿ εὐδοκιμήσειν καὶ τοῖς παισὶ μεγίστην δόξαν καταλείψειν), wo Blank zufolge Isokrates auch „von der Sorge der Vorfahren spricht, den eigenen Nachfahren Urteilskraft … zu vermitteln“ und somit „zugleich sein eigenes Handeln in die direkte Tradition dieser paideía der Vorfahren stellt“ (196). δόξα bezeichnet aber nicht die ‚Urteilskraft‘, sondern die ‚Meinung‘, wozu das Attribut μεγίστη nicht passt; zudem heißt καταλείπειν nicht ‚vermitteln‘, sondern ‚(als Vermächtnis) hinterlassen‘, und durch das parallele εὐδοκιμήσειν wird δόξα eindeutig auf die Bedeutung ‚Ruhm‘ festgelegt.
4,7f. rechtfertigt Isokrates die Wahl eines bereits von vielen anderen behandelten Themas mit der in der Redekunst gegebenen Möglichkeit, über dieselben Gegenstände auf ganz unterschiedliche Art zu sprechen: Πρὸς δὲ τούτοις εἰ μὲν μηδαμῶς ἄλλως οἷόν τ’ ἦν δηλοῦν τὰς αὐτὰς πράξεις ἀλλ’ ἢ διὰ μιᾶς ἰδέας, εἶχεν ἄν τις ὑπολαβεῖν ὡς περίεργόν ἐστι τὸν αὐτὸν τρόπον ἐκείνοις λέγοντα πάλιν ἐνοχλεῖν τοῖς ἀκούουσιν· ἐπειδὴ δ’ οἱ λόγοι τοιαύτην ἔχουσι τὴν φύσιν ὥσθ’ οἷόν τ’ εἶναι περὶ τῶν αὐτῶν πολλαχῶς ἐξηγήσασθαι καὶ τά τε μεγάλα ταπεινὰ ποιῆσαι καὶ τοῖς μικροῖς μέγεθος περιθεῖναι, … οὐκέτι φευκτέον ταῦτ’ ἐστὶ περὶ ὧν ἕτεροι πρότερον εἰρήκασιν, ἀλλ’ ἄμεινον ἐκείνων εἰπεῖν πειρατέον.2 Blank (169) fasst den Passus folgendermaßen zusammen: „Isokrates lehnt auch hier [sc. wie 10,1] die These ab, man könne eine Sache nur auf eine Weise darstellen, und verweist in diesem Zusammenhang auf das Wort vom schwächeren und stärkeren Argument und auf die Eigenschaft des lógos, Dinge entgegen ihrer Natur, also falsch ( pseudés), darzustellen.“ Das antisthenische ἓν ἐφ᾿ ἑνός, auf das Blank hier angespielt sieht, gehört jedoch in einen völlig anderen Zusammenhang, die Assoziation des Komparativs ἄμεινον mit dem Gedanken, das schwächere Argument stärker zu machen, ist weit hergeholt, und das Wort ψευδής kommt im Text gar nicht vor. Diese instabile Basis belastet Blank 171 mit der Folgerung, Isokrates habe „den Blick des Publikums auf die Möglichkeit der Verzerrung von ‚Wirklichkeit‘ im Panegyrikos lenken“ wollen: „Die Rede vom schwächeren und vom stärkeren lógos deutet … darauf hin, dass Isokrates die kritische Auseinandersetzung mit der alétheia seiner folgenden Rede herausfordern will.“ Bereits an früherer Stelle hat Blank die Erwähnung von Is. 4,7f. in Περὶ ὕψους 38,2 für diese Deutung in Anspruch genommen. Der Verfasser spreche dort „ganz offen die Möglichkeit an, dass Isokrates bewusst [meine Hervorhebung] die sachliche Kritik des folgenden Lobes auf die athenische Politik provozieren wolle“ (60). Das ist so nicht richtig. Vielmehr wird die Stelle als Beispiel für eine kontraproduktiv wirkende Übertreibung, d.h. für einen handwerklichen Fehler (vgl. παιδὸς πρᾶγμα ἔπαθε, 38,2), zitiert. Isokrates habe sich in seinem Ehrgeiz zu einer Formulierung hinreißen lassen, die nahezu (σχεδόν; von Blank irrtümlich mit ‚vielleicht‘ übersetzt) eine Aufforderung darstelle, ihm zu misstrauen. Dass dies in Isokrates’ Absicht gelegen haben könnte, lässt der Verfasser von Περὶ ὕψους nicht als möglich, sondern als absurd erscheinen.
Die dem Proömium entnommene Ankündigung, die Leser durch eine als solche erkennbare Fehlargumentation zu einem richtigen Urteil zu führen, sieht Blank im Abschnitt über die athenische Seeherrschaft (4,100–109) erfüllt. Dass Isokrates an dieser Stelle zumindest den heutigen Leser nicht recht zu überzeugen vermag, wurde bereits vielfach festgestellt, und auch der Gedanke, es könnte in der schwachen Rechtfertigung der athenischen Politik nach den Perserkriegen eine implizite Kritik liegen, ist jüngst von Ralf Urban verfochten worden.3 Blank stützt Urbans These mit neuen Argumenten: Indem Isokrates sich 4,102 zur Verteidigung des athenischen Vorgehens gegen Städte wie Melos und Skione auf ein ähnliches Verhalten anderer Führungsmächte berufe, tue er genau das, was er im Busiris (11,45) als untaugliches Mittel der Verteidigung kritisiert habe. Dies solle der Leser bemerken und im scheinbaren Lob Athens den eigentlich von Isokrates intendierten Tadel erkennen. Dass das Argument in 4,102 letztlich auf dem Prinzip beruht, die eigenen Fehler mit vergleichbaren Fehlern anderer zu entschuldigen, ist zwar richtig, doch wird dies von Isokrates eher verschleiert als, wie es bei einem für das richtige Textverständnis so entscheidenden Signal zu erwarten wäre, betont. Die Hauptaussage ist nämlich nicht ‚Andere waren noch schlimmer als wir‘, sondern ‚Die Erfahrung zeigt, dass man in der gegebenen Situation nicht anders handeln kann‘. Der Bezug zur Busiris -Stelle drängt sich somit nicht unmittelbar auf.
Blanks hier an wenigen Beispielen illustrierter eigenwilliger Umgang mit dem Isokratestext durchzieht die gesamte Arbeit und lässt erhebliche Zweifel an der Theorie ‚didaktischer Täuschung‘ entstehen. Hinzu kommen grundsätzliche Fragen, mit denen sich Blank zum Teil auseinandersetzt, deren Beantwortung aber diskutabel bleibt: Ist die Vorstellung von einem ‚Gesamtwerk‘, das dem Publikum vollständig bekannt bzw. zugänglich war, für das 4. Jh. nicht anachronistisch? Ist es zulässig, die in Helena und Busiris im Rahmen der Polemik gegen direkte Konkurrenten formulierten ‚Regeln‘ zum allgemein verbindlichen Maßstab zu erheben? Kann man erwarten, dass die Leser, auch wenn sie der Bildungselite angehören, die z.T. äußerst subtilen intertextuellen Bezüge in jedem Fall herstellen und die ‚Regelverstöße‘ erkennen? Ist es denkbar, dass ausgerechnet Isokrates, den es stark bekümmerte, fehlinterpretiert zu werden (vgl. 12,17–23), es zu einem Kernelement seiner Lehrmethode machte, das Gegenteil von dem zu sagen, was er eigentlich meinte – und das, obwohl er mit der Verbreitung seiner Schriften auch unter ‚Uneingeweihten‘ rechnen musste?
Dass Blank dem Text durchaus neue Aspekte abgewinnen kann, ohne ihn überzustrapazieren, zeigt er z.B. in der Analyse von 4,83–99, wo er überzeugend herausarbeitet, mit welch subtilen Mitteln Isokrates die Gegenüberstellung der Leistungen Athens und Spartas in den Perserkriegen zugunsten seiner Heimatstadt zu gestalten weiß (201–212). Eine positive Hervorhebung verdient ferner, zumal durch die selektive Kritik ein falscher Eindruck entstanden sein könnte, Blanks Beherrschung des Griechischen: Seine Übersetzungen der im Original zitierten Textpassagen sind bis auf wenige Ausnahmen korrekt und stilistisch ansprechend, seine textkritischen Entscheidungen wohlbegründet. Die Wiedergabe griechischer Begriffe in Umschrift macht die Arbeit einem breiteren Leserkreis zugänglich. Druckfehler, für die besonders die Originalzitate anfällig sind, finden sich erfreulich selten.
Insgesamt ist Blanks umfangreiche Dissertation eine sehr fordernde Lektüre. Stellenweise mutet es an, als wolle er seine Leser im kritischen Umgang mit wissenschaftlicher Literatur schulen, indem er die Lehrmethode, die er Isokrates unterstellt, selbst anwendet. So ist es dringend angeraten, Blanks Interpretationen immer wieder am Wortlaut und am Sinnzusammenhang der zugrunde liegenden isokratischen Schriften zu überprüfen. Die Beschäftigung mit Blanks Thesen im Modus der Widerspruchsbereitschaft wird eine erkenntnisfördernde Wirkung nicht verfehlen.
Notes
1. T.L. Papillon, Isocrates’ Techne and Rhetorical Pedagogy, RSQ 25 (1995) 149–163; J. Walker, The Genuine Teachers of This Art. Rhetorical Education in Antiquity, Columbia 2011.
2. In Blanks Übersetzung (168) sind zwei Versehen zu korrigieren: τὸν αὐτὸν τρόπον ἐκείνοις λέγοντα heißt ‚auf dieselbe Weise wie jene sprechend‘, nicht ‚zu jenen‘; περὶ τῶν αὐτῶν heißt ‚über dieselben Dinge‘, nicht ‚über sie‘.
3. R. Urban, Der Königsfrieden von 387/86 v. Chr. Vorgeschichte, Zustandekommen, Ergebnis und politische Umsetzung, Historia Einzelschriften 68, Stuttgart 1991.