Die vorliegende Sammlung von 23 Aufsätzen in französischer, italienischer und englischer Sprache ist hervorgegangen aus einem internationalen und interdisziplinären Kolloquium vom September 2009 an der Sorbonne. In ihrer thematischen und methodischen Vielfalt will sie einen Einblick geben in wichtige Aspekte der Theorie der Tragödie, wie sie sich ausgehend von und in Auseinandersetzung mit der Poetik des Aristoteles von der Antike bis in die Moderne entwickelt hat; zugleich soll die Praxis der Tragödie, sofern auch sie vom theoretischen Diskurs geprägt ist und ihrerseits auf ihn zurückwirkt, zur Sprache kommen.
Der Schwerpunkt liegt dabei eindeutig im Bereich der Literaturtheorie; hier nehmen wiederum die Beiträge zur Aristotelischen Poetik den größten Raum ein (S. 9-187). Sie decken die zentralen Problemfelder der Schrift ab; das am meisten diskutierte aller Probleme, die Katharsis, erfährt zwar keine eigene Behandlung, kommt aber in den übrigen Beiträgen, besonders in denen zur Rezeption seit der Renaissance, immer wieder zur Sprache.
Den Auftakt bilden Stephen Halliwells Ausführungen zur Einheit der Dichtung. Die Einheit ist (nicht nur) für Aristoteles ein wesentliches Kriterium für die Qualität eines poetischen Werkes. Dem realen Leben fehlt eine solche Einheit – und doch soll die Dichtung eine mimêsis des Lebens sein. Dies scheint auf den ersten Blick paradox. Zwar findet sich auch in der antiken Ethik und bei Aristoteles selbst der Gedanke einer „Vereinheitlichung“ des eigenen gelebten Lebens, sofern man sein Handeln nach bestimmten, nicht immer wieder wechselnden Zielen ausrichtet. Doch führt dies eher zu einer einheitlichen Persönlichkeitsstruktur, die nicht ohne weiteres mit einer narrativen Einheit gleichgesetzt werden kann. Halliwell entschärft das scheinbare Paradox mit dem Hinweis darauf, dass „Leben“ im fraglichen Kontext der Poetik „a synthesis of factors and possibilities which shape the major contours of human flourishing and adversity“ (S.34) bezeichnet. Aus dieser Perspektive ergibt sich bereits ein „Filter“, insofern genau die Faktoren des Lebens und Handelns in der Dichtung berücksichtigt werden, die zum Gelingen bzw. Scheitern eines Individuums führen. Diese Konzentration verleiht der Dichtung zugleich ein besonderes kognitives und emotionales Potential.
Mit einem weiteren wesentlichen und nach wie vor höchst umstrittenen Punkt in der aristotelischen Theorie, dem der tragödienspezifischen Lust, setzt sich Pierre Destrée auseinander. Er wendet sich gegen die in der Forschung häufig vertretene Ansicht, dass diese Lust kognitiver Art („plaisir intellectuel“) sei. In seiner Interpretation der Passagen im vierten und 14. Kapitel der Poetik, auf die sich die Vertreter dieser Ansicht berufen, sucht Destrée zu zeigen, dass die Freude am Lernen, von der im vierten Kapitel die Rede ist, beschränkt bleibt auf das Wiedererkennen. Man dürfe aus diesem Kapitel keine allgemeine Theorie der Freude an künstlerischer mimêsis herauslesen. Der kognitive Akt des (Wieder)Erkennens ist lediglich eine Voraussetzung – die eigentliche Lust, auf die die Tragödie zielt, ist jedoch eine emotionale. Destrée korrigiert zu Recht eine einseitig kognitive Deutung der tragischen Lust. Dennoch sollte die enge Verbindung zwischen Emotion und Kognition, die der Gefühlstheorie des Aristoteles zugrundeliegt und nach der gerade die Qualität und Intensität der Emotion von einem kognitiven Akt abhängt, dabei nicht aus dem Blick geraten.
In einer dritten Studie, die man eher am Anfang der Sammlung erwartet hätte, widmet sich Lidia Palumbo dem Mimesis-Konzept Platons. Grundlegend ist dabei die These, dass bei Platon der Bereich des „Fiktiven“ nicht getrennt zu denken ist von dem des „Realen“, sondern beide sich wechselseitig beeinflussen. „Fiktionen“ können sehr reale psychische Folgen haben, und auf diesem Grundsatz basiert letztlich auch die platonische Erziehung: So lässt Platon bekanntlich in den Nomoi den Athener sein Gesetzeswerk als „wahrste Tragödie“ bezeichnen, also als „Fiktion“, die aber dennoch eminent pädagogischen Charakter hat. Bilder, die aus dem gelebten Leben stammen, haben keinen anderen psychischen Status als solche, die durch Fiktionen entstehen. Im Vergleich mit dem Spiegel aus dem 10. Buch der Politeia wird freilich auch die Problematik von mimêmata deutlich: sie bieten grundsätzlich nur eine begrenzte, oberflächliche Perspektive. Insofern ist nachvollziehbar, dass den Begriffen pseudos und mimêsis immer auch eine negative Konnotation inhärent ist. Dies trifft nach Platon gerade auf die mimêmata der real existierenden Tragödien zu – es ist kein Zufall, dass die Beschreibung der wahren Philosophen im 5. Buch der Politeia in Abgrenzung zu den philotheamones erfolgt, die in den schönen Bildern der Dichter bereits die Wahrheit zu haben meinen. Hier böten sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten zu Aristoteles, auf die man im Kontext des gesamten Bandes gerne hingewiesen worden wäre. Dem Wert der Ausführungen zu Platon tut dies freilich keinen Abbruch.
Der Frage „Pourquoi la tragédie“ geht Claudio William Veloso nach. Dass Aristoteles sich so intensiv um die Dichtung ( mousikê) kümmert, während andere für die Gesellschaft wichtige Bereiche wie Sport ( gymnastikê oder hippikê), die ebenfalls agonal institutionalisiert sind und, sofern sie kriegerische Tätigkeiten abbilden, mimetischen Charakter haben, bei ihm wenig Beachtung finden, führt er darauf zurück, dass nur bei musischen Agonen der kognitive Aspekt eine Rolle spielt: Sie bieten dem Publikum Gelegenheit zu einer (wenigstens minimalen) Betätigung des theoretischen Vermögens.
Mary-Anne Zagdoun konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Stellen der Poetik, an denen Aristoteles Beispiele aus der Malerei anführt und verortet sie einerseits in der Philosophie des Aristoteles und andererseits im zeitgenössischen Kontext. Françoise Frazier beschäftigt sich mit dem Begriff des mythos als strukturierendes Element in der Poetik. In einer Analyse der Kapitel 7 bis 17 zeigt sie, wie die sukzessive Entfaltung des Begriffs den Gedankengang dieser Passage formt. Im häufigen Rekurs auf Homer als Vorbild sieht Sylvie Perceau eine Strategie des Aristoteles, um den Bereich der szenischen Darstellung ( opsis), der ihm ohnehin suspekt sei, weiter zurückzudrängen, da ja auch das Epos ohne szenische Aufführung auskommt – eine These, die Aristoteles´ Verhältnis zur Inszenierung kaum gerecht wird, wie auch aus anderen Beiträgen dieses Bandes hervorgeht.
Die Einheit der Zeit spielt in der Poetik nur eine untergeordnete Rolle. Immerhin gibt Aristoteles für die Tragödie eine Länge von „einem Umlauf der Sonne“ an, und in der Tat entspricht dies auch der Praxis der meisten griechischen Tragödien. Edith Hall vermutet, dass für diesen rapiden Umschwung vom Glück ins Unglück nicht nur ästhetische oder bühnentechnische, sondern auch soziale Faktoren verantwortlich sind. Im Hoplitenkampf, vor Gericht oder in der Volksversammlung konnten die Athener ähnlich rasche Peripetien erleben – bei letzterer wird auch die Rolle der euboulia deutlich, an der es tragischen Protagonisten nicht selten mangelt.
Im 18. Kapitel der Poetik nennt Aristoteles vier Arten von Tragödien. Der Text ist an einer Stelle korrupt, so dass unklar bleibt, welches der vierte Typus ist. Maria Pia Pattoni argumentiert aus paläographischen und inhaltlichen Gründen für Bywaters Konjektur opsis.
Auf den umfangreichen Teil, der die Poetik zum Gegenstand hat, folgen drei Aufsätze, die vor allem auf die Praxis der Tragödie ausgerichtet sind. Giovanni Cerri untersucht die Rolle der Gestik in der klassischen griechischen Tragödie und zeigt, dass die Praxis die von Aristoteles geforderte Unterordnung der opsis unter die Sprache bestätigt. Lorenzo Miletti beschäftigt sich mit der antiken Beurteilung der von Aristoteles als unpassend kritisierten Rede der Melanippe in der verlorenen Euripideischen Melanippe sapiens. Giuseppe Zanetto fragt mit Blick auf das Heraklesbild in der vorhergehenden Literatur nach der Rolle des Herakles in der Euripideischen Alkestis.
Mit Ausnahme des letzten Aufsatzes ist der Rest der Sammlung der Aristotelesrezeption von der Antike bis zur Moderne gewidmet. Zeugnisse über die antike Rezeption der Poetik sind rar. Dass die aristotelische Theorie jedoch Gegenstand der literaturtheoretischen Debatte war, geht aus einigen in Herculaneum gefundenen Papyri aus der Bibliothek des Epikureers Philodem von Gadara hervor. Gioia Maria Rispoli mustert die einschlägigen Fragmente durch, und auch wenn der schlechte Zustand der Papyri kaum Rückschlüsse auf die Argumentation im einzelnen zulässt, wird in Rispolis sorgfältigen Analysen deutlich, in welchem Umfang peripatetische Themen diskutiert wurden.
Die byzantinische Epoche kennt keine tragische bzw. überhaupt dramatische Dichtung im Sinn der klassischen Antike. Antike Tragödien waren allenfalls Gegenstand der höheren Bildung und gelehrten Diskussion. In Michael Psellos’ Bericht vom Schicksal der Paphlagonier in den Büchern III bis V seiner Chronographia, der an manchen Punkten strukturelle Parallelen zu antiken Tragödien aufweist, sieht Ugo Criscuolo jedoch immerhin einen „spirito del tragico“ (S. 273) wirksam.
Obwohl die Aristotelische Poetik seit dem 13. Jh. zumindest in lateinischer Übersetzung zugänglich war, scheint sie in den lateinischen Tragödien des 14. und 15. Jh. kaum eine Spur hinterlassen zu haben. So orientieren sich Mussato und Loschi in ihren Dichtungen in erster Linie an Seneca. In den theoretischen Abhandlungen wird die Spurensuche dadurch erschwert, dass sich verschiedene Traditionen (antike Grammatik, Rhetorik und auch die Ars poetica des Horaz) zu einem schwer aufzulösenden Konglomerat vermischen. Jean-Frédéric Chevalier versucht, in der Progne des Gregorio Correr (1426/27) aufgrund ihrer spezifischen Handlungsführung gewisse aristotelische Einflüsse dingfest zu machen. Correr war Schüler des Vittorino da Feltre, in dessen Besitz sich nachweislich ein griechisches Manuskript der Poetik befand. Die Indizien sind allerdings eher vage.
Die erwähnte Vermischung unterschiedlicher Traditionen bleibt auch kennzeichnend für die weitere Rezeption, wie Virginie Leroux in ihrem Beitrag zeigt. In den neulateinischen Poetiken des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jh. wird die Poetik des Aristoteles nicht oder nicht explizit zur Kenntnis genommen – in Minturnos De poeta und Scaligers Poetices libri septem spielt sie dann eine prominente Rolle; die beiden Autoren gehen jedoch höchst unterschiedlich an sie heran und passen aristotelische Konzepte ihren eigenen Bedürfnissen an. Speziell für Minturno weist dies Mario Lamagna überzeugend nach. Er bezieht dabei auch Minturnos L’Arte poetica ein, wobei deutlich wird, dass gerade in diese Schrift auch die zeitgenössische Debatte einfließt.
Die zunehmende Entfernung von aristotelischen Positionen, die nicht zuletzt begründet ist durch die zeitgenössische Praxis wie die Entstehung neuer Gattungen und aktuelle Erfordernisse der Bühnen, zeichnet Florence Malhomme nach. Insbesondere die beiden Elemente, die nach Aristoteles nicht zur Dichtkunst im eigentlichen Sinne zählen, melopoiia und opsis, rücken zunehmend in den Fokus.
Die nächste Sektion befasst sich mit dem „Grand Siècle“. Daniel Dauvois vergleicht d’Aubignacs Pratique du theâtre mit Pierre Nicoles Traité de la comédie. Gemeinsam ist beiden Schriften ihre Praxisorientierung sowie ihre Bezugnahme auf Aristoteles. Während jedoch bei d’Aubignac die strikte Trennung zwischen poetischer Darstellung und Realität dazu führt, dass der Rezipient in seinem Urteil über die Dichtung „frei“ bleibt, geht Nicole davon aus, dass die auf der Bühne dargestellten Fehler und Leidenschaften in den Zuschauern unmittelbar und unmerklich die Freude an eben diesen schädlichen Dingen weckt. Mit Corneille als „Leser des Aristoteles“ beschäftigt sich Catherine Fricheau. Im Durchgang durch die Discours sur le poème dramatique zeigt sie, wie Corneille als ein Leser, der auf eine jahrzehntelange Praxis zurückblicken kann, die Poetik systematisch an dieser Erfahrung misst, sie von ihr ausgehend deutet und ihr so ein neues Profil verleiht.
Nach einer knappen und im Vergleich zu anderen Beiträgen eher abstrakten Einlassung von Pierre Caye zur Charakteristik der klassischen französischen Tragödie beschließt Nicolas Railland mit einer Studie zu Lessings Auseinandersetzung mit Corneille den Teil zur Literaturtheorie der Neuzeit. Lessing attackiert Corneille als den prominenten Vertreter des französischen Theaters, das nach seiner Auffassung das spezifische Ziel der Tragödie vollkommen verfehlt. Lessing rehabilitiert die Katharsis als dieses spezifische Ziel, indem er sie zugleich neu interpretiert. Anders als etwa Dacier oder Corneille, die den kathartischen Effekt vor allem darin sehen, dass man sich selbst vor den Leidenschaften hütet, die zum Fall der tragischen Helden geführt haben, insistiert Lessing darauf, dass die Katharsis sich nur auf die beiden tragischen Affekte Furcht und Mitleid bezieht, deren reziprokes Verhältnis er unter Verweis auf die Aristotelische Rhetorik betont. Indem sie diese Affekte erregt, verwandelt sie sie in „tugendhafte Fertigkeiten“. Lessing kommt damit zurück auf einen moralischen Nutzen der Tragödie – jedoch nicht im Sinn einer Unterordnung der Dichtung unter die Ethik, sondern im Sinne einer „éducation sentimentale“ (S. 448).
Im letzten Beitrag handelt Paola Volpe Cacciatore von der Phaedra der russischen Dichterin Marina Cvetaeva (1892-1941). Sie zeichnet deren bewegtes Leben nach, um dann vor der Folie des Euripideischen Hippolytos die Handlung der Tragödie, in der Cvetaeva nicht zuletzt ihre eigenen Erfahrungen verarbeitet, zu verfolgen.
Wie bei einem solchen interdisziplinären Projekt nicht anders zu erwarten, fallen die in dem Band versammelten Studien nach Umfang (vier bis 37 Seiten), Methodik und Ausrichtung (von eher speziellen Fragen bis hin zu übergreifenden Ansätzen) sehr unterschiedlich aus, und einzelne Beiträge stehen etwas erratisch da – trotz des informativen Vorworts von Mary-Anne Zagdoun und Florence Malhomme, das die Fäden gleichsam zusammenführt. Auch kann man sich, gerade angesichts des etwas vollmundigen Untertitels „La Poétique d’Aristote et le genre tragique, de l’Antiquité à l’époque contemporaine“ wundern, dass die Moderne in diesem Band bei Lessing endet und der einzige Beitrag zur Gegenwart einer eher unbekannten russischen Dichterin gewidmet ist.
Dies schmälert freilich nicht die Verdienste dieses Unterfangens. Mit seiner Fülle von stimulierenden Beiträgen aus unterschiedlichen Fächern bestätigt der Band einmal mehr, wie lebendig und vielfältig die Auseinandersetzung mit dem knappen Traktat des Stagiriten immer noch ist.