BMCR 2014.08.04

Lehrreiche Trugbilder: Senecas Tragödien und die Rhetorik des Sehens. Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften; 142

, Lehrreiche Trugbilder: Senecas Tragödien und die Rhetorik des Sehens. Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften; 142. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2013. 310. ISBN 9783825362492. €45.00.

Für die Deutung der Tragödien Senecas als einer eigenständigen, mit überlegter Kunst gestalteten Spielart des antiken Dramas bietet Kirichenkos Buch (eine überarbeitete Version seiner Trierer Habilitationsschrift von 2011) eine willkommene Ergänzung. Der Verfasser nimmt die interpretatorische Aufgabe ernst, die auffälligen “rhetorischen” Züge von Senecas Theater für eine Deutung fruchtbar zu machen, die in den vielen verstörenden Bildern mehr erblickt als eben “bloße Rhetorik”, als eine pure Lust am maius solito, wie sie angeblich im Trend eines “barocken” Zeitalters der römischen Literatur gelegen habe. Vielmehr arbeitet Kirichenko überzeugend heraus, daß es sich bei Senecas unverkennbarer Absicht, die Mytheninterpretationen seiner tragischen Vorgänger und womöglich gar den Mythos selbst an emotionaler Aufrüttelung und Verunsicherung zu überbieten, um ein sowohl künstlerisch als auch denkerisch bewußt angestrebtes Ziel handelt. So läßt sich zudem ein weiterer Baustein zur Beantwortung der vieldiskutierten Frage hinzufügen, wie eigentlich die übersteigerte Emotionalität vieler Situationen in Senecas Dramen mit dem Anspruch des stoischen Philosophen zusammenstimme, die Affekte bekämpfen zu wollen (s. einleitend dazu S. 6-9). Kirichenko gelingt es auch in diesem Punkt, ausgetretene Argumentationspfade zu vermeiden und die Stücke des Stoikers weder als implizierten Kontrapunkt zu seinem Denken in den Prosaschriften noch als stoische Moralpredigten (miß-)zuverstehen, sondern ihnen zu ihrem Recht als in erster Linie literarischen Werken zu verhelfen, die ― wie jedes anspruchsvolle Kunstwerk― Substantielles über die menschliche Natur und ihre Einbindung in Notwendigkeiten der äußeren und inneren Welt aussagen.

Erfreulicherweise läßt sich Kirichenko dabei ebenfalls nicht auf die bis heute kontrovers behandelte Streitfrage festlegen, ob Senecas Tragödien nun tatsächlich zur Aufführung bestimmte Theaterstücke gewesen seien. Er handelt dies als nicht eigentlich zu seinem Thema gehörig nur kurz ab (s. v.a. seine Ausführungen S. 5 f.), mit Recht, denn auch nach Auffassung des Rezensenten1 berührt die Antwort (wenn sie denn überhaupt abschließend erteilt werden kann) durchaus nicht das Wesen des senecanischen Dramas als eines Kunstwerks, das in einer Intensität mit und durch die Sprache wirkt, die uns auch ohne Bühnenrealisierung die in der Sprache entstehende Welt mit ihren Konflikten genügend deutlich vor Augen führen kann. Diese und die oben skizzierte “Dichotomie” zwischen Bühnendramatik und vergegenwärtigender Rhetorik, die sich weit besser mit den Begriffen der Ekphrasis und ἐνάργεια fassen läßt, 2 zwischen Literatur und Philosophie erklärt Kirichenko explizit überwinden zu wollen (S. 8 f.), und in seinen detaillierten Interpretationen einzelner exemplarisch ausgewählter Szenen gelingt ihm dies durchaus. Seine Auswahlkriterien erläutert er S. 9, wobei der Ausschluß der Phoenissen mit ihren auffallenden Besonderheiten durchaus nachvollziehbar erscheint.

Nach einer „Einleitung“ (S. 1-14) gliedert sich das Buch in zwei Teile, von denen der erste („Ekphrasis und Metatheater“) kapitelweise die einzelnen Tragödien behandelt (Hercules Furens: S. 17-33, Phaedra: S. 35-59, Agamemnon: S. 61-77, Troades: S. 79-100, Medea: S. 101-118, Oedipus: S. 119-146 und Thyest: S. 147-165), der zweite hingegen („Schock und Erkenntnis“) systematisch bestimmte für Senecas Tragödienschaffen relevante Themenbereiche erörtert („Das Staunen in der visuellen Ästhetik der Kaiserzeit“, S. 169-205, „Philosophie und Theater in Senecas Œuvre“, S. 207-248, und „Der Chor und das tragische Spektakel“, S. 249-279). Eine ausführliche Bibliographie (S. 281-293) und ein „Index locorum“ (S. 295-304) bilden den Abschluß.

Kirichenko bedient sich bei der Analyse dessen, was schon oft als das charakteristische Element des maius solito herausgestellt wurde,3 eines psychologischen Ansatzes: Der “Rezipient” (darunter faßt Kirichenko, die Streitfrage der Bühnenaufführbarkeit bewußt vermeidend, “den Leser bzw. den Zuhörer”, S. 11) werde durch die vom Dichter eingesetzten sprachlichen Mittel einem “Schock” ausgesetzt, der vornehmlich am Schluß des jeweiligen Stücks eintrete und dabei in seiner emotionalen Intensität alles überbiete, was dem Rezipienten vorher schon (im Rahmen der ohnehin frappierenden Mythen) zugemutet worden sei (S. 10 f., das Motiv der superatio gegenüber der vorgegebenen Legende findet sich, wie Kirichenko zeigt, vor allem in Phaedras Selbsterkenntnis ihres Verhängnisses, das sie im Vergleich zu ihren übrigen Familienangehörigen als noch schrecklicher empfindet, S. 45-47). So wird etwa S. 25 die “außerordentliche Penetranz”, mit welcher der Dichter HF 664-667 den Eingang zur Unterwelt beschreibt, in ihrer Wirkung ansprechend als “persönliche Katabasis” des Rezipienten gedeutet; er wird in der mit starken sprachlichen Mitteln bewirkten Vergegenwärtigung der beschriebenen Szenerie gleichsam mitgenommen auf die schaurige Unterweltsfahrt von Hercules und Theseus, und in Cerberus’ Reaktionen auf die ihm völlig entgegenstehende Oberwelt kündigt der Dichter bereits das “Infernalische” an, das seine volle Wirkung in Hercules’ Wahnsinn entfalten wird (S. 27).

Im Einklang mit solchen und ähnlichen Beobachtungen zur Rolle der ἐνάργεια gelingt es Kirichenko, auch einer immer als besonders anstößig, ja geradezu als störender Fremdkörper empfundenen “Greuelszene” wie dem Schluß der Phaedra eine überzeugende Deutung zu geben und damit über bisherige Aporien der Forschung hinauszugelangen. 4 Kirichenko arbeitet heraus, daß die quälend detailreiche Beschreibung, wie Theseus die Leichenteile seines Sohnes zusammensetzt, ebenso wie die gleichermaßen grauenerregende Schilderung von der Zerstückelung des Pentheus bei Euripides, Bacch. 1216 ff. “eine der anschaulichsten Darstellungen der Transformation eines visuell verstörenden Anblicks in eine moralisch relevante Erkenntnis” bietet (S. 41). Phaedra verwandelt sich beim Anblick des zerstückelten Körpers gleichsam in Agaue; wie die griechische Heroine gelangt auch sie durch dieses extrem gesteigerte πάθει μάθος (dazu S. 246 f. mit Anm. 96) zur Erkenntnis ihrer Mitschuld am Tod dessen, den sie doch eigentlich liebt, ebenso wie Theseus, der gleichfalls schuldig an Hippolytus’ Untergang ist (S. 41-44). Die mit allen rhetorischen Mitteln ins kaum Erträgliche gesteigerte Sezierung des Hippolytus stellt sich als Visualisierung des Auseinanderbrechens sämtlicher Lebensentwürfe der Hauptpersonen heraus (S. 58).

Eine frappierende “Transformation des physischen Raumes”, die für die räumliche Vorstellung des Stücks große Schwierigkeiten bereitet, analysiert Kirichenko S. 94-96 für Tro. 1071 ff. Indem die Ermordung des Astyanax im wahrsten Wortsinne “inszeniert” wird, in einem makabren Spektakel, bei dem sich mancher griechische Krieger wie ein Zuschauer ohne Respekt und Manieren aufführt (V. 1086 f. heißt es explizit: aliquis — nefas! — tumulo ferus spectator Hectoreo sedet), findet in der Tat eine für das gesamte Stück entscheidende Umdeutung statt: Aus den Trojanern, bislang selbst Zuschauer beim Kampf um ihre Stadt, werden Akteure in einem Schauspiel, das ihnen endgültig die Würde raubt und das Drama nicht einfach in einer aristotelische Katharsis münden, sondern in Sinn- und Hoffnungslosigkeit ausklingen läßt (s. S. 98 f.). Kirichenko gelingt es, die der materiell schwierig vorzustellenden Szene innewohnende Symbolik und Semantik deutlich zu machen, mit deren Hilfe der Dichter die zu imaginierende Bühnen-“Realität” offenkundig psychologisch umdeutet.

Zu einer vergleichbaren Passivität ist auch Medea verdammt, als sie Med. 56 ff. das erste Chorlied mitanhören muß (S. 115). Wenn sie sich später (V. 894) auf diese demütigende Szene bezieht und “eine neuartige / unerhörte Hochzeit” schaut (ein ominöser Verweis auf die Gewalttaten, mit denen sie sich am Ende rächt), dann ist hier zum einen wiederum das Motiv der superatio zu erkennen, zum anderen wird auch an dieser Stelle deutlich, wie dem Dichter ein inszenatorisches Problem weniger wichtig ist als die nun schon mehrfach zu konstatierende psychologische Umdeutung der Visualisierung. Bei ihr führt Medea am Schluß geradezu Regie (wie auch Atreus im Thyestes, S. 159) und erreicht, daß der Zuschauer das Grauen ebenso empfindet wie der nunmehr zur Ohnmacht verurteilte Iason.

Eine ähnliche Umdeutung, diesmal auf der Ebene der Raumsemantik, findet sich besonders eindrücklich in der Beschreibung des Palastgartens in Thy. 641 ff. Kirichenko macht die überzeugende Beobachtung, daß sich in diesem Falle der “visuelle Schock” dadurch vollzieht, daß das Vertraute, zur alltäglichen Welterfahrung der Personen des Stücks Gehörende (der königliche Palast) plötzlich zu einer Stätte des Bösen umgedeutet wird: “Gerade durch die Betonung dieser scheinbar schon immer dagewesenen Nähe wirkt diese Version des Totenreiches viel verstörender als alle anderen, denen wir bei Seneca begegnen” (S. 153).

Im anschließenden systematischen Teil (“Schock und Erkenntnis”, S. 169 ff.) schlägt Kirichenko überzeugend eine Brücke zu Elementen der zeitgenössischen Kultur, die mit dieser psychologischen Wirkung im Einklang stehen, vgl. insbesondere die treffenden Bemerkungen S. 185 über die “fast cineastisch anmutende” visuelle Ästhetik der Mythenimitation bei Schauspielen der Kaiserzeit, S. 190 über das “Verschwimmen der Grenze zwischen dem Mythos und (einer illusionistischen Darstellung) der Realität”, die sich in der Tat in der bildenden Kunst der neronischen Zeit beobachten läßt, und die abschließenden Feststellungen S. 205. Vielleicht hätte Kirichenko noch stärker berücksichtigen sollen, daß Seneca selbst dieser Ästhetik äußerst kritisch gegenüberstand, vgl. ep. 88,22, wo er dergleichen zu den ludicrae artes zählt.

Einleuchtend deutet Kirichenko schließlich die problematische Rolle des Chores (ein guter Überblick über die in der Forschung erörterten Schwierigkeiten S. 250 mit Anm. 8). Besondere Aufmerksamkeit verdient seine Feststellung, der Chor changiere stets zwischen seiner fiktiven Bühnenrolle und einer distanzierten Haltung als Betrachter und philosophischer Deuter, und gerade diese Spannung zwischen seinen beiden Erscheinungsformen, seine letztliche Ungreifbarkeit, helfe dabei mit, die Bühnenhandlung im Sinne des bereits an den szenischen Beispielen Erörterten als “Trugbild” (aber eben als ein durchaus “lehrreiches Trugbild”) aufzufassen. Kirichenko bietet damit eine bedenkenswerte mögliche Erklärung für die vielen Fälle, in denen bislang weder Identität noch Aussageabsicht der Chöre sicher ermittelt werden konnten oder sich sogar eklatante Widersprüche auftun; ein besonders frappierendes Beispiel hierfür sind die Chorlieder der Troades, dazu S. 253-255).

Kirichenko bedient sich einer flüssigen, bei aller Vertiefung in die Theorie doch im ganzen klaren Sprache. Bisweilen schleichen sich gewisse stilistische Unebenheiten ein, die zum Teil unnötigen Anleihen bei Jugendslang und unterhaltungsorientierter Werbesprache geschuldet sind; so enthält die Überschrift zu S. 101 die Formulierung “der blanke Horror”, S. 154 ist sinnwidrig von einem “rasanten Kontrast”, S. 165 im Stil der Fernsehwerbung vom “ultimativen Kick” die Rede; S. 193 liegt Trimalchio “voll im Trend”, allerdings wird die Wendung durch Anführungszeichen ein wenig ironisiert, was bei der drastisch umgangssprachlichen “Lizenz zum Saufen” (S. 172) nicht der Fall ist. Druckversehen wie S. 173 “im Zuge seines Sieges über infernalisch anmutenden Monstren” finden sich selten. An wichtiger Forschungsliteratur vermißt man die Studie von Clemens Zintzen, Analytisches Hypomnema zu Senecas Phaedra (Meisenheim 1960); sie hätte mindestens S. 35, Anm. 1 genannt werden sollen.

Aber diese kleineren Ausstellungen wiegen gewiß nicht schwer in Anbetracht der Tatsache, daß Kirichenko mit seinem Buch einen wertvollen Beitrag leistet, den speziellen Charakter des aus dem Wort und der sprachlichen Gestaltung lebenden senecanischen Dramas besser zu verstehen.

Notes

1. Christoph Kugelmeier, Die innere Vergegenwärtigung des Bühnenspiels in Senecas Tragödien (München 2007) 234.

2. Gute Bemerkungen hierzu S. 10 f., vgl. ergänzend die Darstellung bei Kugelmeier (wie Anm. 1) 233-239.

3. Besonders umfassend in dem grundlegenden Aufsatz von Bernd Seidensticker, „Maius solito. Senecas Thyestes und die tragoedia rhetorica“, Antike und Abendland 31 (1985) 116-136.

4. S. zuletzt Kugelmeier (wie Anm. 1) 25 f.