Φιλόμυθοι – so könnte man die alten Griechen ohne Zögern nennen. Vermutlich hat noch nie jemand ernsthaft den Versuch unternommen, eine annähernd genaue Bestimmung der Anzahl griechisch-römischer Mythen vorzunehmen. Dies wäre auch mit etlichen Schwierigkeiten definitorischer wie technischer Art verbunden. Was ist unter einem „Mythos“ zu verstehen? Ab welchem Umfang bzw. nach welchen Kriterien ist eine Episode aus einem Stoffkreis wie z.B. den Abenteuern des Theseus als einzelner Mythos zu zählen? Wie ist die Fülle der über alle Gattungen verstreuten Belege zu bewältigen? Allein die griechisch-römischen Metamorphosen-Mythen belaufen sich insgesamt auf etwas über 370.1 Auf wie viele Mythen insgesamt dies schließen läßt, kann man nur erahnen. Das Ausführliche Lexikon der griechischen und römischen Mythologie von W.H. Roscher umfaßt ca. 14.030 Spalten, umgerechnet rund 7.015 Seiten. Angenommen, es würde im Durchschnitt auf 4 Seiten nur ein einziger mythischer Stoff behandelt, dann wäre man mit dieser sehr groben Schätzung bei einem Bestand von rund 1.750 Mythen. Zum Vergleich: die Märchen-Sammlung der Brüder Grimm ist im Verlauf der verschiedenen Auflagen auf einen Bestand von 210 Märchen gewachsen.
In dem vorgelegten Sourcebook von Carolina López-Ruiz sind aus dem Bereich der griechisch-römischen Mythologie 62 Texte bzw. Textausschnitte abgedruckt; wieviele mythische Stoffe damit abgedeckt sind, ist eine andere Frage, da es z.B. im Falle der Kosmogonien zu Stoff-Überschneidungen kommt, während die Texte aus (Ps.-)Apollodors Bibliotheke zu Perseus, Herakles und Theseus unter der Überschrift eines Protagonisten jeweils mehrere Stoffe auf gedrängtem Raum wiedergeben.
Der Umstand, daß auf den etwas über 600 und noch dazu eng bedruckten Seiten nicht mehr mythische Stoffe zu finden sind, beruht u.a. auf mehreren Vorentscheidungen von López-Ruiz: „My guiding principle was to represent major themes and myths … Another goal was to include at least some entire books or self-contained sections in them“ (xviii). Die Darbietung größerer Texteinheiten hängt eng mit der grundlegenden Entscheidung zusammen, nicht eine enzyklopädische Übersicht über den Stoffbestand zu geben, sondern den Lesern einen Eindruck speziell von der literarischen Gestaltung mythischer Stoffe zu verschaffen: „In other words, this anthology is conceived as a reader of ancient mythological literature and is not simply a myth sourcebook“ (xix). Nicht-literarische Quellen werden folglich nicht oder kaum herangezogen, antike Mythographen wie die Apollodor oder Hygin zugeschriebenen Handbücher nur selten, wohingegen z.B. allein 30 der Textbeispiele von den vier Autoren Homer (und Homerische Hymnen), Hesiod, Vergil und Ovid stammen. Unter dem Gesichtspunkt einer literarischen Textauswahl ist überraschend, daß von den drei großen attischen Tragikern Euripides nur in zwei kürzeren Auszügen zitiert wird (aus den Bacchae und aus der Medea) und Aischylos wie Sophokles überhaupt nicht zu Wort kommen.
Mit dem Ziel, in dem Buch „some of the most famous stories that have fueled the imaginations of generations … for millennia“ (xvii) zu versammeln, verträgt es sich außerdem nicht ganz, daß der gesamte thebanische Mythenkreis (Ödipus, Sieben gegen Theben etc.) wie auch Meleager und die „Kalydonische Eberjagd“ vollständig fehlen und die Mythen um die Fahrt der Argonauten nur gestreift werden; aus dem Troianischen Mythenkreis wird ausführlich nur die Aristie des Diomedes abgedruckt (Hom. Il. 5), und von den berühmten Abenteuern des Odysseus die Tötung Polyphems (Hom. Od. 9,105-557) und die Hadesfahrt (Hom. Od. 11), nicht aber andere wirkungsgeschichtlich so bedeutende Episoden wie der Aufenthalt bei Kirke oder die Vorüberfahrt an den Sirenen, um nur zwei zu nennen.
Die Begrenzung der dargebotenen Stoffe hängt noch mit etwas anderem zusammen, und zwar mit dem Ziel, „to place the study of classical mythology in a wider historical and geographical context“ (Klappentext). „The selection of texts in this volume is premised on scholarship that finds that Greek mythology developed within its contemporary Near Eastern context and borrowed extensively from it“ (xvii). Um die hergebrachte und einseitige Fixierung der Begriffe „classical“ und „ancient“ auf das kulturelle Erbe der Griechen und Römer aufzubrechen, stammen weitere 38 Textbeispiele, die etwa ein Drittel des Bandes ausmachen, aus enger und weiter benachbarten Kulturen und Sprachen (dem Hethitischen, Ugaritischen, Althebräischen, Akkadischen, Sumerischen und Ägyptischen). Wiederum stammt ein Großteil der Texte aus bekannteren literarischen Werken wie den biblischen Büchern Genesis und Exodus, den hethitischen Mythen um Illuyanka, Kumarbi und Telipinu, dem ugaritischen Baal-Zyklus, dem Gilgameš-Epos, Ištars Höllenfahrt, Atrahasis und Enuma eliš aus dem Akkadischen oder der Himmelskuh, der Erzählung des Schiffbrüchigen und den Lehren des Merikare aus dem Ägyptischen.
Die gesammelten Mythen aus verschiedenen Kulturen sind in 7 Teile gegliedert: 1. And so it Began: Cosmogonies and Thegonies, 2. Mankind Created, Mankind Destroyed, 3. Epic Struggles: Gods, Heroes, and Monsters, 4. Of Cities and Peoples, 5. Eros and the Labors of Love, 6. Death and the Afterlife Journey, 7. Plato’s Myths. Jedem Teil ist eine nicht mehr als 3-5 Seiten umfassende, sehr allgemein gehaltene Einführung vorangestellt, und zu jedem Textbeispiel gibt es eine knappe Einleitung mit den wichtigsten Informationen zu Text, Autor, historischen und kulturellen Hintergründen und Angabe der Quelle, aus der die Übersetzung stammt, „addressed to nonspecialists, especially undergraduate students and the general public“ (xix). In seltenen Fällen werden Anspielungen, Eigennamen oder fehlende Sachinformationen in den zitierten Texten durch kurze Fußnoten erläutert.
Das Buch wird abgerundet durch ein „Glossary of Technical Terms“ auf 4 Seiten, weiterführende bibliographische Hinweise zu den einzelnen Kapiteln auf 10 Seiten, einem 8 Seiten umfassenden Literaturverzeichnis,2 einem „Index of Places and Characters“ (17 Seiten), und einer 10-seitigen, die verschiedenen Kulturen in Spalten nebeneinander behandelnden „Timeline“. Abgedruckt sind auch mehrere moderne Landkarten, die vor allem den Zusammenhang der griechisch-römischen Welt mit den angrenzenden Kulturen im Osten in den Blick nehmen (vordere und hintere Klappe und xxxix-xliii), sowie zwei antike Weltkarten (xliv-xlv), einmal auf einer Tontafel aus Sippar mit akkadischer Beschriftung aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., und die Weltkarte des Hekataios (Mitte 6. Jahrhundert v. Chr.). Die wenigen (farbigen) ikonographischen Beispiele mit Bezügen auf mythische Stoffe in zwei außerhalb der Seitenzählung in der Mitte des Bandes stehenden und kurz eingeleiteten „Photo Essays“ können allenfalls als Appetithäppchen verstanden werden (24 Abbildungen auf 16 Seiten für einen Zeitraum von ca. 2200 v. Chr. bis in die Gegenwart und für alle behandelten Kulturen zusammengenommen). Genealogische Tafeln fehlen.
Dem Zielpublikum und der Eigenart einer Quellensammlung entsprechend verfolgt López-Ruiz keine eigenständigen theoretischen Ansätze, und die Reflexion grundlegender Begriffe und Problemfelder der Mythosforschung ist in der 6-seitigen „Introduction“ auf ein Minimum beschränkt. Die Existenz interkultureller Abhängigkeiten und Einflüsse wird vorausgesetzt, Art, Umfang und die Problematik der Nachweisbarkeit kaum näher beleuchtet. Für das komplexe Feld der Mytheninterpretation wird man auf weiterführende Literatur verwiesen. Was López-Ruiz unter „Mythos“ versteht, wird allenfalls umschrieben („stories about gods and heroes, stories valued and preserved as part of the tradition of particular communities, for whom these stories were inseparable from all central aspects of culture“, xvii). „Myth“ wird nicht von verwandten Begriffen wie „legend“ oder „tale“ abgegrenzt, so daß sich im Buch auch Texte finden, die gemeinhin nicht als Mythen bezeichnet werden ( Tale of the Shipwrecked Sailor; The Sargon Legend u.a.) oder zumindest eine klare Sonderstellung einnehmen wie etwa die platonischen Mythen, eine Sonderstellung, die schon allein dadurch sichtbar wird, daß ihre autorenspezifische Behandlung im Sourcebook aus der ansonsten thematisch orientierten Systematik herausfällt (auch stammt die Einführung zu diesem letzten 7. Teil nicht wie die anderen von López-Ruiz, sondern von M. Anderson).
Ein Nachteil für die Nutzung des Sourcebook liegt in der Entscheidung der Herausgeberin, gerade bei keilschriftlichen Quellen die Zeilenzählung nicht mit anzugeben, obwohl dies mit vergleichsweise wenig Aufwand möglich gewesen wäre. Ohne Frage „most of the poetic language of these texts can be appreciated regardless of the line divisions“ (xxiii), aber wer entgegen der allgemeinen Tendenz, welche die Beherrschung der Originalsprachen immer weniger wichtig nimmt, sich trotzdem dem Wortlaut der Texte annähern will, dem sind gerade bei längeren Texten die Übersetzungen ohne Zeilenzählung keine große Hilfe. Die in diesem Zusammenhang stehende Feststellung von López-Ruiz, daß in literarischen Texten aus Mesopotamien „verses … do not constitute metrical units …, nor are they marked by rhyme patterns“ (xxiii), ist außerdem nicht so gesichert, wie sie klingt.3
Die englischen Übersetzungen sind von unterschiedlicher Provenienz und auch von verschiedener Art, da poetische Texte manchmal mit einer Versübersetzung, überwiegend aber mit einer Prosaübersetzung wiedergegeben werden, was sich auch im unterschiedlichen Druckbild äußert. Zum Teil sind die Übersetzungen älteren Datums; im Fall der griechisch-römischen Texte stammen manche aus der Loeb series (Ovids Metamorphosen, Ps.-Apollodors Bibliotheke) oder aus der Oxford’s World Classics series (z.B. Apuleius’ Metamorphosen und Vergils Aeneis). Zum Teil wurden Übersetzungen (und die dazu gehörenden Einleitungen) aber auch von unterschiedlichen Beiträgern aktuell für den Band angefertigt oder überarbeitet wie etwa für die nordwest-semitischen (S. Meier), ägyptischen (A. Diego), hethitischen (M. Bachvarova) und ausgewählte griechische und lateinische Texte ( Derveni Papyrus von A. Bernabé und M. Herrero, Hesiod und Homerische Hymnen von López-Ruiz, Ilias und Odyssee in Versübersetzungen von B.B. Powell, Pindar und Lukrez von H. Eisenfeld,4 Platon von M. Anderson).
Die Beiträger des Bandes stammen aus den Bereichen der Klassischen Philologie (M. Anderson, A. Bernabé, H. Eisenfeld, M. Herrero, C. López-Ruiz, B.B. Powell), der Hethitologie (M. Bachvarova), der Ägyptologie (A. Diego) und der Semitistik (S. Meier). Bedauerlicherweise ist es offenbar nicht gelungen, speziell ausgewiesene Altorientalisten für die Mitarbeit am Band zu gewinnen. Das spiegelt sich in der Auswahl der Texte und Übersetzungen wider, die zu großen Teilen dem Buch Myths from Mesopotamia von S. Dalley entnommen sind.5 So wird etwa für das Gilgameš-Epos die neue und maßgebliche kritische und kommentierte Edition (mit englischer Übersetzung) von A. George in den weiterführenden Literaturhinweisen zwar genannt; die im Sourcebook zitierte Übersetzung allerdings ist diejenige von S. Dalley. Die Einbeziehung eines qualifizierten Sumerologen hätte außerdem dazu geführt, ein Manko zu beheben, das fast alle bis dato erschienenen Abhandlungen und Quellensammlungen aufweisen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Texte aus den altorientalischen Kulturen verstärkt in komparatistische Untersuchungen einzubeziehen;6 denn es sind gerade die ältesten Mythen der Menschheit, die in sumerischen Texten erhalten sind, die in solchen Büchern oft fehlen oder nur marginal und in meist überholten Übersetzungen zitiert werden.7 Das Argument, daß sumerische Texte für einen interkulturellen Vergleich schon allein deswegen weniger in Frage kommen, weil sie Jahrhunderte früher anzusetzen sind und deshalb von dem Beginn griechischer Literatur und Kultur durch einen beträchtlichen zeitlichen Abstand getrennt sind, verfängt nicht, da es sich bei der sumerisch-akkadischen ähnlich wie bei der griechisch-römischen um eine Doppelkultur handelt, in der sich gerade die jüngere ohne die ältere nicht verstehen läßt. Ein Latinist würde die homerischen Epen für die Interpretation von Vergils Aeneis auch nicht ausschließen, nur weil sie rund 750 Jahre früher entstanden sind; ähnlich verhält es sich etwa mit dem akkadischen Gilgameš-Epos und den in sumerischer Sprache überlieferten Gilgameš-Mythen. Gerade beim Gilgameš-Stoff hätte man historische Tiefe aufzeigen können. Darüber hinaus sind sumerische Mythen vom 3. bis ins 1. Jahrtausend v. Chr. tradiert worden und somit durchaus auch zeitgleich zu Mythen anderer antiker Kulturen.
Alle kritischen Anmerkungen schmälern nicht das Verdienst von López-Ruiz, das unbestreitbar darin besteht, den Blick für die Zusammengehörigkeit der griechisch-römischen und altorientalischen Kulturen geschärft und gerade undergraduate students und einer größeren, allgemeinen Öffentlichkeit zu einem erschwinglichen Preis und in großem Umfang Texte zugänglich gemacht zu haben, die einen Eindruck von der Fülle und Faszination antiker Mythen vermitteln können.
Notes
1. Siehe Zgoll, C., 2004, Phänomenologie der Metamorphose. Verwandlungen und Verwandtes in der augusteischen Dichtung, Classica Monacensia 28, Tübingen, S. 329.
2. Die Literaturhinweise sind äußerst knapp gehalten. Auch bei einer primär auf den englischen Sprachraum ausgerichteten Publikation wundert etwa das Fehlen von einem so grundlegenden neueren Werk wie Reinhardt, U., 2011, Der antike Mythos. Ein systematisches Handbuch, Paradeigmata 14, Freiburg; Berlin; Wien, oder im Fall der platonischen Mythen ein Hinweis auf Janka, M./ Schäfer, C. (Hg.), 2002, Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt, um nur zwei Beispiele herauszugreifen; aber selbst ein älterer, englischer „Klassiker“ wie Kirk, G.S., 1970, Myth. Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures, Berkeley; Los Angeles, ist nicht aufgeführt.
3. Vgl. Edzard, D.O./ Wilhelm, G., 1993, „Metrik“, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, hg. von D.O. Edzard, Berlin/ New York, Bd. 8, S. 148-150; Wasserman, N., 2003, Style and Form in Old-Babylonian Literary Texts, Cuneiform Monographs 27, Leiden; Boston, v.a. S. 159-162 und 162-174.
4. Auf S. xx fälschlich „Eissenfeld“ geschrieben.
5. Dalley, S., 2000, Myths from Mesopotamia: Creation, The Flood, Gilgamesh, and Others, 2nd rev. ed., Oxford (1. Aufl. 1989).
6. Eine Ausnahme stellen die Bände aus der Reihe Texte aus der Umwelt des Alten Testaments dar (TUAT Bd. III/3 und der in Kürze erscheinende TUAT N.F. Bd. 8), in denen allerdings keine griechisch-römischen Quellen zu finden sind.
7. Im Sourcebook wird gewissermaßen als „Feigenblatt“ nur ein einziger, etwa 2 Seiten langer sumerischer Text berücksichtigt (die Sargonlegende in der Übersetzung der Internet-Plattform The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature).