Professor Christian Touratier (Université de Provence) veröffentlichte im Jahr 2008 eine Grammaire latine. Introduction linguistique à la langue latine, Paris SEDES, die auf seiner Syntaxe latine, Peeters, Louvain-la-Neuve 1994 fußte. Lateinische Sprachbeschreibung ist traditionell historisch ausgerichtet; Touratier jedoch versuchte hier zum ersten Mal, ausgehend von den Kategorien der modernen strukturalistischen Linguistik, eine vollständige, synchrone Darstellung der lateinischen Sprache zu verfassen: „Le livre de Christian Touratier vient combler un vide dans le champ des études de linguistique latine : il n’existait jusqu’à présent aucun manuel donnant une présentation linguistique complète de la langue latine d’un point de vue synchronique“ (Fleck 2008: p. 285).
Im Jahr 2013 publizierte Bianca Liebermann (Humboldt-Universität zu Berlin) bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft eine deutsche Übersetzung des Werkes.
Das Buch hat einen reichen Peritext : ein interessantes Geleit von Professor Stefan Kipf (pp. 13-16), Vorbemerkungen zur Übersetzung von Bianca Liebermann (pp. 17-19) und zwei Vorworte von Professor Touratier, das erste zur deutschen Ausgabe (p. 20), das zweite zur französischen von 2008 (pp. 21-22).
Darauf folgt eine allgemeine Einführung in das Werk; besonders wichtig scheint uns hier Kap. 6, in dem einige grammatikalische Grundbegriffe erläutert werden (pp. 31-36).
Die eigentliche grammatische Beschreibung beginnt mit der Phonologie (pp. 37-45), gefolgt von der Formenlehre, die in drei Teile gegliedert ist: (1) die Morphemanalyse (pp. 46-53), (2) die Morphologie, d.h. das Nominalsystem, Pronomina, das Verbalsystem … (pp. 55-139), (3) die Morphemklassen, d.h. Kasusmorpheme, Verbalmorpheme … (pp. 141-202). Besonders interessant ist die Beschreibung der Kasus, die auf dem Konzept „der Funktionsmorpheme“ beruht: Das Funktionsmorphem ,Subjektʻ hat als Signifikant den Nominativ, aber auch den Akkusativ — AcI — sowie den Ablativ — Ablativus absolutus —; diese Beschreibungstechnik ermöglicht eine klare und übersichtliche Darstellung des Kasussystems (pp. 145-163; cf. ebenfalls Fleck 2008: p. 286).
Die Syntax wird in 9 Kapiteln behandelt: In Kap. 1 (pp. 204-210) werden u. a. die Grundbegriffe der syntaktischen Analyse definiert — Phrase, Konstituente, unmittelbare Konstituente — und die Methode der syntaktischen Analyse — Kommutation — beschrieben. Kap. 2 (pp. 211-221) analysiert die konstitutiven Funktionen im einfachen Satz: Subjekt, Prädikat und Extraposition — uicine, ausculta —, die von der traditionellen Grammatik nicht behandelt wird; Kap. 3 (pp. 222-241) analysiert die Strukturen der unmittelbaren Konstituenten: Verbalphrase, Nominalphrase, Adjektivphrase und Adverbialphrase; Kap. 4 (pp. 242-261) behandelt die verschiedenen Satztypen, Deklarativsatz, Interrogativsatz … ; das kurze Kap. 5 (pp. 262-264) analysiert den komplexen Satz und gibt eine linguistisch fundierte Definition des Nebensatzes (p. 263); Kap. 6 (pp. 265-274) beschreibt das Phänomen der Koordination; das längere Kap. 7 (pp. 275-343) behandelt die Subordination; subordinierte Satzphrasen werden in drei Kategorien eingeteilt: Satzphrasen mit einem Funktionsmorphem ( quod, Infinitiv…) als Subordinator, Satzphrasen mit einem Relationsmorphem ( quia, si) als Subordinator, Relativsätze, in denen der Subordinator gleichzeitig ein Funktionsmorphem und ein anaphorisches Personalmorphem darstellt; in Kap. 8 (pp. 344-347) wird die Korrelation beschrieben, quot homines, tot sententiae; Kap. 9 (pp. 348-357) behandelt die wichtige Thematik der Wortstellung: Abfolgeschemata (lineare Wortstellung, geschlossene Wortstellung, altis de montibus, gesperrte Wortstellung liberaliora [a] alimenta [b] sunt [a] carceris [b], die Positionen im Satz (Vorfeld, Nachfeld, Mittelfeld). Der letzte Teil der grammatischen Beschreibung behandelt kurz das Lexikon (pp. 359-364). In drei Anhängen gibt der Autor einige Angaben zur Metrik (pp. 365-366), zu den Numeralia (pp. 367-371) und zum römischen Kalender (pp. 372-374); Zeichen und Abkürzungen, ein Literaturverzeichnis sowie zwei Indices, Rerum et Nominum, beschließen das Werk.
Touratiers Grammatik besticht durch den klaren Aufbau und die methodische Stringenz der Darstellung. Der strukturalistische Ansatz ermöglicht dem Autor, manche traditionelle Kapitel der lateinischen Grammatik einfacher und klarer darzustellen, wie z. B. die schon erwähnte Analyse des Kasussystems mittels der Funktionsmorpheme oder die elegante Reduktion der Konjugationsfamilien auf zwei Typen durch eine neue Analyse der Infectumformen: der Typus mit finalem nicht-geschlossenem Vokal a/e und der Typus mit finalem geschlossenem Vokal i (pp. 98-104).
Dies wurde jedoch in anderen Rezensionen schon hervorgehoben (Fleck 2008) und daher scheint es uns hier angebracht, die Grammatik Touratiers hauptsächlich als Übersetzung ins Deutsche zu würdigen.
Anhand der Analyse eines kurzen Kapitels [Die Verbalmorpheme, B. Imperfekt, pp. 165-167 ( Grammaire latine : pp. 111-113)] wollen wir versuchen, die Technik der Übersetzerin Bianca Liebermann vorzustellen.
Der Anfang des Kapitels ist eine wortgetreue Übersetzung des französischen Originaltextes; die Sprache ist fließend und gut verständlich. Bei der Gegenüberstellung von Imperfekt und Perfekt fügt Frau Liebermann einen kurzen erklärenden Paragraphen hinzu, der sich auf die große Syntaxe latine (1994) von Touratier stützt; in den Fußnoten (p. 166) verweist die Übersetzerin auf das bekannte Buch von Harald Weinrich, Tempus: Besprochene und erzählte Welt (1964). Hier wurde der Text für eine deutschsprachige Leserschaft adaptiert, indem die im Deutschen nicht vorhandene Opposition Perfekt-Vordergrundinformationen / Imperfekt-Hintergrundinformationen explizit behandelt wird. Schließlich wird das Imperfectum de conatu, das im französischen Originaltext nur beiläufig erwähnt wird, ausführlicher behandelt; dies ermöglicht Frau Liebermann, den Übergang vom Imperfekt als Tempus der Vergangenheit zum abstrakten Imperfekt des nicht-Realen fließender und verständlicher zu gestalten.
Bianca Liebermann hat also das französische Original nicht nur wortgetreu und gleichzeitig elegant übersetzt, sondern auch den Text für eine deutsche Leserschaft behutsam und wissenschaftlich fundiert adaptiert, gegebenenfalls interpretiert und in diesem Fall neu und zum Teil besser strukturiert. Eine in der Tat beachtliche Leistung.
Die französische Originalversion war bereits didaktisch ausgerichtet (Touratier 2008: p. 9) und kann im Lateinunterricht an Gymnasien, neben anderen Schulgrammatiken, eingesetzt werden. Diese Ausrichtung wurde in der deutschen Version noch verstärkt, indem die Übersetzerin einige Kapitel, die in der eigentlichen Sprachlehre traditionell ausführlicher behandelt werden, ausbaut — die Objektkasus der Verben: Touratier 2008: pp. 102-103; Touratier-Liebermann 2013: pp. 146-153.
Die Grundausrichtung des Werkes ist jedoch wissenschaftlich, und Touratier hat eine synchrone, strukturalistische Beschreibung der lateinischen Sprache vorgelegt, die sich zuerst an klassische Philologen und allgemeine Sprachwissenschaftler wendet. Das Werk steht natürlich nicht alleine da, sondern reiht sich in eine Forschungstradition ein, die, angeführt von Professor Guy Serbats Grammaire fondamentale du latin: Le signifié du verbe, Peeters, Louvain-Paris, 1994, die Grammatikographie des Lateinischen von Grund auf erneuert hat.
In meiner Rezension (2010) zu der bedeutenden Geschichte der lateinischen Sprache von Jürgen Leonhardt (2009) habe ich das „lange Schweigen der deutschen Klassischen Philologie zur lateinischen Sprache“ (Reisdoerfer 2010: p.1138) bedauert. Gerade hier, im Bereich der Wissenschaftsgeschichte, liegt das zweite große Verdienst der Arbeit von Bianca Liebermann: Diese Übersetzung baut Brücken, macht dem deutschen akademischen Publikum die moderne lateinische Linguistik zugänglich und eröffnet so der lateinischen Sprachwissenschaft im deutschsprachigen Raum neue Perspektiven.
Die deutsche Übersetzung der Grammaire latine von Christian Touratier ist ohne Zweifel eine lobenswerte Initiative. Bianca Liebermann hat nicht nur ein interessantes, originelles Werk der lateinischen Grammatikographie, das sowohl in der gymnasialen Oberstufe als auch an der Universität einsetzbar ist, hervorragend ins Deutsche übersetzt, sondern sie führt auch das deutsche Fachpublikum in die moderne synchron-strukturalistische Beschreibung des Lateinischen ein. Es bleibt zu hoffen, dass es zu weiteren Übersetzungen aus dem reichen französischen Fundus kommt, und dass die deutsche Klassische Philologie, die so vieles im Bereich der Erforschung der Diachronie des Lateinischen geleistet hat, Anschluss findet an modernere Forschungsansätze im Bereich der lateinischen Sprachwissenschaft.1
Notes
1.Benutzte Literatur:
1.Fleck, Frédérique. 2008. ‘Rec. Touratier, Grammaire latine 2008’. Revue des Etudes latines 86, 285-287.
Leonhardt, Jürgen. 2009 1, 2011 2 Latein. Geschichte einer Weltsprache. München: Beck.
Mellet, Sylvie, Marie-Dominique Joffre, und Guy Serbat. 1994. Grammaire fondamentale du latin. Tome I . Paris: Peeters.
Reisdoerfer, Joseph, 2010. ‘Rec. Leonhardt, Latein. Geschichte einer Weltsprache’. Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 13, 1131-1140. Log-in required for access.
Touratier, Christian. 1994. Syntaxe latine. Louvain-la-Neuve: Peeters.
—. 2008. Grammaire latine: Introduction linguistique à la langue latine. [Paris]: SEDES.
Weinrich, Harald. 1964 1, 2001 6. Tempus: Besprochene und erzählte Welt. München: Beck.