Die von Reinhold F. Glei und seinen Mitarbeitern vorgelegte kritische Ausgabe der Christias des Marcus Hieronymus Vida samt Einleitung, Similienapparat, deutscher Übersetzung und eigenem Kommentarband schließt eine klaffende Lücke der neulateinischen Philologie, insofern hier endlich eines der grundlegenden und wirkungsmächtigsten Epen der Renaissance mit der ihm gebührenden philologischen Ausstattung präsentiert wird.
In der Einleitung wird zunächst das Leben Vidas (9-15) und seine „Entwicklung als Epiker“ (15-23) betrachtet – im letzteren Abschnitt scheint die exakte Parallelisierung zwischen Vidas und Vergils Werdegang durch die etwas schiefe Gleichsetzung zwischen den Eklogen und dem berühmten Gedicht über das Schachspiel erkauft.
Der Abschnitt über „Struktur und Erzähltechnik“ (23-36) enthält substanziell Neues und Wichtiges, etwa die Beobachtungen über die sinnhafte Symmetrie zwischen „ungeraden“ und „geraden“ Büchern (in den „geraden“ Büchern tritt die Göttlichkeit Christi gegenüber seiner Menschlichkeit tendenziell in den Vordergrund, 30 f.); die bislang mangelnde Analyse der Erzähltechnik wird als eigentliches Defizit der Vida-Forschung ausgemacht (33 ff.).
Weitere Kapitel gelten der „Charakterisierung der Figuren“ (36-45), den Gleichnissen (46-57, vollständige Liste 52 ff.) und den „Zeitbezügen in der Christias “ (57-62).
Im letzten Kapitel (62-66) wird die „Text- und Editionsgeschichte der Christias “ in den Blick genommen. Insofern die vermutliche Widmungshandschrift (in Florenz), die Erstausgabe von 1535 und eine Ausgabe „letzter Hand“ von 1550 zur Verfügung stehen, ist die Überlieferung ziemlich gesichert und nur höchst selten auf Konjekturalkritik angewiesen. Auf prinzipiell denselben Überlieferungsinstanzen beruht die 2009 erschienene lateinisch-englische Ausgabe von James Gardner in der „I Tatti Renaissance Library“, mit welcher die neue Ausgabe zu konkurrieren hat.
Mit dem gelehrten Kommentar zur Christias des Bartholomaeus Botta (1569) – der auch selbst als Dichter einer Davidias in der Nachfolge der Christias hervorgetreten ist – wird vielleicht etwas zu hart ins Gericht gegangen (65). Etwa das Christusattribut Bis genitum (I 3), welches im Kommentarband (9) als „ungewöhnlich“ bezeichnet wird, erklärt Botta mit großer Selbstverständlichkeit und differenziert dessen Anwendung auf Christus präzise von der klassisch-ovidischen auf Bacchus (met. III 317).
Die Textgestaltung basiert im Wesentlichen auf dem Text letzter Hand von 1550 (67). Die weitaus meisten Apparatnotizen gelten abweichenden Lesarten der Widmungshandschrift „F“, die im allgemeinen zu Recht als minderwertig (und von Vida selbst aufgegeben) zurückgewiesen werden. Bei Gardner sind die „variants of the first redaction“ auf S. 385-390 verzeichnet.
Die Ausgabe folgt dem Druck von 1550 bis in Details der Interpunktion, wie es heutzutage in vielen neulateinischen, auf Drucken beruhenden Ausgaben üblich ist. Ein Beispiel, welches die Problematik dieses Verfahrens zeigt, ist Christ. II 253 f.:
Talia fatus erat. Furiis stimulantibus intus
Experti passique senes eadem ore fremebant.
Übersetzung: „So hatte er gesprochen. Da sie die im Inneren antreibenden Furien spürten und ihnen ausgeliefert waren, stimmten die Ältesten unter Gemurmel zu“. Die dabei angenommene Junktur Furiis (abl. ?) …/ Experti passique (ähnlich Gardner: „having felt the spur of fury within themselves“) ist evidentermaßen syntaktisch unmöglich. Getraut man sich dagegen, von der sakrosankten Interpunktion des Druckes abzuweichen, Furiis stimulantibus mit Talia fatus erat zu verbinden und nach intus stark zu interpungieren, erlangt Experti passique … eadem im nächsten Teilsatz seine natürliche Bedeutung: die Furien wirkten eben nicht nur auf Kaiphas ein, sondern ebenso auch auf die anderen Ältesten, welche „dasselbe erfuhren und erlitten“. ore fremebant steht allein und bezeichnet ihre diffusen Stimmäußerungen; die inhaltliche Zustimmung zum Votum des Kaiphas wird erst durch das folgende Omnibus idem animus bezeichnet.
Der Kommentarband behandelt in sukzessiv abnehmendem Unfang die sechs Einzelbücher der Christias : Die Kommentierung des ersten Buches nimmt knapp 100, diejenige des letzten weniger als 50 Seiten ein. Schwerpunkt der Kommentierung ist, wie in der Einleitung als Desiderat formuliert, die narratologische Gestaltung des Epos. Es wird immer wieder mit großem Gewinn gezeigt, wie Vida die Freiheiten seiner biblischen Vorlage, die sich durch die oft nur skizzenhafte Erzählweise der Evangelien, die Unklarheiten in ihrer Deutung und besonders durch die Divergenzen der vier kanonischen Einzelfassungen ergeben, im Sinne der von seiner Erzähltechnik angestrebten Effekte nutzbar macht. In Anbetracht des Umfangs des Bandes ist es klar, daß eine detaillierte sprachliche Kommentierung der ca. 6000 Einzelverse nicht möglich ist. Zu den immer wieder besonders eingehend behandelten sprachlichen Details gehören insbesondere die Alternativlesarten der Widmungshandschrift F. Auf Einzelheiten des Kommentars einzugehen fehlt hier der Raum.
Die kommentierte Ausgabe erfüllt, wie eingangs angedeutet, ein dringendes Desiderat. Gerade aufgrund des eindringenden narratologischen Kommentars, der weit über das in den knappen Anmerkungen Gardners Gebotene herausgeht, wird sie nachhaltig wirken und zum Standard der internationalen Vida-Forschung werden.
Abschließend folgen einige Bemerkungen zum Text und zur – im allgemeinen gelungenen und von sinnverzerrenden Irrtümern freien – Übersetzung der sechs Christias -Bücher.
I 46: Ibo ist keine selbständige Periode, sondern bekräftigt das folgende piabo, vgl. bei Vida II 756; IV 551; V 919.
112 Vix morbo correptum auras haurire supremas nicht „von einer schweren Krankheit mitgenommen kaum seine letzten Atemzüge machen“, sondern „kaum von der Krankheit ergriffen (schon) seine letzten Atemzüge machen“, vgl. iam in 113.
125 et sedes vastaret opertas nicht „ihre Wohnsitze zu öffnen [sic] und zu zerstören“, sondern „die verdeckten Wohnsitze [die Unterwelt] zu zerstören“.
147 flammanti vertice supra est nicht „an der Spitze, oberhalb eines Feuerwirbels, steht“ (ähnlich Gardner: „on a fiery summit stood“), sondern in Analogie zu dem im Similienapparat zitierten Vorbild Aen. VII 784 „um sein flammendes Haupt größer (sc. als die übrigen) ist“; zu den flammenden Häuptern der Unterirdischen vgl. II 61; IV 615.
498 Alia am Versanfang Druckfehler für Talia.
503 pedes omnes passibus aequat nicht „machte gleichmäßige Schritte“, sondern (nach Aen. VI 263) „konnte als Fußgänger mit jedermann Schritt halten“; pedes kann schon aus metrischen Gründen nicht Akkusativ Plural sein.
546 stabulis … reclusis bezeichnet gemäß der geläufigeren Bedeutung von recludere (wie auch in IV 1011) wohl die Öffnung der Ställe, nicht ihre Schließung.
569 duris detrudere saxis kann lexikalisch wohl nicht die Steinigung, sondern nur einen κατακρημνισμός bezeichen.
772: horrendumque tuens nicht „er wartete auf die schreckliche Tat“, sondern „schauerlich blickend“ (der strenge Blick Christi schreckt die zur Steinigung Bereiten ab).
796: nunc gehört in eine Reihe mit nunc in 798 und 800, bedeutet also ebenso „manchmal“.
813 longe nicht „lange schon“, sondern „in der Ferne“ (wie auch in 812), bezüglich auf die „Abgelegenheit“ der nicht-litteralen, mystischen Deutungsweise.
918 summo te in terris reddat honore nicht „dich am höchsten auf Erden geehrt machen wird“ (ähnlich Gardner: „cause you to be honored throughout the world“), sondern „Dich (selbst) mit dem höchsten Amt auf Erden repräsentieren wird“; Gottvater rechtfertigt aus katholischer Sicht das künftige Amt des Papstes als Stellvertreter Christi.
II 56 iam summa arce receptum sc. hostem nicht „dass schon die höchste Stelle der Burg genommen“, sondern „dass der Feind schon oben in der Burg aufgenommen“.
132: Quaeque imis te nunc est addita cura medullis übersetzt mit „die Absicht, die sich jetzt in deinem innersten Mark festgesetzt hat“; im Kommentar (115) wird über die Syntax des mutmaßlichen Ablativs te gerätselt – in Wirklichkeit ist te Akkusativ und est steht für edit : „die Sorge, welche, dir eingegeben, dich tief in deinem Mark nun verzehrt“. Zur Form vgl. ThLL V 2, 98, 29 ff., zur metaphorischen Verwendung de curis 105, 69 ff.
412 Iamque nicht „und noch immer“, sondern „und schon jetzt“.
563: gravis kann aus metrischen Gründen nicht neben argutasque attributiv zu fides stehen („das ernste und ausdrucksvolle Leierspiel“), sondern muß prädikativ zum Subjekt gefasst werden („a serious man“ Gardner).
597 placidus tectis assuescat amicis nicht „möge er es sich gemütlich machen und …“, sondern „möge er gnädig …“.
629 paverit nicht von pavere („fürchtete“), sondern von pascere (die Speisung in der Wüste!).
703 Ore premens signet nicht „mit seinen Worten meinen und bezeichnen“, sondern „mit seinem Munde (den Namen) unterdrückend andeuten“.
791: Die Junktur somno vinoque gravatis darf gemäß Aen. II 265 (im Similienapparat) nicht getrennt werden, indem somno zum vorigen Teilsatz gezogen wird.
848 cervicibus nicht „dem Hirsch“ ( cervo), sondern „seiner Kehle“.
860: Tanti nicht Attribut zu coeli („des großen Himmels“), sondern gemeinsames Prädikatsnomen (sc. est, „ist soviel wert“) ἀπὸ κοινοῦ zu allen Subjekten.
937 horrere nigra circum omnia nocte nicht „alles ringsum erschreckt sie in der schwarzen Nacht“, sondern „dass alles ringsum von schwarzer Nacht starrt“ (abhängig von videt, 936).
963 recursat nicht „er tadelte sich“, sondern „es kam ihm wieder zu Bewusstsein“.
III 23 haerent Druckfehler für haerens.
57: Deique gehört an das Ende von 56 (Druckversehen).
157 longe nicht „lange“, sondern „von fern“ („far abroad“ Gardner; Gegensatz zu de sanguine vestro).
378 imitantur : die konjekturale Abweichung von der gesamten Überlieferung ( imitatur) im Anschluß an Gardner verfehlt; quales colores ist Objekt hierzu, als Subjekt ist Nubicolor … arcus aus 380 herbeizuziehen.
524–538: als monologische oratio recta Josephs innerhalb seiner eigenen Binnenerzählung zu interpungieren.
697 continuo nicht „ständig“, sondern „sofort“.
733: als Subjekt zu denuntiet nicht „der Knabe“ aus dem folgenden Vers (so auch Gardner), sondern aus dem Vorigen „Simeon“ zu ergänzen.
951 vigentem nicht Attribut zu mentemque („den blühenden Geist“), sondern dem Präpositionalausdruck Supra aciem captumque hominis mentemque übergeordnet.
IV 87: Tantum nicht Attribut zu dominum („einen so mächtigen Herrn“), sondern einschränkend „nur“ zur Einleitung des Verbots des Apfelbaums.
402: ponere kann wegen –que nicht mit Vimque omnem als Objekt verbunden werden („ihre ganze Gewalt ablegten“), sondern ist intransitiv (idiomatisch von Winden, vgl. OLD s.v. 9; ThLL X I, 2664, 49 ff.).
611 Condiderat nicht intransitiv „sich … verborgen gehalten“ (ähnlich Gardner „hidden himself“), sondern mit quater denos … soles zu verbinden, „er hatte 40 Tage versinken lassen“ (vgl. Verg. ecl. 9, 52).
661 venia aus metrischen Gründen nicht Nominativ, sondern Ablativ.
719: Quo am Versanfang aus F gegen die Drucke aufzunehmen, da Suo unmetrisch ist (Synizese in hexametrischer Dichtung und auch bei Vida nicht üblich).
817: nos ist nicht Subjektsakkusativ, sondern Objekt zu fallere (als Subjekt Christus zu verstehen), vgl. die Fortführung mit omnia nobis/ Aspera promittit.
871 modo nicht „nur“, sondern „eben gerade noch“ (das Meer war vor kurzem noch unruhig).
924: die Konjektur Vox für einhellig überliefertes und unproblematisches Vos (dies bei Gardner wohl fälschlich als Konjektur gebucht; in der Ausgabe von 1550 steht jedenfalls Vos) fügt sich nicht zu dem Maskulinum Ipse im folgenden Vers.
V 9 f.: Die falsche Syntax von quo tandem is crimine morte/ Mulctandum lässt sich kaum gegen Mulctandus (F) rechtfertigen (trotz I 527).
79 f. laqueoque infami extrema secutus (vom Selbstmord des Judas) absolut zu verstehen; extrema gehört kaum zu Spiramenta animae ( eliso gutture rupit) im folgenden Vers (nicht „die letzten Atemzüge“ [„his last breath“ Gardner], sondern „die Atemwege“).
279 tenues animae sine corpore vitae nicht „flüchtige Geister ohne lebende Körper“, sondern „flüchtige Geister, Leben ohne Körper“ (Komma nach animae zu setzen, vgl. V 540 Cum tenues animae, cum sint sine corpore vitae).
329 insueta timentem nicht „von Ungewöhnlichem erschreckt“, sondern „ungewöhnlicherweise fürchtend“ (inneres Objekt, „he was strangely afraid“ Gardner; von einem römischen Statthalter erwarten die Bewohner solche Furcht nicht).
423 f. Et iam purpureos habitus insignia ludicra/ Exutum : Metrum? et signa statt insignia ?
855 f. serena/ Luce ablativus comparativus zu magis … grata, vgl. VI 414 f.
940 ff. Vix ea, nam vitae labentis fine sub ipso,/ Dum luctante anima fessos mors exuat artus,/ Aestuat nicht „Das konnte er kaum noch hervorstöhnen, denn er war am Ende seines ihm entgleitenden Lebens, während der Tod die ermüdeten Glieder von der trauernden [sic] Seele abstreifte“, sondern: „Kaum brachte er dies hervor, denn unmittelbar am Ende … keuchte er, bis schließlich der Tod seine erschöpften Glieder der widerstrebenden Seele beraubte“.
VI 241: ut te …/ Optatum aspicimus; ut nicht kausal („da“), sondern exklamativ zu optatum („how gladly“ Gardner); das folgende nec nos spes nostra fefellit vor dem auf te bezüglichen Relativsatz parenthetisch.
282 Et am Versanfang ausgefallen (Druckversehen).
365 ad superos in der Bedeutung „bei den Oberirdischen“ mit defletus zu verbinden (damit erledigen sich die komplizierten Ergänzungen in der Übersetzung), vgl. die Erklärung von Claudia Wiener, Vestigia Vergiliana, Göttingen 2010, 111 f. Anm. 16.
533 urbe separativer, nicht lokaler Ablativ zu aderit (der Herr residiert gemäß 526 üblicherweise in der Stadt, daher auch Gardners Wiedergabe „return to the city“ verfehlt).
761: nitentia neben der Richtungsangabe in medium eher „strebend“ (von niti) als „glänzend“ (von nitere).