Die vorliegende Publikation versteht sich als Lehrbuch für fortgeschrittene Studenten. Es bietet Quellenzeugnisse, Kommentare, Interpretationen und ereignishistorische Informationen zur Geschichte Athens im 5. und 4. Jh. v. Chr. an. Auf dieser Grundlage sollen Themen und Probleme der antiken Überlieferung und der modernen Historiographie zu den Gebieten Demokratie und „imperialismo“ transparent werden.
Laura Sancho Rocher zielt darauf, die Verzahnung zwischen der Demokratie und der (maritimen) Machtpolitik Athens und deren Entwicklung anhand ausgesuchter Texte zu erhellen, wobei auch nicht direkt Athen betreffende Aspekte während des fraglichen Zeitraums zur Sprache kommen.
Nicht weniger als 450 ausgewählte, zur Erleichterung von Querverweisen durchnummerierte Quellen und sie verknüpfende Erklärungen der historischen Zusammenhänge bieten die Basis für eine Betrachtung der inneren wie der machtpolitischen Entwicklung Athens zwischen dem Ausgang des 6. Jh.s und 322. Die Quellen werden in Übersetzungen präsentiert, die auf z.T. überarbeiteten „traducciones de clásicos“ beruhen (aufgelistet S.349 f.). Charakteristische Begriffe und Formulierungen sind in Griechisch eingefügt. Diese Übersetzungen sind jeweils in kleinerer Schrift wiedergegeben als die vorangestellten Informationen und Erläuterungen, die auch auf weitere Zeugnisse zu dem jeweiligen Gegenstand verweisen. Bei den insgesamt 15 Inschriftenübersetzungen werden leider nicht immer die Zeilen angegeben, was die Suche und Prüfung konkreter Passagen erschwert. Grundsätzliche Ausführungen zu den verschiedenen Quellengattungen und den methodischen Besonderheiten ihrer Deutung fehlen. Obwohl finanz- und wirtschaftspolitisch bedeutsame Zeugnisse berücksichtigt sind, wird die Aussagekraft numismatischer Quellen nicht thematisiert oder illustriert. Dasselbe gilt für archäologische Befunde.
Eine detaillierte Kommentierung der abgedruckten Quellen ist nicht angestrebt; ihnen sind auch nicht unmittelbar weiterführende Lektürehinweise beigegeben. Diese Texte sind durch Verweise mehr oder minder eng eingebettet in weitgehend der Chronologie folgenden Skizzen der ereignishistorischen Zusammenhänge und der Besprechung von einzelnen Strukturelementen und Problemen, die Demokratie und Herrschaft auszeichneten. Gemäß der Intention ist der Benutzer zu einer Fortsetzung und Vertiefung der Analyse aufgefordert, ohne dass einschränkende bzw. lenkende Vorgaben gemacht würden. Angesichts des anvisierten Leserkreises wäre allerdings ein Glossar wichtiger Begriffe angemessen.
Im ersten Kapitel werden die demographischen Grundlagen und die sozialen Differenzierungen der Bevölkerung Athens vorgestellt. Weiter behandelt sind zentrale Institutionen, Ämter sowie Elemente der politischen Entscheidungsfindung und der Gesetzgebung (bes. nach 403). Im letzten Abschnitt geht es um Grundprinzipien und Ideologie der demokratischen Verfassung. Die Auswahl der Quellenausschnitte ist gut abgestimmt; sie stammen überwiegend aus dem 4. Jh. Allerdings wurde auf epigraphische Belege für athenische Volksbeschlüsse, die manche politischen Alltagsmechanismen gut illustrieren könnten, verzichtet. Aufgrund der Fülle der in diesem Kapitel angeschnittenen Themen sind die in die Quellen einführenden und sie verknüpfenden Erläuterungen z.T. nur recht knapp ausgefallen.
Im umfangreichsten Teil (Kap.2: S.111-225) folgt eine teils chronologische, teils nach systematischen Gesichtspunkten (Herrschaftsmittel Athens) angeordnete Betrachtung der Pentekontaetie und der attischen arché bis zum Beginn des Peloponnesischen Krieges. Die Facetten des athenischen ‚Imperialismus’ und seiner Einschätzung durch die Griechen erhellen zunächst geeignete Thukydides-Passagen. Sodann werden die Vorgeschichte des Ersten Attischen Seebundes gewürdigt (einschließlich einer kurzen Skizze des Verlaufs des Xerxes-Krieges) wie auch dessen ursprüngliche rechtliche Struktur und der Übergang zur arché. Sancho Rocher hebt Themistokles’ Mitwirkung an der Vorbereitung der „Etablierung des Reiches“ hervor (S.118 f.), die sie zu Recht in die Kontinuität des Ausgreifen Athens schon während des 6. Jh. in Richtung Hellespont und Schwarzes Meer stellt. Nicht erörtert wird, welche Interessen Ägäisstaaten ursprünglich zum Beitritt in den Bund veranlasst haben. Die Prominenz von Thukydides-Abschnitten unter den übersetzten Quellenpartien ist im ganzen ersten Teil dieses Kapitels vollauf verständlich, doch werden auch spätere literarische Zeugnisse verwendet: hier vermisst man allerdings eine einführende Erörterung der Frage, welchen Wert diese Quellen, so z.B. die einschlägigen Biographien Plutarchs, für die Erforschung von Pentekontaetie und Seebund haben. Dies erscheint als ein Defizit angesichts des Anspruchs, Interpretationsprobleme vorzustellen, die sich auf diesen Zeitrahmen beziehen. Die Vorstellung der Herrschaftsmittel Athens (S.130 ff.) betont den Zusammenhang zwischen der maritimen Dominanz und den verschiedenartigen ökonomischen Profiten Athens, die man sich systematischer vorgestellt wünschen würde. Die ausführliche Diskussion des autonomía-Begriffs und der Infragestellung der Selbstbestimmung der Mitgliedsstaaten durch die epigraphisch bezeugten ‚Reichsdekrete’ (S.150-164; das Münzdekret des 5. Jh.s greift auf den Komposittext von E.Erxleben und nicht auf IG I ³ 1453 zurück) lässt den freilich in seiner Datierung umstrittenen Beschluss für die Eteokarpathier (IG I ³ 1454) unberücksichtigt und ebenso, dass die Athener sich mit dem Konzept durchaus arrangieren konnten. Die Weiterentwicklung der attischen Herrschaft zwischen 431 und 404 bleibt aus unklaren Gründen ausgespart, obwohl einige für die Administration der arché relevante und hier übersetzte Dekrete (S.158-164) erst aus diesem Zeitraum stammen und Athens ‚Tyrannis’ danach nicht statisch in dem Zustand verharrte, den sie bis 431 erreicht hatte. Generell wird der Peloponnesische Krieg nur gestreift. Stattdessen konzentriert sich der zweite Abschnitt dieses Kapitels auf die Zeit zwischen 404 und der Mitte des 4. Jh.s mit einem Schwerpunkt auf dem Korinthischen Krieg und dem Zweiten Attischen Seebund (2.2). Die Wiederbelebung Athens und seiner demokratischen Verfassung nach 404/3 sieht Sancho Rocher eng verbunden mit einer erneuten Beschwörung des „Ghost of Empire“ (so Ernest Badian), also in eine Kontinuität gestellt mit den arché-Bestrebungen des voraufgegangenen Jh.s. Die Quellenauswahl beleuchtet vor allem wichtige Elemente der Ereignisgeschichte sowie die inneren Parteiungen in den griechischen Staaten der Zeit des Korinthischen Krieges. Unter den Quellen, die für die Grundstrukturen des Zweiten Seebunds aussagekräftig wären, kommen die epigraphischen Zeugnisse etwas zu kurz; nur das berühmte Aristoteles- Dekret (IG II ² 43) ist aufgenommen, für das noch die ältere Edition von M.N.Tod zugrunde gelegt worden ist und nicht die z.B. für das attische Münzdekret von 375/4 und andere Inschriften nach 404/3 verwendete Ausgabe von P.Rhodes und J.Osborne.1 Dem Abschnitt über den Zweiten Seebund hätte im übrigen eine Untergliederung nach den Kriterien Organisationsstrukturen und historische Entwicklung gut getan.
Das 3. Kapitel betrachtet das Phänomen der stásis zwischen 457 und 403. Es geht dabei weniger um das gesamthellenische Phänomen als um die Entwicklung in Athen. Daher werden zunächst stáseis in der Bürgerschaft vor 432/1 behandelt, dann der Generationenkonflikt, der 415 zutage trat, und schließlich die beiden oligarchischen Regime von 412/1 und 404/3. Es wird jedoch nicht klar abgegrenzt, welche Formen der politischen Auseinandersetzung eine stásis ausmachen und welche nicht dazu zu zählen sind. Die Autorin beschäftigt sich hier daher u.a. mit den vor 432/1 gegen Freunde des Perikles gerichteten Prozessen. Was fehlt, ist eine Einbeziehung der stáseis in den Bündnerstaaten Athens (und Spartas), welche die Instrumentalisierung des ‚Parteienkampfes’ durch die Großmächte illustrieren würde.
Die ausgewählten, umfangreichen Quellen zu den oligarchischen Umstürzen (3.3-3.4) sind eingebettet in einen Abriss ihres Verlaufs sowie in eine Skizze des Peloponnesischen Krieges in seinem letzten Jahrzehnt. Die Umstürze zeigten, dass der innere Zusammenhalt der Demokratie brüchig geworden war, als die Herrschaft Athens zunehmend gefährdet erschien und die bisherigen Profite aller Gesellschaftsgruppen von der arché durch eine wachsende Belastung der ökonomisch bessergestellten Schichten abgelöst wurde.
Mit dem Bundesgenossenkrieg setzt Kap.4 ein, das bis zum Lamischen Krieg und dem Tod des Demosthenes reicht. Quellentexte und überleitende Erläuterungen betreffen vor allem die Entwicklung der Konflikte mit Makedonien, die ökonomische Erholung Athens in der Zeit des Euboulos sowie die Ära des Lykurg. Sie beleuchten die Schwäche der attischen Demokratie gegenüber Makedonien in außenpolitischer und militärischer Hinsicht, aber auch ihre Anpassungsfähigkeit an die durch Chaironeia grundlegend geänderten Bedingungen. Der Endpunkt ist gut gewählt, da während des Lamischen Krieges noch einmal hegemoniale Träume in Athen auflebten, die mit dem Sieg der Makedonen sogleich wieder zu Grabe getragen werden mussten.
Hinweise auf benutzte Quellensammlungen (hier vermisst man The Athenian Empire, Fourth Edition. Translated and Edited with Notes by Robin Osborne (LACTOR 1), London 2000) und Übersetzungen, ferner eine Zeittafel, ein Verzeichnis (ausschließlich) der übersetzten Quellen sowie ein Generalindex schließen den Band ab. Generell fällt auf, dass (mit wenigen Ausnahmen) Verweise auf die dritte Auflage der Inscriptiones Graecae sowie eine entsprechende Konkordanz fehlen. Abkürzungen (ATL, ML, LACTOR etc.) bleiben unerklärt, da ein entsprechendes Verzeichnis fehlt; man muss in den Literaturangaben suchen, um die Werke zu identifizieren, für die die Siglen stehen. Zuvor genannte moderne Autoren sind nicht immer in den abschnitts- oder kapitelweise angefügten Literaturangaben zu finden. Die Titel von Zumbrunnen (S.105) oder Schuller (S.146) sind z.B. auf S.109 bzw. S.225 nicht zu finden.
Schreibfehler sind einige zu entdecken (S.72 lies „archonship“; S.77 lies „Herman“; S.221: „policy“ statt „police“, S.224 und 225 lies „delisch“ und „Beziehungen“, S.337: IG II ² 457 etc.).
Selbstverständlich kann keine derartige Quellensammlung vollständig sein oder alle Bereiche abdecken und Laura Sancho Rocher bekennt sich denn auch dazu, persönliche Schwerpunkte zugrunde gelegt zu haben. Ihre Auswahlkriterien sind eindeutig von der politischen Geschichte bestimmt, wobei Finanzorganisation und Fiskalpolitik Athens hohe Aufmerksamkeit finden. Dennoch fragt sich, warum z.B. die Bauprogramme oder die Staatsfeste Athens weitgehend unberücksichtigt geblieben sind, obwohl sie sowohl für die innere Integration des politischen Systems Athens als auch für seine (nicht zuletzt ‚imperiale’) Selbstdarstellung in der griechischen Welt bedeutsam waren. Für das zentrale Thema des „imperialismo maritimo“ wäre ein Vergleich der Vor- und Nachteile der beiden Seebünde aus Sicht der sýmmachoi nützlich gewesen, die über die Autonomiediskussion hinausgeht. Trotz solcher Einschränkungen bietet das Buch von Laura Sancho Rocher jedoch einen guten, quellengesättigten und problemorientierten Einstieg in Kernfragen der attischen Geschichte während des 5. und 4. Jh.s.
Inhaltsverzeichnis
Introducción 9
1. Democracia: Instituciones, ideología y debate teórico 17
1.1. Democracia y demografía 17
Distribución de la población de ciudadanos (cuadro) 32
Bibliografía 33
1.2. La deliberación 35
Bibliografía 56
1.3. Archaí 59
Bibliografía 71
1.4. Justicia y control popular del poder 73
Bibliografía 83
1.5. Origen de las ideas democráticas y teoría de la democracia 85
Bibliografía 106
2. Arché marítima y democracia 111
2.1. La Pentecontecia 111
2.2. La primera mitad del siglo IV y la Segunda Liga naval 181
Bibliografía 221
3. Stásis (457-403 a. C.) 227
Bibliografía 284
4. Atenas frente a Macedonia (357-322 a. C.) 289
Bibliografía 329
Ediciones de recopilaciones epigráficas y traducciones 349
Cronología 351
Índice de textos por autores 351
Índices (analítico y de nombres propios) 371
Notes
1. Greek Historical Inscriptions 404-323 BC, Oxford 2003.