Der poetische Brief lädt wie kaum eine andere Literaturgattung zu manipulativem Schreiben ein: Adressat ist eine Einzelperson, die Kommunikation kann also paßgenau auf das Gegenüber abgestimmt werden. Anders als im dramatischen Dialog kommt aber (im einzelnen Brief) nur eine Seite zu Wort, die alles daran setzen darf, ihren subjektiven Interessen Geltung zu verschaffen; dabei erlaubt die Schriftform von vorneherein jeden Kunstgriff literarischer Gestaltung. Christine Ratkowitsch hat die „tendenziöse“ Darstellung des Paris/Helena-Mythos in fingierten Briefpaaren aus Antike und Mittelalter untersucht.
In einer kurzen Einleitung (5–17) skizziert Ratkowitsch zunächst, wie antike und mittelalterliche Dichter den trojanischen Sagenkreis verarbeiteten, wobei sie ausführlicher auf die anonyme Versepistel Deidamia Achilli vom Ende des elften Jahrhunderts und deren Bezug zum dritten Heroidenbrief ( Briseis Achilli) eingeht. Je eins der drei Hauptkapitel ist dann dem Doppelbriefpaar epist. 16/17 Paris/Helena (18–55) sowie den Briefpaaren carm. 7/8 Paris/Helena (56–76) und 200/201 Baldricus/Constantia (77–91) Balderichs von Bourgueil gewidmet. Einer zusammenfassenden Schlußbetrachtung (92–95) folgen Literaturverzeichnis (96–99) und Index Locorum (100–104).
„Mythos ist … offen für unterschiedliche Interpretationen“ (Ratkowitsch 5), und die Briefschreiber stellen ihn jeweils gemäß ihren besonderen Intentionen verschieden dar. So flechten anders als Paris in epist. 16 charakteristischerweise sowohl Oenone im fünften Heroidenbrief als auch Helena in epist. 17 in ihrejeweiligen Schilderungen des Schönheitsurteils auf dem Ida das Detail der Nacktheit der drei Göttinnen ein; Helena, die die Verläßlichkeit des Berichts ohnehin in Frage stellen möchte, eher neutral, Oenone dagegen aus Eifersucht „boshaft überspitzt“ (Ratkowitsch 45f). Im Kapitel zum antiken Doppelbriefpaar untersucht Ratkowitsch dieses und weitere Beispiele divergierender Mythennutzung; dabei stützt sie sich weitgehend auf schon bekannte und in den Kommentaren verzeichnete Beobachtungen, geht aber vor allem dem Vergleich mit Vergils Aeneas und Dido in neuer Gründlichkeit nach. Tatsächlich lassen sich diese beiden Mythen bis in viele Einzelheiten hinein kontrastieren: Aeneas gehorcht dem fatum und entscheidet sich gegen die Liebe zur Gastgeberin, um Volk und Stadt zu gründen; Paris sieht sich ebenfalls einem Götterspruch unterworfen und tritt seiner Liebe als advena 1 gegenüber, folgt aber seinem Gefühl und wird damit Volk und Stadt zerstören. Wenn Ratkowitsch hier viele interessante Parallelen zieht, übersieht sie dabei doch freilich, daß diese nur in wenigen Ausnahmefällen durch wirklich signifikante Anklänge in Formulierung oder Motivik markiert sind — ganz im Gegensatz zu denen mit dem fünften Heroidenbrief, anderen Einzelbriefen sowie der ovidischen Liebesdichtung, und ebenfalls im Gegensatz zu den zahlreichen klaren Bezügen zur Aeneis in Balderichs Briefpaar. Daß der Doppelbriefdichter gezielt auf Vergil verweisen wollte (so Ratkowitsch öfters), wird man also gerade nicht behaupten können, und insbesondere sehe ich keine tragfähige Grundlage für ihren Schluß (39–41 und 54f), der Dichter habe Vergils von augusteischer Ideologie getragene Manipulation des Mythos konterkarieren wollen, indem er seine eigene dagegensetzte. Die unterschiedliche Mythenbehandlung in den Doppelbriefen und bei Vergil erklärt sich vielmehr mühelos und vollständig schon aus den jeweils eigenen literarischen Zielsetzungen der Autoren.
Das Kapitel zu Balderichs carm. 7/8 ist die Erweiterung einer älteren Arbeit Ratkowitsch‘ selbst.2 Beim mittelalterlichen Dichter wird der Stoff zur Folie für die Darstellung christlicher Tugenden, nicht zuletzt der ehelichen Treue. Von zentraler Bedeutung ist die allegorische Deutung durch Fulgentius im frühen sechsten Jahrhundert: Paris hat sich auf dem Ida zwischen vita voluptuosa, vita activa und vita contemplativa, jeweils vertreten durch Venus, Iuno und Minerva, zu entscheiden — und entscheidet sich falsch, nämlich gegen das Mönchsideal der vita contemplativa. Balderich selbst hat mit carm. 154 eine Versifikation von Fulgentius‘ Mythologiae hinterlassen und setzt Kenntnis der Allegorik auch beim Leser seines Paris/Helena-Briefpaars voraus.3 Paris fehlt es dabei aber nicht nur an Einsicht in diesen Irrtum, er erweist sich auch sonst als schlechter Mytheninterpret, etwa wenn er in seiner Polemik gegen griechische Homosexualität ausgerechnet an die Sagengestalt des Ganymedes, seines trojanischen Verwandten, anknüpft (Ratkowitsch 60).
Am meisten Neues hat Ratkowitsch zum Briefpaar carm. 200/201 zu sagen. Balderich, der offenbar Fehlinterpretationen seiner von heidnischer Liebesdichtung angeregten Werke und daraus resultierenden Angriffen entgegentreten wollte, reflektiert hier ausdrücklich über sein eigenes Schaffen und spricht sich in Person der Nonne Constantia4 die Fähigkeit zu, die antiken Mythen „richtig“ zu erklären: hystorias Grecas et earum mistica novit / atque quid hec aut hec fabula significet (201, 33f; dazu Ratkowitsch 84). Constantias Antwort ist dabei gleich wieder als Negativbeispiel irrigen Verständnisses angelegt: Durch „selektive Interpretation“ (Ratkowitsch 91) entwickelt sich ihr Schreiben, darin Balderichs Brief genau entgegengesetzt, vom amor spiritalis zu einem unklaren Schwanken zwischen diesem und dem amor carnalis. Die Frage, warum Balderich so am Ende eine „falsche“ Interpretation unkorrigiert stehen läßt, stellt sich Ratkowitsch nicht; mir drängt sich eine psychologische Deutung auf: Möglicherweise ist Constantias Brief als Stimme eines dissoziierten, da für den Mönch Balderich weder in re noch, in eigener Person, in verbo auslebbaren Sexualverlangens zu verstehen.
Ein Schönheitsfehler der Abhandlung ist Ratkowitsch‘ Umgang mit den echtheitskritischen Problemen bezüglich der antiken Gedichte. Daß sie die Doppelbriefe für echten Ovid hält, ist zwar derzeit kein Außenseiterstandpunkt,5 für die mittelalterliche Rezeptionsgeschichte im allgemeinen ohne Belang — die Gedichte sind kaum später als im frühen ersten nachchristlichen Jahrhundert entstanden6 — und auch für Ratkowitsch‘ Ausführungen im besonderen nur an einer Stelle am Rande von Bedeutung.7 Darüber hinaus ist ihr aber offenbar nicht bewußt, daß Balderich die Passage epist. 16, 39–144, obwohl vermutlich echt, schwerlich gekannt haben kann. Diese Verse, die uns erst in der Editio Parmensis 1477 in Italien greifbar werden, stammen zwar in der Tat recht sicher vom Doppelbriefdichter selbst,8 können aber keinesfalls in der ursprünglichen Fassung des Parisbriefs gestanden haben, sondern sind nur als nachträgliche Ergänzung des bereits fertiggestellten Gedichts erklärbar und wurden vermutlich zunächst getrennt von epist. 16 im Anschluß an epist. 21 weitergegeben, wo sie der Vulgata schon früh zusammen mit 21, 147ff abhanden kamen.9 Auf welcher Stufe der arkanen Nebenüberlieferung sie dann den ihnen vom Dichter offenkundig zugedachten und in der Editio Parmensis zu beobachtenden Platz nach epist. 16, 38 tatsächlich einnahmen, ist durchaus unklar; in jedem Fall wäre, wenn sie im 11./12. Jahrhundert in Frankreich einem Literaten vom Range Balderichs vorgelegen hätten, angesichts der da schon munteren Handschriftenproduktion kaum vorstellbar, daß diese Tradition noch danach so vollständig hätte untergehen können, daß der Passus ins 15. Jahrhundert nur in einer einzigen Handschrift in Italien überlebte. Bei oberflächlicher Prüfung habe ich auch keine zwingenden Indizien dafür finden können, daß Balderich diese Verse gekannt hätte; im Gegenteil, daß seine Helena das Schönheitsurteil „viel ausführlicher“ (Ratkowitsch 67) behandelt als sein Paris, könnte gut von den vergleichbaren Proportionen10 in der ihm geläufigen, kürzeren Fassung des Doppelbriefpaars beeinflußt sein.
Im Ganzen beeinträchtigen die hier formulierten Einwände aber nicht entscheidend den Wert der Untersuchung. Ratkowitsch hat, wenn nicht in jeder Einzelheit überzeugende,11 so doch immer anregende, gut lesbare Interpretationen vorgelegt und eine interessante Facette der mittelalterlichen Aneignung antiker Dichtung und Mythologie ausgeleuchtet.12
Notes
1. So bezeichnen sowohl Helena als auch Dido ihre Liebhaber, epist. 17, 5 bzw. Aen. 4, 591; dazu Ratkowitsch 34 und 42.
2. Die keusche Helena. Ovids Heroides 16/17 in der mittelalterlichen Neudichtung des Baudri von Bourgueil, WS 104, 1991, 209–236.
3. So in Grundzügen die Linie Ratkowitsch‘. Anders Jost Eickmeyer, Der jesuitische Heroidenbrief. Zur Christianisierung und Kontextualisierung einer antiken Gattung in der frühen Neuzeit, Berlin–Boston 2012, 74–76.
4. Ratkowitsch hat sicher recht, wenn sie den Briefwechsel als fingiert ansieht und Constantias Antwort nicht etwa der historisch realen Nonne zuschreibt (77 und 83 Anm. 188). Eckart Conrad Lutz, Schreiben, Bildung und Gespräch. Mediale Absichten bei Baudri de Bourgueil, Gervasius von Tilbury und Ulrich von Liechtenstein, Berlin–Boston 2013, 88 Anm. 117, läßt die Verfasserfrage wieder unentschieden.
5. Nichtovidische Autorschaft vertraten, von Ratkowitsch nicht erwähnt, unter anderem: Marcus Beck, Die Epistulae Heroidum XVIII und XIX des Corpus Ovidianum. Echtheitskritische Untersuchungen, Paderborn 1996; Wilfried Lingenberg, Das erste Buch der Heroidenbriefe. Echtheitskritische Untersuchungen, Paderborn 2003; dort 25 und 253–274 (ich nehme zwei verschiedene Autoren für Einzel- und Doppelbriefe an).
6. Zur Datierung Beck 318 und Lingenberg 273f; die Einzelbriefe scheint schon Seneca gekannt und für echten Ovid gehalten zu haben (Lingenberg 153f).
7. 38–40 referiert Ratkowitsch ablehnend Interpretationen, in denen Paris auf die eine oder andere Weise mit Ovid identifiziert wurde; wenn man die Unechtheit akzeptiert, sind solche Gedankenspiele von vorneherein gegenstandslos.
8. Die wesentlichen Argumente bei Edward J. Kenney, Two disputed passages in the Heroides, CQ 29, 1979, 394–431. Ratkowitsch geht 21 Anm. 26 und 46 Anm. 102 ausdrücklich von der Echtheit aus.
9. Lingenberg (wie oben Anm. 5) 254–258. Der Zusatz ergänzt die beiläufige Erwähnung des Schönheitsurteils in 16, 165–170 um eine sehr ausführliche Schilderung desselben, wie sie dem Dichter offenbar erst während oder nach der Abfassung von Helenas Antwort notwendig erschienen war.
10. In den Doppelbriefen ohne 16, 39–144 berührt Paris das Thema in sechs Versen, Helena in zwanzig; Balderichs Paris schreibt fünf Verse dazu, seine Helena elf (die Stellen: epist. 16, 165–170. 17, 117–136. carm. 7, 223–227. 8, 8–18).
11. Die eine oder andere Deutung wirkt etwas sorglos aus der Hüfte geschossen; ein Beispiel: Laut Ratkowitsch 25 „impliziert die Aussage, Helena übertreffe ihre Mutter Leda an Schönheit, daß auch Paris sich selbst Jupiter zumindest als ebenbürtig, wenn nicht als überlegen empfindet.“ Diese Worte ( epist. 16, 85f „pulchrae filia Ledae / ibit in amplexus, pulchrior illa, tuos“) sind aber im Text Venus in den Mund gelegt und lassen sich nicht ohne weiteres für Paris‘ eigene Empfindungen auswerten.
12. Druckfehler sind selten und bis auf 50 Anm. 116, wo spirare zu sperare verschrieben ist, unbedeutend. Etwas störend die französischer typographischer Konvention folgenden Spatien vor zusammengesetzten Satzzeichen.