Unter den siebzehn griechischen Papyrusurkunden, die Feissel, Gascou und Teixidor in den Jahren 1995 bis 2000 als “Documents d’archives romains inédits du Moyen Euphrate (IIIe s. après J.-C.)” publiziert haben,1 finden sich vier Petitionen von Privatpersonen an Amtsträger aus der Zeit von 243 bis spätestens 256 n. Chr. Es geht um die Verfolgung von Gewaltdelikten und gerichtlichen Schutz vor befürchteter Gewalt. Zusammen mit P. Bostra 1, einer weiteren Petition aus der Provinz Arabia des Jahres 260 n. Chr.,2 sind sie der “filo conduttore” (S. 166) für Merolas Darstellung der Justizverwaltung in den römischen Provinzen der Kaiserzeit. Dabei werden eigene, bereits publizierte Arbeiten zu P. Euphr. 2 und 3-4 ausgebaut (und zum Teil wörtlich wiederholt).3 Aus dem überschaubaren Urkundenbestand werden Elemente und Fragestellungen isoliert und im Wege des Vergleichs vor allem an das ungleich größere Material der gräkoägyptischen Papyri herangetragen. Die Darstellung hat teilweise den Charakter einer (durchaus wertvollen) bibliographie raisonnée mit Quellensammlung. Eigenständigkeit und Innovation eines Diskussionsbeitrags erreicht die Arbeit nur punktuell. Mitunter vermisst man die nötige – gerade auch juristische – Präzision. Entlang dem Aufbau des Buchs und den zentralen Quellen seien einige Beobachtungen referiert, auf die sich dieses Urteil gründet:
Nach einer historisch-topografischen Einleitung werden die fünf Texte entsprechend der editio princeps mit italienischer Übersetzung und kurzer Zusammenfassung wiedergegeben. Die Übersetzung von P. Euphr. 1 übernimmt Merola (S. 16 Anm. 55) dabei etwas unkritisch von Nasti.4 Die Petition ist in Antiochia verfasst und auf den fünften Tag vor den Kalenden des September (245 n. Chr.) datiert; die Petenten berichten, sie hätten (in Antiochia) “acht Monate lang deines Gerichts geharrt”, bis die Sache – wie sich der Statthalter erinnere – “neun Tage vor den neulich/zuletzt ( prosphaton) vergangenen Kalenden des September” zur Anhörung gekommen sei und der Statthalter angekündigt habe, er werde den Fall entscheiden, wenn er “in dieser Gegend sei”. Da die September- Kalenden des Jahres 245 n. Chr. zum Zeitpunkt der Petition noch nicht gekommen sind, dürfte es sich bei den “neulich/zuletzt vergangenen September-Kalenden” um diejenigen des Jahres 244 n. Chr. handeln – und nicht um die des Jahres 245 n. Chr.5 Die Petenten warten dann nicht seit vier Tagen, sondern seit einem Jahr auf ein Urteil. Daher ihre Aussage, die Angelegenheit sei bislang nicht entschieden worden und ihre Nachbarn machten sich (nunmehr) daran, sie gewaltsam aus dem Besitz zu vertreiben (weshalb sie Besitzschutz beantragten); sie wäre nicht recht verständlich, wenn der Besuch des Statthalters und sein Urteil bislang erst vier Tage auf sich warten ließen. Das heißt aber auch, dass der Statthalter innerhalb eines Jahres nicht durch “diese Gegend” gekommen ist, was für die Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit eines “consueto giro per l’amministrazione della giustizia ( conventus)” (S. 17) nicht ohne Bedeutung ist.
In P. Euphr. 2 schreibt der Petent, dass er wegen der Besetzung seines Weinbergs durch einen gewalttätigen Gegner auf die Hilfe des Statthalters angewiesen sei (Z. 13): oudamothen echô egdikias tychein ean mê hê sê synepineusêi moi tychê. Merola übersetzt: “non ho alcuna possibilità di ottenere la sua punizione a meno che la tua volontà non acconsenta” (S. 20). “Sua punizione” für egdikia ist zu einseitig übersetzt: Der Petent will Wiedereinsetzung in den Besitz und Schadensersatz.6 Der Statthalter soll nicht einer “Bestrafung” des Gegners (durch wen?) zustimmen, sondern “Rechtsschutz” für den Petenten bewilligen.
Der Abschnitt “I destinatari delle petizioni” (S. 35-41) entfaltet die für das Folgende entscheidenden Informationen der Urkunden. Die Petition P. Euphr. 1 richtet sich an Iulius Priscus, vir perfectissimus ( diasêmotatos; also ritterlichen Ranges), Präfekt ( eparchos) von Mesopotamia und diepôn tên hypateian mit Sitz in Antiochia; ein ritterlicher diepôn erscheint jeweils auch in P. Euphr. 2 und 3-4. In allen dreien erkennt Merola – unter Verteidigung einer etablierten Literaturmeinung – Amtsträger, denen Syria Coele in Zeiten besonderer militärischer Bedrohung interimistisch anvertraut wurde (S. 35-40). Grundsätzlich steht dieser kaiserlichen Provinz ein Legat senatorischen Ranges voran, für den die Bezeichnung hypatikos (entspr. consularis) Verwendung findet, wie der ebenfalls in P. Euphr. 3-4 erwähnte vir clarissimus ( tôi lamprotatôi hêmôn hypatikôi). Die Statthalterschaft heißt hypateia. Die bewussten Ritter “besorgen”/”verwalten” dieses Amt. Die Bezeichnung hypatikos wird für sie in den Euphrat- Papyri wohlgemerkt nicht verwendet.7 In P. Euphr. 1 und 2 findet desweiteren Claudius Aristo(n), ” procurator ( epitropos) in Appadana” Erwähnung.8 Adressat von P. Euphr. 3-4 ist ein Präfekt Iulius Proculus, praepositus praetenturae.9 P. Euphr. 5 geht an einen Zenturio (ein solcher war auch in den Fall von P. Euphr. 2 involviert), P. Bostra 1 an einen beneficiarius.
Die genannten Funktionsträger geben Merola Anlass, in drei Kapiteln die Rolle von Statthalter (S. 45-79), Militärpersonen (S. 81-136) und “altri titolari” (S. 137-163) in der Rechtsprechung auf breiter Quellenbasis darzustellen.
“Il ruolo dei militari” nimmt dabei knapp ein Drittel des Buchs ein: P. Euphr. 2 belegt, dass man sich mit Eingaben an den Zenturio wandte, um Hilfe gegen andauernde Gewalt zu erhalten – Merola: “come organo di polizia” (S. 83). In P. Euphr. 5 hingegen sind es Vorbereitungen einer Anklage ( katêgorein), in die der Zenturio involviert wird. Zeugen wurden vor ihn gebracht, er selbst soll das Dokument “zur Bezeugung” ( martyrias charin) abzeichnen ( hyposêmiôsasthai) – was er auch tut: acceptavi (mit Datum). In P. Bostra 1 sind beide Elemente vorhanden: Vom beneficiarius erbittet die Petentin Hilfe durch Feststellung und Beendigung der Gewalt; “zu dem für die gute Ordnung ( eutaxia) zuständigen Zenturio” sollen die Gewalttäter “geschickt”/”überstellt” werden ( anapempsai), weil die Petentin vorhat sie anzuklagen. Für sich genommen bieten die drei Petitionen kaum Veranlassung darüber nachzudenken, ob sich Parteien von einem Zenturio – außerhalb von dessen Zuständigkeit für Militärpersonen und ohne Delegation durch den Statthalter – ein “Urteil” in ihrem Rechtsstreit erwarten, ob Zenturionen in diesem Bereich richterliche Funktionen “usurpieren” oder ob sie ihnen gar von Rechts wegen zukommen. Merola lässt sich dennoch – unter Aufarbeitung der Literatur seit Mitteis und Mommsen – auf eine Diskussion der Problematik anhand der Quellen aus dem römischen Ägypten ein. Mehrmals weist sie auf Papyrusbelege hin, wonach sich Privatleute von Zenturionen “una decisione, una sentenza” (S. 100) erwarteten, “una soluzione del problema” (S. 101), “la soluzione del caso, di fatto una sentenza” (S. 106). Hier wäre der Begriff der “sentenza” zu konkretisieren. Dass die Hoffnung auf Hilfe durch den nächsten erreichbaren Vertreter staatlicher Gewalt außerdem nicht mit der berechtigten Erwartung an einen Zenturio und diese nicht mit der rechtlichen Kompetenz des Zenturios deckungsgleich ist, erkennt Merola (S. 106): Die “speranza di ottenere dal centurione la soluzione del caso” besteht in den von ihr untersuchten Fällen zweifellos; sie war aber nur “forse …, in determinate circonstanze” begründet; die Frage, ob “la funzione giudiziaria esercitata dai centurioni avesse un qualche fondamento giuridico”, ist davon zu trennen – und aus den Petitionen nicht zu beantworten. Im Ergebnis scheint mir Merola trotz der Quellenarbeit hier nicht über die vorhandene Literatur hinauszukommen.
“Interdetti” (S. 141-145): In P. Euphr. 1 soll der Besitz der Petenten bis zum Urteil gesichert und in P. Euphr. 2 (wahrscheinlich) der vorenthaltene Besitz wiederhergestellt werden. Nach Feissel/Gascou “erinnert” das (“évoque”) an die Interdikte unde vi und uti possidetis.10 Merola übernimmt “evoca”, spricht aber dann – unter Verweis auf Nasti – vom “riferimento all’interdetto [che] si trae chiaramente dalla sostanza della richiesta, pur se manca … una esplicita menzione di esso” (S. 142). In P. Euphr. 1 beruft man sich ausdrücklich und ausschließlich auf Kaiserkonstitutionen (Z. 11 f.: keleuousin de hai theiai diataxeis). Anderweitig überlieferte Konstitutionen (S. 143 Anm. 23/24) beziehen sich zum Teil explizit auf das “klassische” Interdiktenverfahren ( C. 8.4.4, 294 n. Chr.: ad instar interdicti unde vi). Aber wer sich auf Kaiserkonstitutionen beruft, bedarf nicht mehr des umständlichen alten Verfahrens; die Grundsätze und Ziele des Besitzschutzes sind in die cognitio des Kaisers und seiner Beamten eingegangen:11 interdicta autem licet in extraordinariis iudiciis proprie locum non habent, tamen ad exemplum eorum res agitur ( C. 8.1.3, 293 n. Chr.). Dass die Interdikte keine namentliche Erwähnung finden, kann daher nicht überraschen. Ob man hier über ein vorsichtiges “evocare” hinaus überhaupt noch von “Interdikten” sprechen sollte,12 sei dahingestellt. P. Euphr. 1 zeigt eine “penetrazione del diritto romano nella prassi giuridica delle province orientali” (S. 141) durch das Kaiserrecht und das Kognitionsverfahren.
Das Amt des praepositus praetenturae identifiziert Merola – mit guten Argumenten – mit dem des anderweitig belegten dux ripae (S. 156). Diese besondere Funktion der Grenzsicherung habe man verschiedenen Amtsträger – procurator, praefectus – anvertraut. Vom praepositus begehrt der Petent in P. Euphr. 3-4 die Überstellung seiner gewalttätigen Gegner an den Statthalter, “weil die Verbrechen, derer ich sie anklage, eines höheren Richters ( meizonos dikastou) bedürfen” – für Merola “un punto importante per valutare l’esistenza in provincia di corti alternative a quelle del governatore” (S. 161): Heißt das nämlich, dass der praepositus ein “Richter niedrigeren Ranges” ist? Merola gelangt auf S. 163 an diesen Punkt; aber: “Questo non significa che il praepositus avesse una competenza giudiziaria definita” – dem ist zuzustimmen; zu guter Letzt: “ma ancora una volta un soldato si trova coinvolto nell’amministrazione della giustizia in una regione periferica dell’impero” – das ist evident.
Notes
1. JS 1995, S. 65-119: “I. Les petitions (P. Euphr. 1 à 5)”; JS 1997, S. 3-57: “II. Les actes de vente-achat (P. Euphr. 6 à 10)”; JS 2000, S. 157-208: “III. Actes divers et lettres (P. Euphr. 11 à 17)”.
2. J. Gascou, “Unitès administratives locales et fonctionnaires romains”, in: W. Eck (Hg.), Lokale Autonomie und römische Ordnungsmacht in den kaiserzeitlichen Provinzen vom 1. bis 3. Jahrhundert (München 1999), S. 62. Am Beginn dieses Texts ist Basiliskôi (als Name) groß zu schreiben (anders Merola, S. 26).
3. G. Merola, “Sull’amministrazione della giustizia nelle province: il P. Euphr. 2″, in: Fides, humanitas, ius V (Napoli 2007), S. 3577-3596 (zitiert S. 18 Anm. 61); dies., ” P. Euphr. 3-4: La giurisdizione in un villaggio della Celesiria”, SDHI 76 (2010) 385-395 (zitiert S. 22 Anm. 69).
4. F. Nasti, “Un nuovo documento dalla Siria sulle competenze di governatori e procuratori provinciali in tema di interdetti”, Index 21 (1993) 366 f.
5. So aber Nasti/Merola und bereits Feissel/Gascou, o. Anm. 1 [1995], S. 73 mit Anm. 17, die aus Gründen der “Evidenz” in der Datierung eine missglückte Bezeichnung für den “jüngst vergangenen neunten Tag vor den (kommenden) Kalenden des September” sehen wollen.
6. Feissel/Gascou, o. Anm. 1, S. 88 übersetzen egdikias mit “obtenir reparation”. Das entspricht zumindest der Forderung des Petenten nach Ersatz für die Früchte des Grundstücks (Z. 17).
7. So aber Nasti, o. Anm. 4, S. 367/374 Anm. 3, der Merola die “Korrektur” einer früheren Interpretation von hypateia durch Feissel/Gascou zuschreibt (S. 35 Anm. 112), die in Wahrheit aber eine (ihrerseits missverständliche) Bemerkung W. Ecks unzutreffend wiedergibt. Bei Eck, ZPE 90 (1992) 201 liest man: ” hypatikos ist die ganz übliche Benennung für einen Statthalter in einer kaiserlichen Provinz geworden, so sehr, daß selbst von einem ritterlichen temporären Amtsträger in Syria Coele im J. 245 gesagt werden konnte: tôi diasêmotatôi eparchôi Mesopotamias, dieponti tên hypateian“; bei Nasti wird daraus: “in effetti che il termine hypatikos venga usato in riferimento al governatore di una provincia Caesaris è ben evidente dalle testimonianze epigrafiche; anche nel caso che qui interessa esso sembra indicare solo l’incarico temporaneo di Prisco in Syria Coele : così W. Eck …” Auch Merola erwähnt (nach Nasti) Eck: “Ad un incarico interinale aveva già pensato W. Eck …” Dass auch mit lamprotatos hêmôn hypatikos in P. Euphr. 3-4 ein Ritter (nämlich Pomponius Laetianus) gemeint wäre, vermutet T. Gnoli, Roma, Edessa e Palmira nel III sec. d.C. (Pisa/Roma 2000), S. 90 f., was Merola – implizite und zu Recht – ablehnt (S. 40).
8. Merola spricht – wie größte Teile der Literatur – ohne Weiteres vom “procuratore di Appadana” (S. 17 und passim); beachtenswert jedoch P. Eich, Zur Metamorphose des politischen Systems in der Kaiserzeit (Berlin 2005), S. 133: Aristos Prokuratorenamt muss keinen eigenen Bezug zu Appadana haben (wohl aber die Funktion des praepositus praetenturae, s. u. Anm. 9). Die Arbeit Eichs mit dem für Merolas Fragestellung besonders wichtigen Abschnitt S. 124-135 findet keine Erwähnung.
9. Dass auch der procurator Aristo praepositus praetenturae ist, vermutet (neben den von Merola S. 157 Anm. 81 Zitierten) Eich, o. Anm. 8, S. 133, der gerade wegen der möglichen Kombination von procurator und praepositus vor Schlussfolgerungen aus den Maßnahmen Aristos auf die procuratorische Jurisdiktion warnt.
10. O. Anm. 1 (1995), S. 74; s. auch S. 90: “écho à l’interdit unde vi.”
11. S. D. Nörr, “Prozessuales aus dem Babatha-Archiv”, in: Mélanges A. Magdelain (Paris 1998), S. 333 Anm. 98.
12. Oder gar von interdicta utilia, (prätorisch) modifizierten Interdikten, wie dies Nasti, o. Anm. 4, S. 374 Anm. 2 tut (referierend Merola S. 142 mit Anm. 21: “ben argomentato”); das Phänomen des interdictum utile ist im Kognitionsverfahren nicht mehr zu erwarten, vgl. etwa D. 3.5.46.1 (Paul. 1 sent.; = PS. 1.4.10).