Homers Schilderungen der Institutionen und Geschehnisse in Ilias und Odyssee sind seit der Antike untersucht worden, und spartanische Einrichtungen haben gerade in den letzten Jahren mancherlei Aufmerksamkeit gefunden. Schulz hat dennoch mit seiner den homerischen Räten und der spartanischen Gerusie gewidmeten Untersuchung eine bislang nur unzulänglich oder gar unzutreffend beachtete Lücke entdeckt, und er hat sie in ausgezeichneter Weise gefüllt.
Sein Anliegen ist vor allem institutionengeschichtlich ausgerichtet. “Verfassungsrechtlich”, so man es anachronistisch ausdrücken will, denn Schulz geht es um die Rolle von “Ältestenräten” in Ilias und Odyssee sowie in Sparta. Beides berührt sich auch zeitlich, da Schulz Homer auf das Ende des 8. Jahrh. v. Chr. ansetzt und der legendäre Schöpfer der spartanischen Gerusie, Lykurg, der Zeit bis ins 8. Jahrh. v. Chr. zugewiesen wird.1 Damit liegt es nah, nach möglichen Verbindungen zwischen den verschiedenen Institutionen zu fragen. Diesen drei Gesichtspunkten gelten folgerichtig die drei Hauptteile von Schulz’ Untersuchung – “Die homerischen Räte”; “Die spartanische Gerusie”; “Das Verhältnis der spartanischen Gerusie zu den homerischen Räten”. Literatur- und Abkürzungsverzeichnis, ein Anhang mit einer deutsch- und einer englischsprachigen Zusammenfassung sowie diverse Indizes beschließen das Werk. Hervorzuheben ist der Hinweis auf die Möglichkeit einer Internet-Recherche über die Homepage des Verlages.
In einer kurzen Einleitung begründet und schildert Schulz seine Vorgehensweise. Diese ergibt sich aus dem unten Folgenden. Lediglich die Ausführungen am Ende der Einleitung sind an dieser Stelle hervorzuheben. Schulz betont da unter anderem Kern und Grenzen seiner Untersuchung: Er will keine vorgefaßte These beweisen, sondern die Quellen dahingehend analysieren, in wie weit sie seiner Fragestellung entsprechen. Dem ist nichts entgegen-zuhalten!
Der erste Hauptteil, die Ausführungen zu den homerischen Räten (S. 5-89), zeigt bereits, wie Schulz an seine Aufgabe herangeht. Ihm liegt an einer umfassenden Sichtung der für seine Fragestellung einschlägigen Quellen, der darin verwendeten Terminologie, der zu seinem Thema erkennbaren Institutionen und der sein Thema betreffenden Sekundärliteratur. Die Vielzahl der erörterten Gesichtspunkte und der herangezogenen Quellen könnte verwirren. Schulz fängt dies aber über seine klar gegliederten Ausführungen und seine Einleitungen sowie seine eingestreuten Resümees bestens ab. Zudem machen zahlreiche Zitate Schulz’ Ausführungen anschaulich.
Schulz leitet den ersten Hauptteil mit einem kurzen Überblick ein. Erwähnt, aber nicht vertieft werden die Fragen nach der Historizität der homerischen Epen, der möglichen Datierung des Geschilderten, der Entstehungszeit der Schilderung und nach der anzunehmenden Verfassung der den Hintergrund bildenden Gemeinwesen. Schulz betont, daß er auf all dies nicht weiter eingehen kann, sondern die – allem Anschein nach – herrschende Meinung zugrunde legen muß. Ihm soll es allein um die verschiedenen Typen von Ratsversammlungen gehen, und er umreißt diesen Ansatz und nennt die von ihm vorrangig zu berücksichtigende Sekundärliteratur. Im nächsten Abschnitt schildert er die Typen der von ihm identifizierten Ratsversammlungen; Typmerkmale sind Anlaß, Ziel, Rahmen und Tagungsort. Danach führt Schulz die für die als Ratsmitglieder auftretenden Personen und die Institution des Rates verwendeten Bezeichnungen vor Augen, für das eine vor allem gerontes, für das andere vor allem boule.
Unter “Räte und Ratsmitglieder” werden im Folgenden die an den Ratsszenen beteiligten Personengruppen herausgearbeitet. Für die Achaier zeigt Schulz auf, daß es zwei Räte gibt “Alle Geronten bilden den großen Rat, hingegen ein Teil der Basilees den kleinen Rat” (S. 15); die beiden Gruppen überschneiden sich. Die Trojaner haben gleichfalls zwei Räte, nämlich die Demogeronten des Priamos und Hektors eigenständigen Rat. Erstere sind zu alt, um noch zu kämpfen; Hektors Rat besteht aus Kämpfern. Auch bei den Phäaken gibt es zweierlei Räte. Zum Götterrat hingegen lassen sich nur verhältnismäßig wenig Aussagen machen. Zahl der Ratsmitglieder, Voraussetzungen für die Mitgliedschaft (Alter, Würde usf.) und Aufnahme in den Rat sind weitere erörterte Gesichtspunkte, ferner Einzelheiten zur Einberufung der jeweiligen Räte. Schulz zeigt dann den in den Quellen erkennbaren Ablauf derartiger Versammlungen, ihre Themen, das Verhältnis von Rat und Volksversammlung, das Rederecht im Rat und in der Volksversammlung sowie den mehr oder minder typischen Ablauf von Ratssitzung und Volksversammlung; ferner den aus den Quellen nachvollziehbaren Ablauf von Beratungen sowie die Art der getroffenen Entscheidung im Benehmen mit den Beteiligten: Widerspruch, Nachgeben und Kompromiß; ein letzter Appell an die Versammlung und deren abschließende Beratung bis zur – letztlich – einhelligen Entscheidung sind andere erörterte Gesichtspunkte, ferner einige weitere Detailfragen, nämlich die nach dem Konsens zwischen Rat und Versammlung und der diesbezüglichen Stellung eines Herrschers. Zu all dem zeigt Schulz, daß letztlich alles auf einen Konsens der Beteiligten drängt.
In einem weiteren Abschnitt (1.6) “Geras: Aufgaben, Belohnung und Stellung (der Geronten)” zeigt Schulz vorab, daß Homer mit dem Begriff geras eine Ehrenposition2 bezeichnet, welche Beratung, Gerichtsbarkeit, Tragen eines Zepters, Empfang von Staatsgästen, Gesandtschaften unter Beteiligung von Ratsmitgliedern, religiöse Implikationen, Verleihung von Land und die Teilnahme am Königsmahl umfaßt. Im nächsten Abschnitt (“1.7 Die Räte in der homerischen Welt”) verneint Schulz einen grundlegenden Unterschied zwischen den Räten der Trojaner und denen der Griechen und hält als Fazit – überzeugend – fest, derartige Räte seien übliche Institutionen gewesen. Zur Frage der “histori¬schen und kulturellen Einordnung” (1.8) stellt Schulz zum einen vorsichtig fest, die Ilias zeige “nicht unbedingt” verschiedene Institutionen aus verschiedenen Kulturen, zum anderen sieht er hinsichtlich der verschiedenen Räte keine institutionengeschichtliche Entwicklung zwischen Ilias und Odyssee.
Besondere Beachtung verdienen im Abschnitt 1.6 (“Geras…”) die Ausführungen von Schulz zur Gerichtsszene (Il. 18,497-509) in der Beschreibung von Achills neuem Schild. Sie ist das einzige Beispiel für die Gerichtsbarkeit der Geronten und unter rechtshistorischen Aspekten oftmals erörtert worden. Die Szene zeigt Geronten auf dem Markt einer Stadt vor einer Vielzahl von Einwohnern. Die Geronten sollen den Streit um das Wergeld für einen Getöten entscheiden. Zweifelhaft ist, ob es um die Beilegung der Angelegenheit durch Zahlung eines Wergeldes geht oder ob die Leistung des vereinbarten Wergelds umstritten ist. Schulz entscheidet sich ohne große Erörterung und anhand einer noch unveröffentlichen Studie3 für die erste Interpretation: “Die Geronten entscheiden also darüber, welche Strafe angemessen ist: ein Wergeld, wie der Totschläger oder Mörder vorschlägt, oder eine härtere Form der Bestrafung, auf der der Angehörige durch seine Weigerung beharrt: wohl Hinrichtung oder Verbannung” (S. 71). Damit wird den Geronten letztlich die Blutgerichtsbarkeit zugesprochen, wofür es sonst bei Homer keinen Hinweis gibt. Für eine Entscheidung der Geronten zwischen Wergeld und einer Strafe ist kein Grund erkennbar: Entweder ist das Selbsthilferecht des Angehörigen durch die Vereinbarung eines Wergeldes abbedungen worden, oder es besteht noch fort. Es ist hier nicht der Ort, diese Frage zu vertiefen.
Der zweite Hauptabschnitt ist der spartanischen Gerusie gewidmet. Schulz folgt darin seiner bereits im ersten Hauptabschnitt angewendeten Methode. Darüber hinaus zieht er auch Szenen als Belege für die Gerusie heran, bei denen der Wortlaut zwar keinen Hinweis auf die Gerusie gibt, wohl aber die Schilderung den Gerusiezeugnissen entspricht. Seine Vorgehensweise überzeugt, und das einschlägige Quellenmaterial wird damit bedeutend vermehrt. Zudem gelingt es ihm, über den einzigen bislang namentlich bekannten Geronten hinaus weitere namhaft zu machen.
In der Einleitung zu diesem Hauptabschnitt erörtert Schulz wiederum die Quellen- und Meinungslage sowie seine weitere Vorgehensweise. Erörterungen zur – legendären wie nachweisbaren – Entstehung der Gerusie schließen sich an. Wie bei den homerischen Räten untersucht Schulz sodann die Kriterien für die Aufnahme in den Rat (Bürgerrecht als Grundvor¬aussetzung; Alter als Nachweis von Erfahrung; Verdienst und Leistung als Beleg für eine vorbildliche, zukunftsversprechende Lebensführung; Vermögen und Abkunft: vielfach gegeben, aber keine zwingende Voraussetzung beziehungsweise durchaus maßgebend); Theorie und Praxis unterscheiden sich dabei erkennbar. Bewerbung, Wahl und mit der Wahl verbundene Zeremonien sind weitere erörterte Gesichtspunkte, ferner Details zu Mitgliedschaft und Mitgliedern sowie Fragen zur Einberufung und dem Procedere der Gerusie. Von großem, auch historischem Interesse ist der Unterabschnitt “2.7 Richterliche und politische Kompetenzen”, zumal der von Schulz vermehrte Quellenbestand hier zum Tragen kommt. Schulz bejaht die wichtige Rolle der Gerusie, sucht deren Entstehen herauszuarbeiten und historisch einzuordnen. Des Weiteren geht er auf die Aufgaben der Gerusie ein – kurz auf die Nomophylakie, vor allem aber auf die Gerichtsbarkeit der Gerusie und deren Einwirkung auf das politische Geschehen bis hin zum (nur geringfügig feststellbaren) Einfluß auf die Gesetzgebung. Vor allem aber erörtert er das Verhältnis der Gerusie zu König, Ephoren und Volksversammlung anhand vieler Beispiele und betont dabei die Machtfülle der Gerusie. Die spartanische Gerusie ist in der antiken Welt nicht unbeobachtet geblieben. Mancherlei Vergleiche haben sich daraus ergeben. Dies zu erörtern fehlt hier der Platz; aber bereits die knappe Inhaltsangabe zeigt, wie dicht und detailreich Schulz’ Darstellung auch in diesem Abschnitt ist. In wie weit Schulz mit seinen Ausführungen und Schlußfolgerungen hergebrachte geschichtliche Auffassungen in Frage stellt oder erschüttert, müssen Historiker entscheiden.
Der dritte Hauptabschnitt ist dem Verhältnis zwischen der spartanischen Gerusie und den homerischen Räten gewidmet. Eingangs erinnert Schulz daran, daß für die Aufnahme in den Rat jeweils die persönliche Exzellenz und das Ansehen entscheidend gewesen sind und daß die Zusammensetzung und das Procedere der Räte sich ähneln. Das kann angesichts der vergleichbaren Funktion der Räte nicht überraschen. Dennoch gibt es eine Reihe von nicht eben großen, aber deutlichen Unterschieden. Schulz entscheidet sich für ein non liquet : “Die zahlreichen Ähnlichkeiten ließen sich gut dadurch erklären, dass die Gerusie aus einem Rat des homerischen Typs hervorgegangen ist, die Unterschiede durch lokale Tradition oder Innovation. Oder ist die Gerusie doch eine Kopie wie oft behauptet wird?” (S. 251). Fremde – nichtgriechische wie griechische – Vorbilder verneint er, ebenso “lokale (homerische) Vorläufer der Gerusie” oder ein Entstehen aus irgendwelchen Beiräten. Unter dem Abschnittstitel “3.4 Vom homerischen Beirat zur spartanischen Gerusie” skizziert er ein eigenes Entwicklungsmodell, das “die spartanischen Zeitumstände und die Defizite des homerischen Rats berücksichtigt. … Im Gegensatz zu den homerischen Räten wird (die Gerusie) nur aus nicht mehr kämpfenden Männern besetzt. Die Gerusie besteht nicht aus homerischen Geronten, sondern … aus den ‘an Geburt Ältesten’”(S. 260). “Sparta schlug mit der Einrichtung der Gerusie einen innovativen und erfolgreichen Weg ein” (S. 262).
Schulz hat eine Arbeit vorgelegt, deren dichtes Netz in der Auswertung von Quellen und Sekundärliteratur mustergültig ist, und seine Schlußfolgerungen sind insgesamt schlüssig. Es dürfte nicht leicht sein, ihn zu widerlegen, denn dazu reicht es nicht, einen einzelnen Punkt anzugreifen – man muß schon ein neues, ebenso umfassendes Bild entwerfen, und das dürfte schwer sein. Der Band ist die würdige Eröffnung einer neuen, Sparta gewidmeten Reihe.
Notes
1. Zu Lykurg s. K.-J. Hölkeskamp, “Lykurg [4]”, in DNP 7, Stuttgart 1999, Sp. 579/8.; Schulz, a.a.O. S. 96- 101.
2. Vergleichend hierzu ließe sich auf die Rolle der time in der Ilias verweisen, vgl. E. Cantarella, “Spunti di riflessione critica su ubris e time in Omero”, in: Symposion 1979. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte (Ägina, 3. – 7. September 1979), in Gemeinschaft mit H.J. Wolff, A. Biscardi und J. Modrzejewski hrsgg. von P. Dimakis, Köln / Wien 1983, S. 83-96.
3. B. Scheid, “Que disent les Anciens?”, in: Délibération et décisions collectives [Tagungsband zur Konferenz vom 29. und 30. 05. 2008 in Paris], éd. par M.-J. Werlings / E. Schulz, Paris (in Vorbereitung).