Bei einem „Companion“ zu einem antiken Autor handelt es sich um eine relativ neue Subspecies philologischer Literatur. Was erwartet man von einem über 600 Seiten starken „Companion to Lucan“? Am ehesten – so möchte man antworten – eine systematische Heranführung an den Autor, welche einen mit der Lucanforschung wenig vertrauten Leser in alle Teilbereiche der komplexen Forschungsproblematik einführt.
Daß man mit dieser Erwartung jedoch nicht an den neuen „Companion to Lucan“ herantreten sollte, wird bereits im Vorwort des Herausgebers Paolo Asso deutlich: „The scope of the present volume is to provide samples of current approaches to Lucan´s poem“ (xi). Mit diesem Anspruch, der genausogut an der Spitze einer Aufsatzsammlung oder der Herausgabe von Kongreßakten stehen könnte, werden 29 englischsprachige Aufsätze zu Lucan eingeleitet, zum großen Teil von amerikanischen und italienischen Gelehrten (der 30. Aufsatz ist eine „Nachbetrachtung” von John Henderson).
Die Aufsätze gliedern sich in fünf Kapitel: Das erste widmet sich Lucan als „author“, das zweite trägt den recht dehnbaren Titel „intertexts – contexts – texts“, das dritte nimmt bestimmte „civil warriors“ in den Blick, das vierte hat mit „civil war themes“ zu tun, und das fünfte ist der reichhaltigen „reception“ des Bellum civile vorbehalten.
Die Herangehensweise der einzelnen Aufsätze ist, wie nach der Einleitung zu erwarten, sehr verschieden: Die meisten Arbeiten befassen sich mit Spezialproblemen der Lucanforschung und setzen den Horizont der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung voraus, wenige haben den Charakter einer Einführung; besonders fällt der 25. Aufsatz von Edoardo D´Angelo über Lucan im Mittelalter heraus, der im Gegensatz zu allen anderen weitgehend die Form einer kommentierten Bibliographie hat.
Bestimmte Themen der Lucanforschung werden gar nicht in eigenen Aufsätzen berücksichtigt, etwa die Überlieferung und die historischen Quellen des Bellum civile, ferner sein formaler Aufbau. Dagegen findet die Figur Catos gleich in zwei nebeneinanderstehenden Aufsätzen (Nr. 10 und Nr. 11) Aufmerksamkeit.
Zwei Beispiele aus dem Anfang des Buches, wie sehr der wünschenswerte einführende „Companion“-Charakter gegenüber der Form weitgehend unkoordinierter Einzelaufsätze zu kurz kommt: Auf S. 14 f. argumentiert Elaine Fantham gegen ein ironisches Verständnis des Nero-Lobs, wie es Casali (S. 92) gerade voraussetzt; nirgendwo wird eine systematische Einführung in das Problem gegeben. Tracy sucht die Abgeschlossenheit des Bellum civile in der uns überlieferten Form (mit dem Abbruch innerhalb der ägyptischen Kämpfe Caesars in Buch X) wahrscheinlich zu machen, dagegen sieht Casali (S. 104) in der Korrespondenz zwischen der Totenbeschwörung des Sextus Pompeius in Bell. civ. VI und der Katabasis in Aen. VI das wichtigste Argument für die heute als communis opinio geltende 12- Bücher-These – ohne daß das Problem des geplanten Werkausgangs systematisch in einem der Aufsätze thematisiert würde.
Nach diesen Bemerkungen über den Gesamtaufbau des neuen „Companion“ bleibt nur eine kurze Würdigung der einzelnen Beiträge, die sich – wie gezeigt – schon wegen ihrer Disparatheit einer zusammenschauenden Betrachtung weitgehend entziehen.
Elaine Fantham wertet das biographische Material zu Lucans Leben aus. Dieser Beitrag gehört zu den wenigen, die einführenden Charakter haben, insofern er einen systematischen Überblick über das zu Gebote stehende Material (insbesondere die Viten Suetons und Vaccas) bietet. Als Grund der Entzweiung mit Nero wird entsprechend modernen Forschungstendenzen weniger die Prinzipatskritik Lucans als die Eifersucht Neros auf dessen Dichterruhm gesehen.
Joseph D. Reed stellt das Werk Lucans in den Kontext römischer Epik, die vielleicht zu einseitig als nur historische Epik betrachtet wird. Dieser historische Zug wird als grundlegend gegenüber der griechischen Epik angesehen, der mythologische Apekt sei dagegen erst „late“ in der römischen Epik (trotz ihres Beginns mit der Homerübersetzung des Livius Andronicus?).
Jonathan Tracy sucht die Vollständigkeit der überlieferten Werkform aus einem Vergleich des Gesamtwerks mit den Ausführungen des Acoreus über den Nil abzuleiten; als Gemeinsamkeit werden u.a. die caesar-feindliche Tendenz und die thematische Unabgeschlossenheit herausgearbeitet. Am Ende des Aufsatzes argumentiert Tracy plötzlich nicht mehr poetologisch, sondern biographisch: Lucan muß gewußt haben, daß sein Ende bevorstand; „whatever his original design for the poem may have been“ (53), er entschloß sich zu dem überlieferten Werkschluß – der also genaugenommen doch nur eine Verlegenheitslösung ist?
Mit Jackie Murrays Aufsatz beginnt das zweite Kapitel („Intertexts – contexts – texts“). Murray bespricht die drei mythologischen Anspielungen auf die Argo im Bellum civile, die alle in gewissem Zusammenhang mit Pompeius stehen. Im Laufe ihrer Ausführungen kommt sie zu weitreichenden spekulativen Folgerungen (die Argonautica des Apollonius Rhodius in den Dienst der Propaganda des Pompeius genommen, die gleichnamige Schrift des Varro Atacinus dagegen eine Propagandaschrift für Caesar).
Sergio Casali widmet sich dem vielbesprochenen Thema des Verhältnisses zur vergilischen Aeneis. Er geht zunächst (in ziemlich herkömmlicher Weise) auf das Prooemium des Werks ein, dann besonders auf prophezeiende Partien.
Alison Keith beschäftigt sich mit dem Einfluß Ovids auf Lucan. Thematisch steht die das Bürgerkriegsmotiv einschließende Behandlung des Theben-Mythos bei Ovid im Mittelpunkt, doch auch stilistische und metrische Aspekte werden berücksichtigt.
Ruth R. Caston untersucht den Einfluß der Elegie. Ausgehend von der in einem Aufsatz Hübners erkannten Parallelität zwischen dem Auftritt der toten Julia in Bell. civ. III und demjenigen der toten Cynthia in Prop. IV 7 wird eine Art typologischer Entsprechung zwischen weiblichen Figuren der Pharsalia und des vierten Properz-Buches entwickelt (z.B. soll Pompeius´ Gattin Cornelia der Arethusa aus Prop. IV 3 entsprechen) – ohne daß deutlich würde, warum Prop. IV als Bezugskontext der Pharsalia bedeutungsvoller wäre als andere römische Elegiensammlungen.
Eleni Manolaraki behandelt wie Tracy den Nilexkurs, jedoch unter dem anderen Gesichtspunkt der „thematic coherence“ mit dem Gesamtwerk, wobei wieder die Casar-Kritik eine wichtige Rolle spielt.
Antony Augoustakis eröffnet das dritte Kapitel, in welchem Einzelfiguren des Bellum civile im Mittelpunkt stehen. In seinem Beitrag vergleicht er die symbolträchtige Verbrennung der Überbleibsel des Pompeius durch Cornelia in Bell. civ. IX mit der Verbrennung von politischen Symbolen durch belagerte saguntinische Frauen in Sil. Pun. II.
J. Mira Seo sucht entsprechend den cato-kritischen Tendenzen der neueren Lucan-Forschung die Unvollkommenheit dieses Helden gerade vor dem spezifisch-stoischen Hintergrund zu zeigen. Hierzu wird der Selbstvergleich des um den Staat trauernden Cato mit einem seine Söhne beweinenden Vater (Bell. civ. II 297 ff.) herangezogen, insofern der Tod der eigenen Kinder gerade eine derjenigen Situationen sei, in welchen sich der stoische Weise zu bewähren habe und eben nicht in Klagen – wie es Cato tut – verfallen dürfe. Die Todesschicksale mehrerer anderer Helden bei Lucan werden anachronistisch als Imitationen eines – gleichwohl seinerseits unvollkommenen – catonischen Exempels gedeutet.
Ähnliche Tendenzen verfolgt die Arbeit von Ben Tipping. Die Ermahnung zur virtus an die sterbenden Soldaten, die durch Catos bloße Gegenwart gegeben ist (Bell. civ. IX 881 ff.), wird mit der zu Grausamkeiten anspornenden Wirkung der Anwesenheit Caesars in Pharsalus (Bell. civ. VII 557 ff.) in eins gesetzt.
Marco Fucecchi wendet sich dagegen einem weniger frequentierten Themenfeld zu, nämlich den Nebenfiguren des Bellum civile: Die Partisanen Caesars sind, wie überzeugend gezeigt wird, im allgemeinen diesem unterwürfig und im Kampf voller Fanatismus, während diejenigen des Pompeius diesem gegenüber eher gleichgestellt und kritisch sind. Besonders eingegangen wird auf Caesars Parteigänger Curio (die Schlußbemerkung über ihn, „unscrupulous about selling himself to the highest bidder“ [243], trifft nicht ganz die lucanische Pointe, daß er Rom verkaufte, Bell. civ. IV 824).
Neil W. Bernstein beschäftigt sich mit Totengeistern bei Lucan. Von den fünf Geisterszenen, die er bespricht, verdienen im strengen Sinne nur zwei diesen Namen (der Geist der Julia und der von Erictho beschworene Soldat); in den drei übrigen (Auftritt der imago patriae vor Caesar, Caesar an den Gräbern Hectors und Alexanders, Übergang von Pompeius´ Seele in Brutus und Cato) treten keine Totenschatten im eigentlichen Sinne auf. Den einzelnen Szenen werden vergilische Kontrastszenen zugeordnet, teilweise ohne ausreichende Rechtfertigung (z.B. soll die Erscheinung der Patria dem Traumbild Hectors in Aen. II entsprechen).
Christine Walde, die erste Beiträgerin zum Kapitel „civil war themes“, sieht das Epos im Zusammenhang einer literarischen Trauma Bewältigung. In der ersten Phase nach den Bürgerkriegen, d.h. in der Augusteischen Zeit, vermochte man sich diesem Thema nur in marginalisierter Form zu nähern, z.B. in Anspielungen in den Georgica, in einer kurzen Erwähnung der Kontrahenten in der Unterweltschau in der Aeneis (VI 826 ff.) oder in vereinzelten Exempla bei Valerius Maximus. Erst Lucan gelang es in neronischer Zeit, das Bürgerkriegsthema durch seinen „narrative exorcism“ für spätere Autoren wieder fruchtbar zu machen. Dabei wäre jedoch auch zu berücksichtigen, daß die allgemein anerkannte historische Quelle Lucans, nämlich der verlorene Bürgerkriegsteil des Livius, dieses Thema bereits in augusteischer Zeit breit behandelt haben muß.
Shadi Bartsch behandelt das unverhohlene „bias“ Lucans gegen Caesar vor dem Hintergrund der Prooemialtopik der antiken Historiographie, die beansprucht, ohne solches „bias“ darzustellen. Die Lösung des Problems wird darin gefunden, daß der Autor bis in seine politische Gegenwart Schaden durch Caesar erleidet (Bell. civ. VII 638 ff.); in einem solchen persönlichen Schaden liegt gemäß antiker Topik die einzig mögliche Rechtfertigung eines historiographischen „bias“.
Robert Sklenár wendet sich Lucan als Formalisten zu: Er behandelt das lange Prooemium als „calculated distortion of form“; ferner betracht er – recht ansprechend – in Abweichung von der herkömmlichen Forschung, welche nur die Totenbeschwörung in Bell. civ. VI als Gegenbild zur vergilischen Katabasis ansieht, die Appius-Episode (V) und die Erictho-Episode (VI) als „double caricature“ von Aen. VI.
Randall Ganiban beschäftigt sich mit der statianischen Rezeption einer anonymen Rede in Bell. civ. II 67 ff. und der Nekromantie in Bell. civ. VI in der Thebais sowie mit den Verschiebungen, die sich dabei aus der Wiedereinführung der Götter bei Statius ergeben.
Sean Easton untersucht, wie der Neid bei Lucan im Gegensatz zu vorgängigen Epikern (Homer und Vergil) als integraler Bestandteil in das Werk aufgenommen wird, insbesondere durch die Vorstellung eines neidischen Geschicks (die freilich schon Herodot kennt) und die „neidische“ Haltung des Erzählers selbst. Gewisse begriffliche Unterscheidungen, etwa zwischen phthonos und nemesis, sollten dabei auf ihre aristotelischen Quellen zurückgeführt werden.
Mark Thorne bringt Lucan mit einem weiteren modernen Schlagwort, der Memoria, in Verbindung: Während Caesar der memoria entgegenarbeitet, sucht Cato sie zu bewahren. Am Ende der Betrachtung steht ein positives Geschichtsbild Lucans, der selbst die memoria Roms und der libertas zu erhalten strebt.
Paolo Asso betrachtet die Rationalisierung des römischen Mythos von den gottgesandten Schilden zu einem bloßen Wetterereignis in Bell. civ. IX 477 ff. als ein Beispiel sinnträchtiger hellenistischer Digressionstechnik.
Micah Y. Myers gibt eine Doxographie zur lucanischen Geographie und wendet sich dann dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie bei Lucan zu; seine Gegenstände sind etwa der eskapistische Wunsch der Bewohner von Ariminum, in der fernen Peripherie zu wohnen (I 251 ff.), und die Verödung ehemaliger „Zentren“ wie Delphi und Troja.
Neil Coffee befaßt sich mit Werten wie pietas, fides und gratia, die für Pompeius, nicht jedoch für Caesar und auch (überraschenderweise) nicht für Cato gelten, der solche Werte nur relativ zur stoischen virtus zu sehen vermag. Bewahrt werden dagegen derartige Werte oft von Menschen niederer Standeszugehörigkeit und von Nichtrömern.
Carole Newlands eröffnet das Kapitel „reception“, zu dem man auch schon die Beiträge von Augoustakis und Ganiban rechnen könnte. Sie betrachtet das statianische genethliacon Lucani vor allem unter dem Gesichtspunkt „poetic succession and reception“; Statius versteht sich als Nachfolger Lucans.
Paolo Esposito gibt eine in ihrem heranführenden Charakter gut in einen „Companion“ passende Einleitung in die Entwicklung der wichtigsten Scholiencorpora (Commenta Bernensia und Adnotationes super Lucanum) seit dem Vergilkommentar des Servius und blickt zudem aus auf spätere, meist unedierte Scholiencorpora aus Mittelalter und früher Neuzeit.
Edoardo D´Angelo sichtet und kommentiert die Forschungsliteratur zur mittellateinischen Lucan-Rezeption.
Simone Marchesi untersucht die Nachwirkung Lucans auf Dante, wobei sie die nicht-punktuelle Lucan-Rezeption Dantes besonders an der von ihr ironisch gedeuteten ersten Erwähnung Neros in Bell. civ. I 33 ff. befestigt.
Philip Hardie erhellt materialreich die Nachwirkung Lucans in der englischen Literatur der frühen Neuzeit, wobei er durch das Bellum civile eine Tradition von „loser epics“ begründet sieht, aus welcher besonders Miltons „Paradise Lost“ herausragt. Speziell eingegangen wird auf die „Continuation“ des Lucan-Übersetzers Thomas May.
Susanna Braund geht der polarisierenden Wirkung Lucans auf seine englischen Übersetzer nach; instruktiv ist die Zusammenstellung mehrerer Übersetzungsversionen von Catos modifiziertem Pompeius-Lob in Bell. civ. IX 190 ff., wobei Braund zeigen kann, wie die verschiedenen Übersetzer das Pompeius-Bild gegenüber dem lateinischen Wortlaut zum Günstigeren hin verschieben.
Schließlich beschäftigt sich Francesca D´Alessandro Behr mit der Beeinflussung des Cato-Bilds in Addisons Tragödie durch Lucan, aber auch mit dem Hinzutreten christlicher Züge; die Vorstellung eines „blutleeren Weisen“ wird sowohl für Lucan als auch für Addison zurückgewiesen. Die Figur Catos erfährt hier eine deutlich positivere Wertung als in den oben referierten Beiträgen von Seo und Tipping.