Der Neue Pauly ist ein ambitioniertes enzyklopädisches Projekt, das den 5bändigen Kleinen Pauly ersetzen sollte. Der dessen alphabetisch geordnete Teil des Lexikons ist bereits abgeschlossen (2003) und steht mittlerweile auch online zur Verfügung. Als Ergänzung erscheinen seither Supplementbände wie der vorliegende Band 7: Die Rezeption der antiken Literatur. Die Herausgeberin Christine Walde hat in einem Vorwort die Konzeption des Bandes ausführlich erläutert. Die einzelnen Beiträge sollen nach knappen Angaben zu Autor und Werk, Rezeptionsprofil bzw. Rezeption und Transformation erhellen, während eine Bibliographie jeweils den Schlußpunkt bildet.
Der Band enthält Beiträge zur Rezeption folgender antiker Autoren bzw. Texte:
Griechisch: Achilleus Tatios, Anakreon, Apollonios von Rhodos, Archilochos, Aristophanes, Aristoteles, Artemidor, Hesiod, Homer, Iosephos Flavios, Kallimachos, Lukian, Pindar, Platon, Plutarch, Xenophon, Sappho, Theokrit, Thukydides, Quintus von Smyrna; lateinisch: Ammianus Marcellinus, Apicius, Apuleius von Madaura, Arat, Ausonius, Caesar, Cicero, Claudian, Columella, Egeria, Eutropius, Florus, Frontinus, Horaz, Livius, Lucan, Lukrez, Martial, Manilius, Nepos, Ovid, Petron, Phaedrus, Plinius d. Ä., Plinius d. J., Properz, Sallust, Sueton, Seneca d. Ä., Seneca d. J., Sulpicia, Silius Italicus, Statius, Tacitus, Tibull, Valerius Flaccus, Varro, Vegetius, Vergil, Vitruv; außerdem: Aratea (in Arat und Aratea), Priapea, Zauberpapyri, Oracula Chaldaica sowie einen Sammelbeitrag zur griechischen Tragödie. Beschlossen wird der Band durch Abkürzungsverzeichnis, Abbildungsverzeichnis und ein nützliches Personenregister, das auch moderne Namen einschließt.
Trotz der großen Zahl der einzelnen Beiträge vermitteln sie insgesamt ein unausgewogenes Bild. So vermisst man weitere Gattungsartikel z.B. zur Epigrammatik oder zum antiken Roman, der besonders in Byzanz stark rezipiert wurde. Einige wenige bekannte Autoren, die man eigentlich erwartet hätte wie Menander, Plautus, Terenz oder Quintilian, wurden nicht aufgenommen. Außerdem wurden neben den ausgewählten klassischen Autoren einige weitere spätantike Autoren aufgenommen.
Dieses uneinheitliche Bild erklärt sich im wesentlichen aus den Schwierigkeiten, geeignete Bearbeiter zu finden, wie die Herausgeberin selbst mitteilt, die ursprünglich 100 für verschiedene Textgattungen repräsentative Werke aus Antike und Spätantike ausgewählt hatte. Fußnote 1 auf S. IX könnte daher als klassische Klage von den Mühen einer/s Herausgeberin/s gelten:
„Dass einige Autoren trotz Zusage und monatelangen Beteuerungen, der Beitrag sei praktisch schon fertig, ihre Texte nicht geliefert haben, ab einem bestimmten Zeitpunkt auf keinem Medium mehr erreichbar waren oder sich nicht an die wissenschaftlichen Standards des Bandes hielten, und dass deshalb einige Artikel fehlen, steht auf einem anderen Blatt und ist vermutlich bei einem Großprojekt wie diesem unvermeidbar. Vos saluto…“
Trotz dieser Schwierigkeiten wurde ein sehr umfangreiches Opus von über 1200 Spalten erarbeitet. Da bei einem solchen Umfang nicht alle Artikel einzeln kritisch gewürdigt werden können, sollen einige Beiträge stichprobenweise besprochen werden, um einen repräsentativen Eindruck des Werks zu vermitteln.
Geradezu vorbildlich präsentiert sich der Beitrag über Plinius den Älteren (von F. R. Berno), in dem nach einigen Notizen über Leben und Werk die Rezeption der Naturalis historia dargestellt wird. Plinius‘ überaus erfolgreiche Naturkunde, die jede Art von Naturbetrachtung vom Experiment bis zur Legende einschließt und die in zahlreichen Handschriften überliefert wurde, wurde bereits in der Spätantike intensiv rezipiert (z.B. von Augustinus, Isidor von Sevilla oder im Physiologus). Im Mittelalter war sie Hauptquelle für die mittelalterlichen Enzyklopädien und Sammelwerke und bis in die Neuzeit ein ernstzunehmendes Werk für die wissenschaftlichen Bereiche der Kosmologie, Geographie, Zoologie, Botanik, Mineralogie etc., ehe ihre Informationen und Legenden auf den Prüfstand der modernen Naturwissenschaft im Lichte des Experiments kamen, eine Entwicklung, die bereits bei Roger Bacon und Albertus Magnus vorgezeichnet war. Im Humanismus wurde die Naturalis historia Gegenstand philologischer Textkritik, die von ihm berichteten Mirabilia wurden von der Romantik entdeckt und faszinierten noch im 20. Jahrhundert Autoren wie Luis Borges oder Italo Calvino. Außerdem beeinflußte Plinius zu allen Zeiten auch bildende Künstler und Kunstkritiker: bei der Bestimmung der Kanones der Vollendung, durch die von ihm beschriebenen Sujets oder als Instrument zur Identifizierung antiker Kunstwerke wie z.B. der Laokoongruppe. Die Darstellung schreitet minutiös vom ersten Jahrhundert n. Chr. bis zur Gegenwart fort und beschreibt überzeugend und plausibel die verschiedenen Stadien der Plinius-Rezeption (insbesondere das Zusammenspiel von direkter und indirekter Vermittlung über Auszüge wie z.B. die Collectanea des Solinus).
Die Darstellung der Vergil-Rezeption wurde auf verschiedene Schultern verteilt: Leben (W. Polleichtner), Bucolica (G. Binder), Georgica (W. Polleichtner) und Aeneis (A. Laird). In allen vier Teilen wird deutlich, dass die Vergilrezeption bereits sehr früh einsetzt, sogar noch zu Lebzeiten Vergils und dann ungebrochen bis in die Neuzeit weiter geht. Kluge Hinweise am Ende der jeweiligen Abschnitte auf die einschlägigen Bibliographien sollen verhindern, den Eindruck von Vollständigkeit zu vermitteln, obwohl eine riesige Menge an Material geboten wird. Einige wenige Punkte seien gesondert hervorgehoben: Die Rezeption vergilianischer Bukolik findet sich auch in ganz unerwarteten Konstellationen, die schon tragisch genannt werden können. So versuchte der junge ungarische Dichter Miklós Radnóti vor seiner Erschießung in einem serbischen Internierungslager im Jahre 1944 die Erlebnisse im Lager in acht am vergilianischem Vorbild orientierten Eklogen zu verarbeiten: „Erschütternd ist Radnótis siebte Ekloge über das Lagerleben und –erleben“ (Binder 1094). Maffeo Vegio gelang es 1428 der Aeneis ein 13. Buch hinzuzufügen: Venus verhilft darin ihrem Sohn Aeneas mit Hilfe des Numicius zur Unsterblichkeit (Laird 1118). Wohl mit Recht hebt Laird (1107) in seinem Rezeptionsprofil der Aeneis hervor, dass ihr Einfluss tiefgreifender war als der Homers. Die Gründe dafür sieht er in der Abfassung in der lateinischen Sprache, die insgesamt wirkmächtiger als das Griechische war, wobei gleichzeitig Inhalte von Ilias und Odyssee auch über die Aeneis transportiert wurden, weil sie die Mythen des Trojanischen Krieges neben den römischen Legenden in ihre Darstellung integrierte. Zudem galt Vergil aufgrund der 4. Ekloge als paganer Prophet der Geburt Christi. Bedeutsam war außerdem die Darstellung der Unterwelt im 6. Buch, die Dantes Inferno in der Göttlichen Komödie inspirierte und damit die grundlegenden Vorstellungen der westlichen Welt von der Hölle mitprägte. Die politische Dimension des Werks (Römer als Nachfolger der Trojaner mit dem Stammvater Aeneas göttlichen Ursprungs) wirkte auf Dichter und Historiker, die oft versuchten, ihr eigenes Volk als Nachkommen der Römer oder gar der Trojaner darzustellen. Auch die Disklussion um Vergil in der modernen Wissenschaft (Laird 1125f über die sogenannte „Harvard school“ oder die einschlägigen wissenschaftlichen Kommentare) wird erwähnt. Eine Ungenauigkeit hat sich allerdings auf Spalte 1077 eingeschlichen: Vergils 4. Ekloge wird nicht in Eusebs Vita Constantini rezipiert, sondern in Konstantins Oratio ad sanctorum coetum.
Der Beitrag zu Homer besteht in großen Teilen aus Zusammenfassungen der einschlägigen Artikel eines 2011 erschienenen Homerhandbuchs (hrsg. von A. Rengakos und B. Zimmermann), die der Verfasser (A. Bagordo) in diesem Homerhandbuch auch schon einmal zusammengefasst hatte. Beschrieben wird die Homerrezeption in der griechisch-lateinischen Antike über das Mittelalter bis hin zur modernen Gegenwart (in der romanischen, nordischen, englischen, deutschen und slawischen Literatur). Am Ende sind noch 1 ¼ Spalten über Homer in der „Populären Kultur“ der Moderne (z.B. in Comics und Filmen) angehängt (von A. Bettenworth). Die neogräzistische Nachwirkung (z.B. bei Kavafis, Seferis, Katzantzakis oder Elytis) fehlt. Ein weltberühmtes Gedicht wie Ithaka von Kavafis findet man hier also nicht. Der Abschnitt über Byzanz (340) beträgt lediglich eine halbe Spalte. Das einzige byzantinische Heldenepos (Digenis Akritis) aus dem vielleicht 10. Jahrhundert, das von zahlreichen homerischen Anspielungen geziert wird und von epischer Technik ganz durchdrungen ist, wird nicht erwähnt. Christa Wolfs Auseindersetzung mit dem trojanischen Sagenkreis in Kassandra, wenn auch von der Lektüre der Orestie angeregt, hätte in diesem Beitrag vielleicht ebenso genannt werden können, wie auch etwa Bernhard Schlinks Roman Heimkehr. Die Geschichte der Homerkritik ist ganz ausgeblendet worden. Trotz der genannten Ausstellungen ist auch in diesem Artikel ein große Menge an nützlichem Material zusammengeflossen.
Im gut zu lesenden und hochinteressanten Beitrag von F. Ciccolella über Hesiod fokussiert die Verfasserin ihre Darstellung nach der Beschreibung der allgemeinen Hesiod-Rezeption von der Antike bis zur Gegenwart auf die bekanntesten Mythen, die Hesiod überliefert: die Büchse der Pandora und Prometheus. Anzumerken bliebe hier lediglich, dass man durchaus noch einige weitere Bemerkungen über die Rezeption von Hesiod bei den Kirchenvätern in der Spätantike (z.B. in Origenes‘ Schrift Contra Celsum oder Basilius‘ Rede Ad adulescentes) hätte anfügen können.
Die Beschreibung der Rezeptionsgeschichte des Romans Leukippe und Kleitophon von Achilleus Tatios (F. Hurka), entstanden wohl im 2. Jh., vermittelt zahlreiche interessante Einzelheiten (Beliebtheit im christlichen Milieu: viele Namen des Romans fanden Eingang in die Heiligenlegenden; in Byzanz wurde die literarische Qualität beispielsweise von Psellos diskutiert in Konkurrenzsituation zu Heliodor; vielleicht gab es eine direkte Rezeption des Romans bei Boccacio; Einfluss ist nachweisbar in byzantinischen Romanen des 12. Jh.; erste lateinische Übersetzung im Jahre 1544; produktive Rezeption im neuzeitlichen europäischen Roman). Unverständlich (redaktioneller Fehler?) bleibt der Zusatz „nt.“ für „neutestamentlich“ zum Begriff Hexaëmeron (1f). Bei der Darstellung der Entstehungszeit fehlt ein Hinweis auf die generelle Blüte des antiken Romans im 2.Jh. sowie der apokryphen Apostelakten, die als christliches Gegenstück zum paganen Roman in dieser Zeit entstanden.
Die Rezeption von Lukians Werk wird anhand der Wahren Geschichten sowie der Totengespräche verfolgt (H.G. Nesselrath). Hervorzuheben ist, dass sich über die Rezeption der Wahren Geschichten in Antike und Byzanz bisher nur sagen läßt, dass man sie gelesen haben muss, denn sonst wären sie nicht abgeschrieben und erhalten geblieben. Die nachweisbare Rezeption setzt ein mit einer lateinischen Übersetzung des Lilius Castellanus (1475) und der editio princeps (1496), seit 1500 erscheinen auch deutsche Übersetzungen. Thomas Morus und François Rabelais benutzten die Wahren Geschichten Lukians. Das Thema des bewohnten Mondes wird von Johannes Kepler aufgegriffen und beeinflusst auch Francis Godwins, dessen Weltraumreise wiederum Savinien de Cyrano de Bergerac inspiriert. Im 18. Jahrhundert wurden die Wahren Geschichten z.B. von Jonathan Swift rezipiert und können auch als ein bedeutender Vorläufer der im 19. Jh. entstehenden Science fiction gelten.
Die Rezeption der Totengespräche in Spätantike und Byzanz ist in ähnlicher Weise nur durch wenige Beispiele belegt, gleichwohl müssen sie gelesen worden sein. Photios erwähnt sie als erster als eigene Werkgruppe; über die bloße Lektüre hinaus regten sie auch einige Satiren des 12. Jh. an (wie z.B. den Timarion). Seit dem 15. Jh. werden die Totengespräche auch im Westen rezipiert (z.B. in Übersetzungen ins Lateinische oder Deutsche). Im 17. Und 18. Jh. finden die Totengespräche ein starkes Echo in Frankreich und Deutschland (z.B. bei Christoph Martin Wieland). Auch im 19. Und 20. Jh. werden Totengespräche in der Nachfolge Lukians konzipiert (z. B. als Medium der Kultur- und Zeitkritik in Deutschland und Frankreich oder als literarische Form etwa im Feuilleton oder im Drama).
Dass ein solches „Großprojekt“ auch einzelne Schwächen haben würde – allein schon aufgrund der riesigen Fülle des zu behandelnden Materials – , hat die Herausgeberin selbst im Vorwort eingeräumt (VII), gleichzeitig aber mit Recht auch diesen Umstand als Chance für künftige Wissenschaftler begriffen, selbst weitere Forschungen anzustellen oder Ergänzungen vorzunehmen.
Insgesamt ist ein überaus materialreiches und nützliches Werk entstanden, das man bei Fragen der Rezeption antiker Texte gerne konsultieren wird.