Ein wichtiges Element der Erforschung antiker Kulturen ist die Geschichtsschreibung bzw. das, was jeweils darunter verstanden wird. Die Selbstauffassung von eigener Geschichte und “Historizität” ist dabei sehr different und verursacht so oftmals Schwierigkeiten bei der rezenten Interpretation relevanter Quellen. Daher war es Ziel des Workshops 2008 in Berlin unter der Leitung von Martin Fitzenreiter, sich dem Phänomen Geschichtsschreibung von verschiedenen Fachrichtungen her zu nähern. Die Ergebnisse sind im vorliegenden Band zusammengestellt.
1. In seiner “Einleitung” (pp. 1-16) skizziert Fitzenreiter Zielsetzung und Ergebnisse des Workshops. Dabei werden Elemente einer archäologischen Geschichtswissenschaft als methodische Grundlage besonders in den Vordergrund gestellt. Dazu fasst er die Ergebnisse der einzelnen Beiträge übergreifend zusammen.
2. Reinhold Bichler, “Probleme und Grenzen der Rekonstruktion von Ereignissen am Beispiel antiker Schlachtbeschreibungen. Zur Fragestellung im Rahmen des Generalthemas der Tagung (Das Ereignis. Zum Nexus von Struktur- und Ereignisgeschichte)” (pp. 17-34) beschäftigt sich mit den Problemen bei der Rekonstruktion von antiken Schlachten anhand der literarischen Quellen. Bichler untersucht die Vorgehensweise antiker Autoren bei der Beschreibung solcher Ereignisse. Seine Frage ist dabei, inwieweit wir uns bei rezenter Interpretation dieser Quellen der “historischen Wirklichkeit” nähern können.
3. Nadja Braun, “Visual History—Bilder machen Geschichte” (pp. 35-50) fokussiert auf Bildern als Belegquellen historischer Ereignisse. Insbesondere die sich im kulturellen Gedächtnis verankernden sog. “Schlüsselbilder” spielen dabei eine tragende Rolle. Jedoch sind Bilder immer subjektiv aus der Sicht ihrer Auftraggeber oder Erschaffer zu sehen. Sie stellen kein Abbild von Wahrheit dar, sondern sind stets Träger von Intentionen. Braun stellt an verschiedensten Beispielen wie auch der altägyptischen Szene des “Erschlagens der Feinde” heraus, wie Bilder in Zeiten von Krisen als ordnungsstabilisierend oder -kreierend verwendet werden können. Für den Bereich der Analyse altägyptischer Bilder und deren Beschreibung siehe jetzt aktuell Kai Widmaier, Landschaften und ihre Bilder in ägyptischen Texten des zweiten Jahrtausends v. Chr., Göttinger Orientforschungen, Reihe Ägypten 47, Wiesbaden 2009.
4. Stefan Burmeister, “Die Varusschlacht als historisches Ereignis—Ereignis für wen?” (pp. 51-60) untersucht die für die deutsche Geschichte als eines der am wichtigsten empfundenen Ereignisse die Schlacht des Arminius gegen Varus. Nach einer Überschau über den Diskurs in der deutschen Öffentlichkeit und Forschung der vergangenen Jahrhunderte unterzieht der Autor die relevanten archäologischen Quellen einer kritischen Prüfung hinsichtlich ihres Aussagewertes für die “Wirkmächtigkeit” dieses Ereignisses.
5. Martin Fitzenreiter, “Das Jahr 12 des Echnaton. Ereignisüberlieferung zwischen medialer Inszenierung und sepulkraler Selbstthematisierung” (pp. 61-80) analysiert den sog. “Fremdvölkerempfang”, der in zwei privaten Felsgräbern von Amarna beschrieben wird und mit einer genauen Datumsangabe, nämlich dem 12. Regierungsjahr Achanjatis, 2. Monat Peret-Zeit, 8. Tag, versehen ist. Es handelt sich hier um eines der wenigen überlieferten Ereignisse der Amarnazeit. Fitzenreiter kann hier nun zwei Ebenen der Beschreibung festmachen. Dies ist zum einen die “offizielle Ebene”, die jedoch nicht erhalten ist. Auf sie gehen nach Fitzenreiter “Bildsujet” und das Textformular zurück. Diese Ebene kann demnach nur mittels der funerären Kultstellen rekonstruiert werden. Der zweite Bereich ist die “private Ebene” mit den Selbstdarstellungen der beiden Grabbesitzer (Huya und Merire II.), die damit ihre eigene gesellschaftliche Stellung innerhalb der Gesellschaft von Achetaton positionieren. Fitzenreiter identifiziert dieses “Ereignis” nun als etabliertes Ritual, das auf die Bestätigung der ägyptischen Staatsmacht im Ausland abzielt.
6. Antonia Giewekemeyer, “Zur Bedeutung literarischer Erzählstrategien für die Darstellung normwidriger realgeschichtlicher Ereignisse in zwei Texten des Neuen Reichs” (pp. 81-102) untersucht auf Basis von geschichtswissenschaftlichen Theorien eine Rede Ramses II. aus dem sog. Kadesch-Poem sowie Dokumente zu Harimsverschwörungen der 20. Dynastie. Die Autorin kann zeigen, dass die in beiden Texten vorkommenden, gegen den Herrscher gerichteten Handlungen mithilfe identischer literarischer Stilmittel dargestellt werden. Als Ursache ist zu erkennen, dass die Textquellen auf derselben “literarischen Plotstruktur” basieren.
7. Roberto B. Gozzoli, “History and Stories in Ancient Egypt. Theoretical Issues and the Myth of the Eternal Return” (pp. 103-116) beschäftigt sich mit den Problemen der “Geschichtsschreibung” in der Ägyptologie. Ein Schwerpunkt seines Beitrages sind ausgewählte literarische Motive, so beispielsweise die “Rückkehr des Königs”, die er versuchsweise in einen Zusammenhang mit der Machtübernahme Psametiks I. stellt. Auch Gozzoli weist wie Jansen-Winkeln in seinem Beitrag auf die Lücken der Überlieferung hin.
8. “Das Ende der christlich-nubischen Reiche” ist Thema von Wolfram Grajetzkis Beitrag (pp. 117-124). Diese mittelalterlichen Staatsgebilde im Nordsudan sind grösstenteils durch arabische Historiker bekannt. Die Gründe für deren Verschwinden waren jedoch noch nicht ausreichend erklärt. Der Autor weist nun auf zwei bisher unbeachtete Aspekte hin, denen seiner Meinung nach eine wichtige Rolle beim Untergang dieser Reiche zukommt, und zwar die Pest im 14. Jh. sowie die bereits zwei Jahrhunderte zuvor erfolgte Verlagerung von Handelsrouten, die die Staaten von wichtigen Handelskontakten abschnitten.
9. Stefan Grunert deutet in “Erlebte Geschichte—ein authentischer Bericht” (pp. 125-136) eine historische Inschrift des Henqu neu. Er kann zeigen, dass der Verfasser des Textes Ausrichtung und Positionierung der Hieroglyphen nutzte, um zusätzliche Informationen über den Textinhalt hinaus zu bieten. Diese bisher nicht erkannten visuellen Bedeutungsmerkmale führten daher zu einem unvollständigen Textverständnis. Die Datierung in die 1. Zwischenzeit kann präzisiert werden.
10. Im Beitrag von Friederike Herklotz “Ptolemaios XII. Neos Dionysos—Versager oder siegreicher Pharao?” (pp. 137-154) zeigt die Autorin die Diskrepanz zwischen der Präsentation des Königs in griechischen vs. ägyptischen Quellen auf. In den Überlieferungen der griechischen Schriftsteller wird Ptolemaios XII. als unfähiger und verräterischer Herrscher dargestellt, die ägyptischen Belege zeigen hingegen einen in allen Bereichen pflichtbewussten und traditionellen ägyptischen Pharao. Herklotz wertet nun die ägyptischsprachigen Quellen wie Titulatur und Tempelszenen aus, um die von den klassischen Schriftstellern überlieferten Ereignisse von einer anderen Seite aus zu ergänzen.
11. Karl Jansen-Winkeln, “Die Rolle des Unbekannten in der ägyptischen Geschichte” (pp. 155-162) zeigt eindrücklich anhand diverser Beispiele, dass aufgrund der geringen sicheren Kenntnis von historischen Ereignissen die Ägyptologie vielfach dazu neigt, verschiedenste Überlieferungsfragmente zu einem vermeintlich sicheren Zusammenhang zu konstruieren. Damit wird durch Deutung von Nichtwissen eine Ereignishistorizität suggeriert, die realiter nicht belegt werden kann und daher nicht einer “Wahrheit” entsprechen muss. Der Autor plädiert im Gegenzug dafür, Überlieferungslücken deutlich zu machen und im Hinblick auf historische Rekonstruktionen immer diesen Faktor unklarer Grösse im Auge zu behalten.
12. In Christian Kassungs Beitrag “Struktur und Ereignis: ein Synchronisationsproblem” (pp. 163-168) legt der Autor dar, dass die Synchronizität von Geschehnissen, die jedoch nicht zeitgleich ablaufen müssen, kausale Strukturen impliziert. Ereignisse können nicht einzeln analysiert und als solche verstanden werden, sondern bedürfen stets eines grösseren Zusammenhangs von definierten Systemen und Strukturen.
13. Dieter Metzler, “Achsenzeit als Ereignis und Geschichte” (pp. 169-174) beschäftigt sich mit der von Jaspers sogenannten “Achsenzeit” um 500 v. Chr., als Konfuzius, Laotse, Buddha, Zarathustra, die jüdischen Propheten sowie griechische Dichter und Philosophen wirkten. Der Autor zeigt die Möglichkeiten auf, über die Regionalgeschichte hinaus globale und vergleichbare Gründe für Rationalität und Kritik zu erkennen. Die Möglichkeit von direkten Kontakten zwischen den weit entfernten Regionen ist nachweisbar.
14. Juan Carlos Moreno García, “From Dracula to Rostovtzeff or: The misadventures of the economic history in early Egyptology” (pp. 175-198) spürt dem ägyptologischen Einfluss in Bram Stokers Roman “The Jewel of Seven Stars” nach. Publiziert wurde er kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als die gesellschaftliche Unsicherheit vielfach dazu führte, das alte Ägypten zu einem “verlorenen Paradies” zu verklären. Daher wurde vor allem die ägyptische Monumentalarchitektur Fokus der ägyptologischen Forschung, unter Vernachlässigung von Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Dieses Desinteresse hat sich bis in die Gegenwart erhalten, nicht zuletzt durch die Abgrenzung von sozialwissenschaftlichen Fragestellungen.
15. Ludwig D. Morenz, “Ereignis Reichseinigung und der Fall Buto. Inszenierungen von Deutungshoheit der Sieger und – verlorene – Perspektiven der Verlierer” (pp. 199-210) analysiert das späte 4. Jt. v. Chr. als entscheidende Anfangsphase ägyptischer Kultur. Im Zuge der Etablierung des Nationalstaates entwickelten sich in allen Bereichen neue Strukturen, Diskurse und Institutionen. Auch die zukünftig kanonisch geltenden ideologischen Ansprüche der königlich-ägyptischen Herrschaft haben hier bereits ihren Ursprung, jedoch bieten die erhaltenen Quellen nur die Sichtweise der damaligen Sieger. Die Frage nach der Möglichkeit solcher fiktiven, intentional konstruierten und tendenziösen “Geschichte” wurde in der Forschung bislang noch nicht ausreichend untersucht. Morenz versucht nun, für den postulierten Stadtstaat Buto Hinweise auf die “Verlierer” zu kontextualisieren. Direkte Quellen sind dabei lediglich eine lokale Gottheit sowie ein Ortsname, hingegen bieten die visuell (in Darstellung und Schrift) manifestierten Darstellungen der “Sieger” nur einseitige Hinweise auf das damals tatsächlich Geschehene.
16. Lutz Popko, “Exemplarisches Erzählen im Neuen Reich?—Eine Struktur der Ereignisgeschichte” (pp. 211-222) untersucht die sog. Historischen Inschriften zur Geschichte des Neuen Reiches hinsichtlich der antiken Stilfigur Exemplum. Exempla dienen der Illustration oder Beweisführung bestimmter Angaben. So können diese die Defizite altägyptischer Geschichtsschreibung erklären, da sowohl die fehlende Einbindung in kausale Geschichte sowie die Limitierung auf wenige nur kurz geschilderte Ereignisse hierfür charakteristisch sind.
17. Stephen Quirke, “Sehel and Suez: canal-cutting and periodisation in ancient and modern history” (pp. 223-230) vergleicht die schriftlichen Dokumentationen dieser beiden Kanalbauprojekte in Antike und Gegenwart, um Prinzipien der Geschichtsschreibung herausarbeiten zu können. Er interpretiert beide Unternehmungen als “Eröffnung neuer Räume” und versucht, ein Prinzip ins Licht zu rücken, das für herrscherorientierte Historie charakteristisch ist, nämlich das fehlende Interesse am Verlust von Menschenleben.
18. Kim Ryholt, “Egyptian Historical Literature from the Greco-Roman Period” (pp. 231-238) analysiert die textlichen Belege historiographischer “Literatur” der griechischen und römischen Epoche Ägyptens und kann nachweisen, dass die literarische Erinnerung an einen Herrscher meistens durch Gebäude mit Inschriften bzgl. militärischer Aktivitäten protegiert wurde. Einzelne historische Ereignisse sind hingegen nur peripher in der kollektiven Erinnerung haften geblieben, zumindest soweit sich dies aus den erhaltenen Quellen erkennen lässt. Ryholt stellt die drei Epochen nationaler Krisen heraus, aus denen solche Einzelgeschehnisse am ehesten im Gedächtnis blieben, nämlich die Epochen der Hyksos, Achanjatis und der assyrischen Besatzung.
19. Beat Schweizers Artikel, “‘… da den Tyrannen sie erschlugen, gleiches Recht den Athenern schufen’. Archäologie eines Attentats” (pp. 239-264), hat das Attentat auf den Peisistratiden Hipparchos 514 v. Chr. im Fokus. Bereits zeitgenössisch als Auslöser des Wechsels von Tyrannis zu Demokratie gesehen, gab es schon früh (Thukydides) Kritik an dieser Sichtweise, die sich auch in der modernen Forschung durchgesetzt hat. Grundlage der differenten Interpretationen sind die vielfältigen Erinnerungsmedien, die auf uns gekommen sind. So verfolgt der Autor anhand dieses Attentates die Konstituierung eines expliziten historischen Ereignisses im Rahmen antiker oraler und materieller archäologischer Quellen sowie der antiken Geschichtsschreibung selbst. Basierend auf sozialhistorischen Definitionen arbeitet Schweizer heraus, mittels welcher dieser Medien im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. das Ereignis gewertet und präsentiert wurde.
20. Roland Steinacher, “Transformation und Integration oder Untergang und Eroberung? Gedanken zu politischen und ethnischen Identitäten im postimperialen Europa” (pp. 265-282) stellt die aktuellen Forschungsrichtungen zur spätrömischen Welt des Mittemeerraums vor. Anstelle der früheren Charakterisierung dieser Epoche als Invasion oder Untergang des Imperiums werden die Vorgänge heute eher als “Transformation” der römischen Welt verstanden. Aktuelle konträre Argumentationswege und ihre “ausserwissenschaftliche Rezeption” werden im Artikel analysiert.
21. David Warburton, “Egyptian History: Definitely! Myth as the Link between Event and History” (pp. 283-308) vergleicht den geschichtlichen “Mythos” mit demjenigen, der im religionswissenschaftlichen Sinn verstanden werden kann. Der Autor will zeigen, inwieweit quellensprachliche Dokumente für eine “Geschichtsschreibung” verwendbar sind.
Sehr hilfreich sind die bereits am Anfang der Publikation (pp. V-XVI) gegebenen Zusammenfassungen aller Einzelbeiträge, sowohl in Deutsch als auch zusätzlich in Englisch. So können auch diejenigen Rezipienten erreicht werden, die keine deutschen Muttersprachler sind. Auch die biographischen Angaben zu den einzelnen Autoren (pp. 309-312) stellen willkommene Zusatzinformationen dar, die man sich öfters bei Sammelbänden wünschen würde.
Insgesamt zeigt der vorliegende Band eindrücklich, zu welchen vielfältigen Ergebnissen interdisziplinäre Zusammenarbeit gelangen kann. Die Publikation bietet dabei wichtige Impulse für die Forschung verschiedener Fachrichtungen zu Geschichtsschreibung und der Frage nach der Historizität vergangener Vorgänge.