Dieser Band versammelt fokussierte Studien aus den Bereichen Alte Geschichte, Altphilologie, Assyriologie, Ägyptologie, Theologie und Indologie; Anlass dazu war eine Konferenz an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im Juli 2007. Der Untertitel “Fakten und Fiktionen ” gibt die Problematik des Themas vor. Bislang war das Thema Kult und Prostitution im Altertum von der kaum je reflektierten Vorstellung von Hierodulen als Liebesdienerinnen im Tempeldienst getragen. Der interdisziplinäre Rahmen der Tagung rückt diese Problematik in ein völlig neues, kritisches Licht. Er stellt die Missdeutungen und Zirkelschlüsse der bisherigen Forschung heraus, die nicht zuletzt durch die fehlende Abgleichung zwischen den Erkenntnissen der einzelnen Disziplinen befördert wurden. Klares Fazit der dreizehn Beiträge ist, dass es keine Belege für Tempelprostitution in der Antike gab, ja nicht einmal implizite Hinweise darauf.
Julia Assante kann zeigen, dass die Idee der Heiligen Hochzeit zwischen Mensch und Gott und eines sexualisierten Ischtar-Kultes samt Transvestiten, Eunuchen, Hermaphroditen, Homosexuellen und Prostituierten eine akademische Fabrikation des 19. Jahrhunderts ist, die unhinterfragt übernommen wurde. Wurde beispielsweise im Gilgamesch-Epos schamhat folglich stets mit Hure übersetzt, verbirgt sich dahinter nur der Status einer unverheirateten Frau, die ausserhalb des patriarchalischen Gesellschaftsgefüges steht. Und statt der sexuellen Ambivalenz unterschiedlichster Liebesdiener und Liebesdienerinnen sind hier die einzelnen Ränge des Kultpersonals für eine Göttin zu sehen, deren Komplexität bis dato zu wenig gewürdigt wurde. Marie-Theres Wacker und Wolfgang Weiss arbeiten heraus, dass der Mythos der Tempelprostitution dann auch die Auslegung des Alten wie des Neuen Testaments beeinflusst hat, ohne dass diese archäologisch oder quellenkritisch nachweisbar wäre. Maria Brosius macht deutlich, dass Strabons Bericht (16, 1, 20) über Tempelprostitution in Babylon ebenfalls historisch nicht belegbar ist, sondern allein auf eine vielzitierte Herodot-Stelle zurückgeht. Als literarisches Motiv hat Strabon sie auf eine andere Region übertragen, mit derselben diffamierenden Absicht: nämlich fremde Völker über ihre vermeintlichen Sexualpraktiken als minderwertig darzustellen. Was die Ägyptologie betrifft, hat die Behandlung dieses Themas nie eine zentrale Rolle gespielt; Joachim F. Quack stellt zwar mehrere interessante Stellen orgiastischer Elemente im Ritus zur Diskussion, um danach jedoch ebenfalls zum Schluss zu kommen, dass sich im Alten Ägypten kein Fall von Kultprostitution konstruieren lässt. Diese Bilanz unterstreicht auch Reinhold Scholl für das griechisch-römische Ägypten, indem er aufzeigt, dass dieses Bild auf der Fehlinterpretation einiger weniger ambivalenter Quellen beruht. Stephanie Budin arbeitet das Bedeutungsfeld des Begriffes Hierodoule für Ägypten, Anatolien, Korinth und das sizilische Eryx heraus, um zu demonstrieren, dass er sich auf eine privilegierte Kaste von Tempelsklaven bezieht, die ausserhalb der staatlichen Hierarchie stand; in Korinth zählten dazu auch freigelassene Prostituierte, die der Liebesgöttin unterstellt wurden, ohne dass es sich dabei jedoch um Prostitution im sakralen Bereich gehandelt habe. Die Herausgeberin des Bandes, Tanja S. Scheer, konzentriert sich in ihrem Aufsatz auf Korinth, um auch hier die Vorstellungen von sakraler Defloration, Mitgiftprostitution und Heiligen Huren – für die der Tempel als “Anbahnungsdistrikt” gedient habe – als Mythos zu entlarven. Sie räumt einzig die spekulative These ein, der Aphroditekult dort könnte durch Einkünfte mitfinanziert worden sein, die durch Prostituierte im Sklavenstatus erwirtschaftet wurden. Joachim Losehand führt den Verweis auf sakrale Prostitution im epizephyrischen Lokroi auf einen möglichen Initiationsritus “preisgegebener Jungfrauen” im opuntischen Lokroi zurück: aufgrund der Namensgleichheit seien die Orte verwechselt und dann mit einer Nachricht über ein Venusfest vermengt worden, um so eine Legende zu begründen, die jeder historischen Wirklichkeit widerspricht. Durch seine Textarbeit kann Martin Lindner deutlich machen, dass die Auffassung, es habe in Eryx ‘Heilige Huren’ gegeben, im selben Mass auf überinterpretierten modernen Übersetzungen beruht, wie sie wahrscheinlich schon in der Antike eine reine Projektion darstellte—ohne je Teil kultischer Praxis gewesen zu sein. Annette Hupfloher zeigt sodann, dass die Interpretation des von Eryx ausgehenden Aphroditekults im arkadischen Psophis derselben Art von Missdeutungen unterlag, um den eigentlichen Kontext dahinter zu präsentieren. Daniel Ogden wirft ein anderes Schlaglicht auf den Mythos, indem er einen realen Konnex zwischen Tempel und Prostituierten anbietet: nämlich die Weihung von Heiligtümern an die Kurtisanen der hellenistischen Könige. Wo für Ptolemaios Philadelphos’ Geliebte Bilistiche und Demetrios Poliorketes’ Lamia noch klare Zeugnisse für die Heiligsprechung ihrer Hetären vorliegen, werden diese jedoch immer paradoxaler, je weiter man in der Zeit zurückgeht; sie setzen schliesslich ganz aus, ohne dass sich für eine solche Übung antike Präzedenzfälle oder gar eine Tradition ausmachen liessen.
Diese von den Tagungsteilnehmern erlangten Ergebnisse spiegeln sich auch im zyprischen Aphroditekult (Kypris) wider, der ebenfalls mit Tempelprostitution in Verbindung gebracht wurde (ausgehend wiederum von Herodot Historien I 199,5 und der engen Verbindung zwischen Kypris und Ishtar bzw. Astarte; erneut ein Fall von Zirkelschlüssen!). Die für Zypern stets herangezogenen Belege sind die auf das 5. Jahrhundert v. Chr. datierten Tempeltarife A und B des Astarte-Tempels in Kition — einer phönizischen Stadtgründung —, in denen weibliche und männliche klbm unter dem Personal erwähnt werden, die für ihre Dienste bei einem Tempelfest entlohnt wurden; doch auch die Übersetzung von klbm ist unklar: es wurde als Alternative zu qdsh gelesen (abgeleitet vom hebräischen qadesh, was so viel wie “Mann des Heiligtums” bedeutet), und mit “Hund” oder eben auch “Prostituierte” übersetzt. Zudem ist völlig unklar für welche Dienste die klbm bezahlt wurden. Ein Blick nach Zypern ist aber auch insofern lohnenswert, als das multikulturelle Zypern als Drehscheibe und Mittlerrolle für den Austausch zwischen Ost und West angesehen werden kann und die Insel der Entstehungsort der griechischen Aphrodite ist, deren zyprisch geprägter Kult von hier weiter nach Westen gewandert ist; und das ohne organisierte Tempelprostitution, wie die Untersuchungen zeigen.
Renate Syeds Studie erlaubt es am Ende des Bandes, diese vielfältigen Trugbilder mit dem “Tempelmätressentum” in Indien zu vergleichen, das vom 8. Jahrhundert n. Chr. an bis in die Gegenwart greifbar ist. Dieser Brauch hat seinen Ursprung in der Armut von Eltern, die es sich nicht leisten konnten, ihre Kinder zu verheiraten, und diese stattdessen einer Gottheit weihten, für die sie Tempeldienste verrichteten. Die Frauen darunter wurden zu Devadasi, Konkubinen von Priestern und Sponsoren des Heiligtums; Sex mit den Mädchen galt als ein Privileg für jene Männer: sie wurden hofiert, man versuchte ihre Gunst durch Geschenke zu erhalten. All dies war vom Ritualdienst streng getrennt, denn Sex im Tempel war strikt verboten—sodass nach Syed von “Tempelprostitution” im Grunde hier nicht die Rede sein sollte. In den Augen der Briten, die mit diesem sozial komplexen System im 19. Jahrhundert in Berührung kamen, waren diese auserwählten Gottesdienerinnen jedoch Sklavinnen, die Priester Mädchenschänder und Zuhälter. Jedoch sollte man wohl auch festhalten, dass—obwohl heutzutage gesetzlich verboten – etwa im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh schätzungsweise 25.000 junge Frauen der Göttin Mathamma geweiht sind, wohl gemerkt als Sühneopfer: mit 6 Jahren werden sie dem Tempel übergeben, im Alter von 9 müssen sie vor Männern tanzen, um ab dem 13. Lebensjahr fremden Männern sexuell zu Diensten zu sein. Auf der anderen Seite ist diese noch immerwährende Tradition ein Paradigma dafür, dass Prostitution und Tempeldienst getrennt voneinander gesehen werden könnten. Vergleichbares könnte man nun auch für das Altertum annehmen, was erklären würde, weshalb man bereits in der Antike vergleichbaren Traditionen kritisch gegenüber stand und sich kaum Belege finden.
Was sich damit wiederholt, ist ein Projektionsmechanismus, der quer durch die Zeiten wirksam wird. Der antike Topos der Tempelprostitution geht auf Herodots Behauptung über die für seinen Blickwinkel dekadenten Verhältnisse in Babylon zurück: Porneia etablierte sich so in seiner Doppeldeutigkeit von Hurerei und Götzendienst—ein kulturbedingter Reflex, der alles Fremde und Andersartige als abartig abwertet. Einmal in einem orientalisierten Osten verankert, wurde dieses Stereotyp immer wieder aufs Neue aufgegriffen, um zum Mythos zu werden—wobei Strabons Berichte besonderes Gewicht erhielten. Im 19. Jahrhundert erfuhr dieser Topos durch Johann J. Bachofens “Mutterrecht” (1861) und vor allem James G. Frazers “Golden Bough” (1890) eine neue Ausformung. Frazer griff die coniunctio spiritualis der Mystik, die chymische Hochzeit der Rosenkreuzer und damit verbundene Ideen christlicher Esoterik auf, die sich im Zeitalter des Kolonialismus mit einer pseudo-darwinistischen Auslegung von Kultur verband. Hochkultur wurde auf diese Weise mit dem christlichen Monotheismus gleichgestellt und als Überwindung heidnischer Kultpraktiken angesehen, die auf Fruchtbarkeitsriten und der Verehrung von Muttergöttinnen wie Ishtar beruhte. Der von Frazer aufgebrachte Begriff von der ‘Heiligen Hochzeit’ erfuhr so eine weite Verbreitung und wurde—obwohl kaum fundiert und letztlich nur aus obskuren Quellen kollationiert—als kulturelle Universalie aufgefasst.
Die stringenten Beiträge dieses Bandes korrigieren diese beiden Blickwinkel, um die darin verborgenen Klischees deutlich zu machen und den realen Hintergrund auszuleuchten. Die für einen Sammelband erstaunlich konzise Argumentation auf durchgehend hohem Niveau dekonstruiert nicht nur einen überalterten Mythos—in Assantes Text mit einigem sarkastischen Nachdruck—, sie öffnet zudem ebenso detailreiche wie differenzierte Perspektiven auf die sozio-religiösen Verhältnisse in der Antike. Einziges Manko ist, dass Herodots notorische Passagen, die den Ursprung der Prostitutionsgeschichte darstellen, zwar vielfach tangiert, jedoch nicht in einem eigenen Referat thematisiert werden. Was er sah, was er hätte sehen können und wovor er lieber die Augen verschloss, als er die für ihn “hässlichste Sitte der Babylonier” schilderte, bleibt in diesem Buch leider eine Leerstelle.