Macht stellt neben Reichtum und Sex eine der intensivsten Urbegierden dar, die den Menschen umtreiben. Zunächst scheint der Begriff der Macht klar verständlich zu sein, hat doch scheinbar jeder eine Vorstellung davon. Doch was ist Macht eigentlich? Wodurch zeichnet sie sich aus? Warum findet sie im einen Fall Anerkennung, im anderen hingegen nicht? Hat nur der Mächtige Macht? Diese und weitere “Machtfragen” haben sich die Autoren dieses Bandes gestellt, der anlässlich eines zu Ehren des 65. Geburtstages von Konrad Heldmann abgehaltenen Kolloquiums (3.-5.11.2005, Institut für Klassische Altertumskunde, Christian-Albrechts-Universität Kiel) entstanden ist.
Der Band setzt sich aus zehn Beiträgen mit jeweils eigenem Literaturverzeichnis, kurzen abstracts der Beiträge, Kurzbiographien der Beiträger und einem abschliessenden Personen- und Sachstellenregister zusammen. Die Beiträge sind zwar grundsätzlich chronologisch angeordnet, verstehen sich hingegen nicht als chronologische Darstellung, sondern als eine epochen- und kulturübergreifende Betrachtung der Macht.
Die Schwierigkeiten, diesen scheinbar klaren Begriff “Macht” zu definieren, verdeutlicht die Einführung von Alexander Arweiler und Bardo Maria Gauly ( Was sind Machtfragen?, S. 7-18). Sie verdeutlicht, dass sich Macht weniger positiv als negativ definieren lässt und nur dort greifbar in Erscheinung tritt, “wo (soziale) Handlungskontexte … und Handlungsalternativen gegeben sind” (S.9).
In seinem Folgebeitrag ( Souveränität und Einschliessung, S. 19-77) unternimmt es Arweiler der Frage nachzugehen: “Wo ist die Macht im literarischen Text?” (S.19). Arweiler, der sich zunächst erneut dem Machtbegriff nähert und dessen Relativität wie Relationalität herausarbeitet, folgt im weiteren Verlauf dem Gebrauch und der Wahrnehmung von Macht. Macht im literarischen Kontext könne nicht mit dem allgemeinen Sprachgebrauch umschrieben werden, sondern müsse eigengesetzlich terminiert werden (S.24). Die substanzlose Natur von Macht bewirke, dass diese nur dann wahrgenommen werden könne, wenn sie sich in Medien manifestiere. Für die weitere Annäherung unternimmt es Arweiler, auf die Begriffe Autorität, Herrschaft, Souveränität und Administration weiter einzugehen. Auch Karl-Joachim Hölkeskamp sieht in seinem Beitrag ( Hierarchie und Konsens. Pompae in der politischen Kultur der römischen Republik, S. 79-126) die reine Stofflichkeit des Mediums als ungenügenden Kommunikationsträger, betont vielmehr die mediale Bedeutung von Ritualen und Inszenierungen. Dies setzt allerdings ein “rituelles Wissen” (S. 82) und eine auf Konsens beruhende “Syntax der Ordnung und der Regeln des Rituals über die Semantik oder Symbolik” (S. 82) voraus. Dabei kommt es in dieser “mediterranen open-air-Kultur” (S. 85) zu einer Verschmelzung zwischen den nicht-stofflichen Ritualen und Inszenierungen einerseits und andererseits der steingewordenen Öffentlichkeit (Forum, Kapitol, Marsfeld, Strassen). In diesem Spannungsfeld inszenierte sich die in ihrer Exklusivität durch erfolgreichen militärischen und politischen Einsatz legitimierte römische Oberschicht. Hölkeskamp untersucht dieses Inszenierungsverhalten anhand der drei wichtigsten Prozessionsformen (pompa triumphalis, pompa funebris, pompa circensis). Er kommt dabei zu dem Schluss, dass den pompae zwar einerseits eine spezifische “Ritualsyntax” (S. 109), andererseits zugleich aber auch eine allen gemeine “Supra-Syntax” (S. 112) eigen sei, die geeignet, ist zwischen Oberschicht und restlichem Populus Romanus – der an diesen Ritualen nicht staffagegleich, sondern aktiv partizipiert (S.92)— einen legitimierenden und stabilisierenden Konsens zu erzeugen (S. 116). Mit dem Triumph als “Brennpunkt und Projektionsfläche adliger Konkurrenz … und … Erinnerungskultur” (S. 127) beschäftigt sich Helmut Krasser ( Poeta Triumphans. Römische Sieghaftigkeit und die Macht des Dichters im vierten Odenbuch des Horaz, S. 127—148). Krasser betont wie schon Hölkeskamp im vorangehenden Beitrag die aktive Teilhabe des Populus bis hin zur Rolle des “Beuteherren” (S. 130). Die Besonderheit des dichterischen und damit fixierten Triumphs gegenüber jenem, der in Rom (real) inszeniert wurde, liegt in der Macht dichterischer Kreativität. Anders als eine Inszenierung dies je vermochte, ist er imstande, nachträglich korrigierend zu akzentuieren und durch die ständige Rekapitulierbarkeit dieses Ereignisses unsterbliche Erinnerung zu schaffen. Dies verleiht dem Dichter ein ganz neues Selbstbewusstsein und lässt ihn “nicht nur als Anwalt der Erinnerung, sondern machtvollen Konstrukteur einer neuen Wirklichkeit” (S. 114) im kaiserlichen Machtspiel mitwirken.
Rolf Michael Schneider ( Im Bann der Bilder: Rom unter Augustus, S. 149—186) untersucht das mediale Betrachtungsspektrum um den bildlichen Machtdiskurs. Dieser steht dem textuellen keineswegs oppositionell gegenüber, sondern bildet ein komplementäres Bezugsverhältnis zwischen Text und Bild heraus (S. 149 f.). Schneider spricht drei wichtige innerrömische Machtdiskurse an. Zunächst diskutiert er anhand aussagekräftiger Bauprogramme auf den Foren (Forum Romanum, Forum Iulium, Forum Augustum), dem Circus Maximus und dem Marsfeld-Komplex die “imperiale Transformation der urbanen Lebensräume” (S. 151) und dringt mit seinen Analysen bis in die Feinheiten der Materialsemantik (Buntmarmore) vor (S. 157). Dabei habe gerade der Baustellencharakter nicht nur allgemeine Akzeptanz, sondern wohl auch mittels Arbeit, Lohn und Brot erzeugte Vorstellungen von einer Teilhaftigkeit des Populus Romanus hervorgerufen (S. 159). Besonders gelungen erscheint der zweite Kommunikationsweg kaiserlicher Bildnisse. Schneider beschwört in seiner Schilderung eine kaiserliche Omnipräsenz herauf (S. 162), die nach heutigem Medienverständnis aggressiv-penetrant zu verstehen wäre, während sie beim antiken Medienrezipienten auf Akzeptanz gestossen sein muss. In einem dritten Abschnitt widmet sich Schneider schliesslich anhand des Schönen Orientalen der kontextbezogenen Differenzierung einer einheitlichen Ikonographie von Fremdem.
Bardo Maria Gauly ( Magis homines iuvat gloria lata quam magna. Das Selbstlob in Plinius? Briefen und seine Funktion, S. 187—204) untersucht in Plinius? Briefen das Eigenlob des Autors, das nicht nur eine memoriale Zielrichtung, sondern ganz wesentlich eine (Eigen-)Empfehlung für den Senator gegenüber dem neuen Herrschaftssystem verfolgt. Dabei präpariert der Beiträger eine sehr geschickte Präsentationstaktik des Plinius heraus, mit der dieser mittels des Brief-Ichs, das seine Idealgestalt, nicht sein Ebenbild vorstellt, eigenes Handeln kommentiert und quasi durch die eigene Stimme ein Barometer des eigenen Erfolges schafft. Dies mag—wie der Autor hervorhebt—durchaus ein Verhalten sein, das nach heutigen Massstäben aufstösst, aber im Kontext einer Zeit betrachtet, die zahlreiche domitianische Ex-Karrieristen mit ähnlichen Problemen kannte, auf Akzeptanz gestossen sein dürfte.
Bildung spielt im Beitrag von Thomas A. Schmitz ( Macht und Ohnmacht der Bildung bei Lukian, S. 205—221) im Machtdiskurs eine Rolle und dann auch wieder nicht. Bildung war im Zeitalter Lukians ein erstrebenswertes Idealziel, dessen Prestigegehalt als Identifikationsmerkmal einer gesellschaftlichen Elite sowohl exklusive als auch inkludierende Tendenzen beinhaltete. Anhand des Aufeinandertreffens von römischer und griechischer Bildungskultur analysiert Schmitz einerseits die im Bildungsgrossraum des Hellenismus erkennbare kulturelle Nivellierungstendenz alter Unterschiede, die allenfalls noch in gegenseitigen Vorurteilen zwischen Römern und Griechen weiterleben. Andererseits zeigt das Verhältnis zwischen den mächtigen Römern und den ohnmächtigen Griechen, dass Bildung zwar Teilhabe an sozialer Elite, nicht jedoch an realer Macht zu schaffen vermag.
Einen Zeitenwechsel des Machtdiskurses ins Mittelalter vollziehen die beiden folgenden Beiträge von Christel Meier ( Der Dichter und die Mächtigen, Imagination von Herrschaft im lateinischen Epos, S. 223—245) und Gerhard Fouquet ( Machtfragen. Königliche und hochadlige Herrschaft im Spätmittelalter oder der verweigerte Gruss des Hans von Zimmern gegenüber König Sigmund, S. 247-262). Schmitz untersucht anhand von vier Epen-Typen (panegyrisches Epos, fiktives Epos, historisches Alexander-Epos, satirisches Tier-Epos) diesen für den literarischen Machtdiskurs im Mittelalter so wichtigen Literaturtypus. Sie gibt dabei zu bedenken, dass für eine Analyse dieser Medientypen sowohl eine dem Epos innewohnende, innermediale Eigengesetzlichkeit zu beachten sei als auch ausserhalb der kulturelle und politische Kontext, in dem das jeweilige Werk entstand und rezipiert wurde, miteinzubeziehen sei. So wirke das Epos einerseits als Spiegel des Machtdiskurses, als Idealbild oder schlicht Zerrspiegel der eigenen Zeit. Fouquet widmet sich in seinem Beitrag den Kommunikationsstrukturen innerhalb der hierarchischen, aber kommunikativ durchlässigen Gesellschaftsform des Mittelalters. Im Fall des Hans von Zimmern zeigt Fouquet auf, dass Macht keineswegs nur von oben nach unten kommuniziert wurde, sondern dieser Diskurs in einer Gesellschaft, in der Macht wesentlich auf Konsens und Beziehungen beruht, auch von unten nach oben vollzogen werden konnte.
“Machtfragen” behandelt eine Urthematik menschlicher Kommunikation. Es ist ein wissenschaftliches Werk, das im Jargon der Belletristik als “hochspannend” bezeichnet werden darf, zugleich aber auch aus der Warte nüchterner Wissenschaft seine Leser in anspruchsvoller Weise zu fordern weiss.