Hans Kurig hat in der wissenschaftlichen Reihe Spudasmata [Band 120] ein Buch mit dem Titel Geschichte der Klassischen Philologie vorgelegt. Dabei handelt es sich um eine Vorlesungsnachschrift des Klassischen Philologen und Leiters der damaligen Hamburger Stadtbibliothek, der Vorgängerin der heutigen Staats- und Universitätsbibliothek, Robert Münzel (1859-1917). Münzel hatte sich als 19 jähriger Student während seines Studiums der Klassischen Philologie in Bonn der Mühe unterzogen, im Wintersemester 1878/79 in stenographischer Mitschrift die Vorlesung seines jüdischen Professors Jacob Bernays (1824-1881) zu dokumentieren. Dieser heute weitgehend unbekannte Gelehrte genoss in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hohe Anerkennung in der Gelehrtenwelt und das nicht nur als profunder Kenner der Kirchenväter, Bibelwissenschaften und der klassischen Sprachen, sondern auch durch seine umfassenden Kenntnisse der damals bekannten Weltliteratur.
Dass wir über Bernays’ Geschichte der Klassischen Philologie durch die Vorlesungsmitschrift Münzels heute noch verfügen, ist einem Zufall zu verdanken, da der gesamte Nachlass des Professors bei einem Luftangriff der Alliierten auf Bonn im September 1944 vernichtet worden ist.
Nach seiner Berufung als Professor an die Universität Bonn im Jahre 1866 legte Bernays neben den herkömmlichen Vorlesungen und Seminaren der Klassischen Philologie den Schwerpunkt auf sein Steckenpferd, die Philologiegeschichte. Hier setzte er chronologisch nicht bei den hellenistischen Alexandrinern an, die er der griechischen Literaturgeschichte zuordnete, sondern bei der im Jahre 370 n. Chr. erfolgten Gründung staatlicher Bildungsanstalten. In diesem Kontext beabsichtigte er, die Interdependenzen und Wechselwirkungen zwischen Bibelphilologie und Klassischer Philologie herauszuarbeiten. Ebenso wie die Bibel ordnete er dabei auch die Jurisprudenz und die Historiographie der Philologie zu. Bernays’ primäres Anliegen war es, geistesgeschichtlich eine enge Verzahnung der Bibel mit der griechisch-römischen Bildung aufzuzeigen, da diese wegen ihrer gewaltigen Rezeptionsgeschichte in Mittelalter und Neuzeit ein notwendiges Ingredienz klassischer Bildung sei. Dies war ungewöhnlich, um nicht zu sagen, geradezu revolutionär, hatten doch gerade die Protagonisten und spiritus rectores des Neuhumanismus, Johann Joachim Winckelmann (1716-1768) und Wilhelm von Humboldt (1767-1835), den Einfluss der Religion auf den Humanismus des Hellenentums negiert und kategorisch abgelehnt. In diesem Bewusstsein sprach Bernays daher auch nicht von Neuhumanismus, sondern von Neohellenismus. Diese Erkenntnis — verbunden mit Hinweisen zur Philologiegeschichte des klassischen Philologen Rudolf Pfeiffer (1889-1979) von den Ursprüngen bis hin zum Historismus des Althistorikers Theodor Mommsen (1817-1903) und zu dem definitiven Schwinden antiker Bildung als prägender Kraft für die Bildung seit Mitte des 19. Jh.s — skizziert Kurig komprimiert und anschaulich in der Einleitung (S. 9-29) seines Buches.
Bevor Bernays die gewaltige Stoffmenge der historia philologiae classicae durch übersichtlich in Perioden gliedert, klärt er den Hörer auf, was er unter den Begriffen Philologe bzw. Geschichte konkret versteht. Diese kennzeichnet er als das universale Gedächtnis der Menschheit, jenen als einen Menschen, der Freude an geistigen Dingen hat.
Das Gros des Buches (S. 32-176) ist der Periodisierung der Geschichte der Klassischen Philologie in 6 Phasen gewidmet. Die Chronologisierung wird entsprechend der Epochen durch geographische Kriterien intern präzisiert, wobei Bernays konkret in Form von Überschriften die wichtigsten Repräsentanten ihrer Zeit voranschickt. Zudem sind jeweils biographische Merkmale der Autoren und Angaben und Empfehlungen der von ihnen verfassten literarischen Werke in die Zeitintervalle eingearbeitet.
Eine Geschichte der Klassischen Philologie ist im Verständnis des 19. Jh. primär Personengeschichte, wobei Bernays zeitgeschichtliche, politische, geographische, wissenschaftshistorische und gesellschaftliche Hintergründe und Bedingungen für das Denken und Handeln seiner Protagonisten nicht unerwähnt lässt. Aus der Vielzahl der von Bernays in seiner Vorlesung namentlich genannten Gelehrten und Wissenschaftler können für die verschiedenen Perioden im Folgenden nur solche genannt werden, die repräsentativ ihrer Epoche ein exemplarisches und unverwechselbares Profil verliehen haben.
Die erste Periode der Philologiegeschichte der klassischen Sprachen lässt Bernays mit der Gründung staatlicher Bildungsanstalten im Jahre 370 in der Spätantike beginnen und mit dem Tode Karls des Grossen (814) enden. Charakteristisch für diese Epoche ist, dass das Dokument und Fundament aller Bildung, das Griechische und das klassische Latein, durch das Bildungsinstrument der latinisierten Bibel substituiert wird.
Die zweite Periode erstreckt sich von 814 bis zum Tode Dantes im Jahre 1321. Dies ist die Phase der grösstmöglichen Vernachlässigung jeder kritischen und philologischen Forschung vor dem Hintergrund der pseudo-isidorischen Dekretalen. Erst gegen Ende dieser Periode entsteht durch den literarischen Austausch zwischen Okzident und Orient ein wissenschaftliches Klima. Dies wird augenfällig durch die Scholastik eines Thomas von Aquin sowie durch die Wiederentdeckung des corpus iuris. Auch die lateinischen Dichter erlangen im 14. Jh. erstmals seit dem Untergang der Antike wieder zunehmende Wertschätzung. Die Dunkelheit mittelalterlicher Barbarei wird langsam abgestreift, ein Wirken, das sichtbaren Ausdruck durch Dante, den begabtesten aller mittelalterlichen Dichter, erhält.
Die dritte Periode ist die grosse Ära der italienischen Philologen und währt vom Ableben Dantes (1321) bis zum Einfall der Franzosen in Italien (1495), wodurch für sehr lange Zeit das wissenschaftliche Leben in Italien getilgt ist. Als herausragender Repräsentant der italienischen Philologie ist zweifelsohne Francesco Petrarca (1304-1374) auszumachen, der im eigentlichen Sinne als Begründer der Philologie anzusehen ist. Zu dieser Zeit kommt es auch zur Trennung von Theologie und Philologie, ein Prozess, der unter Dante noch undenkbar gewesen wäre.
Die vierte Periode kann als die französisch-deutsche Epoche bezeichnet werden. Sie ist im Intervall der Regierungszeiten der französischen Könige Franz I. (1494-1547) und Henri IV. (1515-1610) zu determinieren. In diesem Zeitraum durchdringt die Philologie nahezu alle Wissenschaften. Der kritische Geist der Philologie bringt zunehmend die bisher immer noch tonangebende Wissenschaft der Theologie ins Wanken, ein Phänomen, das Bernays mit den Worten zum Ausdruck bringt, “dass jene ganze Zeit von dem Geist des Unglaubens und der Verachtung der Religion angekränkelt war” (S. 76). Diese Periode ist reich an überragenden Philologen, und es können hier wegen der immensen Zahl nur die auch heute einem grösseren Publikum noch namentlich bekannten Grössen wie der Holländer Erasmus von Rotterdam (1465-1536), der Deutsche Philipp Melanchthon (1497-1560) oder der Franzose Joseph Scaliger (1540-1609) stellvertretend für die vielen hier Ungenannten aufgeführt werden.
Die fünfte Periode, deren Anfänge der Beginn des 30jährigen Krieges markiert und die Bernays auf den Zeitraum von 1610 bis 1766 (Hemsterhuis’ Tod) festlegt, ist die holländisch-englische Epoche. Es kommt auch infolge des zermürbenden und Mitteleuropa verheerenden Religionskrieges um die richtige Konfession zur definitiven Trennung zwischen Theologie und Philologie. Die Philologie emanzipiert sich von ihrer bis dahin übermächtigen Schwester, der Theologie, ein gesellschaftspolitischer Wandel, den der tiefgläubige Jude Bernays zutiefst bedauert. Auf englischer Seite müssen hier die beiden grossen Philologen Richard Bentley (1662-1742) und Eduard Gibbon (1737-1794) Erwähnung finden, auf holländischer Seite David Ruhnken (1723-1798), der zwar als Pommeraner Deutscher ist, seinen Lebensberuf als Philologe zur damaligen Zeit allerdings nur in Brabant und Holland ausüben kann, sowie Tiberius Hemsterhuis (1685-1766).
Die letzte von Bernays erwähnte Periode ist das Zeitalter der deutschen Philologie, wobei er augenscheinlich keine konkrete zeitliche Terminierung vorgibt. Mit Fug und Recht kann aber in Ansätzen das 18. Jh. und in Gänze das 19. Jh. als die grosse Zeit der deutschen Philologie, die eine Vielzahl von exzellenten Philologen der unterschiedlichsten geisteswissenschaftlichen Disziplinen hervorgebracht hat, bezeichnet werden. Geographische Schwerpunkte setzt Bernays zum einen mit Leipzig, zum anderen mit der 1737 gegründeten Universität Göttingen. An letzterer wirken unmittelbar nach ihrer Gründung die Philologiekoryphäen Johann Matthias Gesner (1691-1761) und der ihm auf dem Lehrstuhl folgende Christian Gottlob Heyne (1729-1812), der Mentor Wilhelm von Humboldts, des berühmten preussischen Bildungsreformers, des ideellen und administrativen Schöpfers des Humanistischen Gymnasiums und Gründungsvaters der heutigen Berliner Humboldt-Universität. Es ist ebenso die Zeit des Odyssee-Übersetzers Johann Heinrich Voss (1751-1821), des grossen Hallenser Philologen Friedrich August Wolff (1759-1829), des hochbegabten preussischen Althistorikers und Wissenschaftsorganisators Barthold Georg Niebuhr (1776-1831), des preussischen Philosophen und Theologen Friedrich Schleiermacher (1768-1834), des deutschen Literaturhistorikers, Indologen und Philosophen August Wilhelm Schlegel (1767-1845) und nicht zuletzt des Klassischen Philologen und Altertumsforschers August Boeckh (1785-1867), des Initiators und Wegbereiters des Corpus Inscriptionum Graecarum. Diese imponierende Ahnengalerie verschafft Deutschland die Voraussetzung für die unumschränkte Hegemonie in Europa im 19. Jh. auf dem Gebiet der Altertumswissenschaften.
Dass Bernays nicht nur zur Philologiegeschichte publiziert und Vorlesungen gehalten hat, belegt das gut geschriebene Buch mit seinem abschliessenden Anhang, in dem exemplarisch Textauszüge des thematisch sehr vielfältigen literarischen Werks des Bonner Professors dokumentiert sind. Darüber hinaus ist es das Zeugnis eines kosmopolitisch und polyglott geprägten Philologen und brillanten Stilisten, insbesondere zu einer Zeit des in Europa sich verstetigenden Nationalismus.
Dem Einwand, dass die Publikation der Vorlesungsmitschrift von Bernays’ Philologiegeschichte, für den der Konnex zwischen biblischen- und klassisch-philologischen Studien immer ein Herzensanliegen gewesen ist, nur einen kleinen Gelehrtenkreis der an Wissenschaftshistorie Interessierten berühre, ist dadurch zu begegnen, dass der Leser dieses Buches im Zuge der immer mehr an Bedeutung gewinnenden Wissenschaftsgeschichte im Bereich der Altertumswissenschaften einen profunden Einblick erhält in Weltanschauung, Werte und Mentalität eines in der zweiten Hälfte des 19. Jh. dozierenden deutschen Professors jüdischen Glaubens. Dies ist umso bedeutsamer gerade auch vor dem Hintergrund eines noch bis 1866 geltenden Vorlesungsverbots für einen jüdischen Professor an einer preussischen Universität.
Eine bibliographische Übersicht sowie ein Personenindex beschliessen ein wissenschaftsgeschichtlich hochinteressantes Opus, das zudem viele längst in Vergessenheit geratene bibliophile Raritäten berühmter klasssicher Philologen zurückliegender Jahrhunderte in Titel und Edition für den interessierten Leser bereithält.