Nach eigenem Bekunden hat L.P.E. Parker (P.) beabsichtigt, den Kommentar von A.M. Dale (Oxford 1954) abzulösen, da dieser nicht mehr zeitgemäss sei. Altgriechische Sprachausbildung und Lektüre sind an den Schulen (übrigens nicht nur in Grossbritannien) während der letzten 50 Jahre deutlich zurückgegangen; vielfach werden Griechischkenntnisse gar nicht mehr im Schulunterricht erworben: “Now, many students do not begin to study Greek until they reach university” (v). Andererseits solle eine kommentierte Ausgabe auch nicht unwissenschaftlich sein. Also strebte sie einen Kompromiss an “between a scholarly edition and the type of student’s edition, which is becoming standard, with a parallel translation, but no linguistic notes” (v).
Was daraus letztlich geworden ist, kann man als einen exzellenten wissenschaftlichen Kommentarband mit einer luziden Textfassung bezeichnen; im Kommentarteil sind die textkritischen Anmerkungen durch eckige Klammern abgesetzt. P.s Leistung übertrifft das kleine Werk von Dale um Dimensionen und bietet einen teilweise revidierten Text von Diggles Ausgabe.1 Somit handelt es sich um das derzeit umfangreichste und vielleicht wichtigste Alkestis-Buch, dem allenfalls der soeben publizierte, in der Kommentierung nicht ganz so weit ausgreifende, aber mit einem besseren Text versehene Band von G.A. Seeck2 gleichkommt. Es lohnt sich, P.s Publikation näher zu betrachten. Die dabei aufzuzeigenden Schwächen mögen den guten Gesamteindruck nicht trüben.
Im Einleitungsteil behandelt P. die wesentlichen Fragen, was den Mythos als solchen und die euripideische Version desselben angeht; sodann geht sie auf die Stoffgeschichte in der griechischen Literatur vor und nach Euripides ein, soweit sie sich noch erkennen lässt, und auf die Nachwirkung des euripideischen Stücks in antiker und moderner Dichtung; ein Kapitel zur handschriftlichen Ueberlieferung schliesst sich an; hilfreiche Erläuterungen zur Metrik insbesondere der lyrischen Partien folgen.
Die Argumentation ist sehr dezidiert und zeugt von einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem Thema, wobei die nicht mehr überschaubare Sekundärliteratur in Auswahl herangezogen wurde. Man vermisst zwar den einen oder anderen Titel, doch P.s Urteilskraft ist so durchgreifend, dass es vielfach der Erkenntnisse anderer nicht zu bedürfen scheint. So deckt sich ihre präzise und überzeugende Analyse des Zeitpunkts (xxii-xiv), wann Alkestis das Gelübde, für ihren Mann zu sterben, geleistet hat, mit der von ihr nicht erwähnten Studie von Stephanopoulos:3 Es muss nach der Hochzeit geschehen sein, als bereits Kinder geboren waren. P. argumentiert vor dem Hintergrund der Arbeit von Megas4 und stützt sich vor allem auf die Selbstaussage der Alkestis 287-8 ( οὐκ ἠθέλησα ζῆν ἀποσπασθεῖσά σου / σὺν παισὶν ὀρφανοῖσιν). Stephanopoulos5 führt darüber hinaus an, dass Admet wohl schlecht nach der Rückkehr vom Begräbnis 912ff. die Heimführung der Braut am Hochzeitstag als den Höhepunkt seines Glücks preisen könnte, wenn dieser Tag den Anfang seines jetzt so tief empfundenen Unglücks gebildet hätte.
Auch die heikle Frage, inwieweit das an der vierten Stelle der Tetralogie des Jahres 438 v.Chr. aufgeführte Drama heitere oder satyreske Züge aufweist, beantwortet P. in aller Klarheit. Zum einen sei es gar nicht so sicher, wie vielfach angenommen wird, dass die Tetralogien zur Zeit des Euripides standardmässig mit einem Satyrspiel schlossen (xx). Zum anderen stelle die Szene mit dem betrunkenen Herakles als episodische Partie eher einen Kunstgriff des Dramatikers dar, den er wiederholt einsetzte, wie etwa in der Helena oder in den Bakchen (xxi). Durch solche Einlagen werde die Gattung nicht berührt: “If Euripides drew inspiration from time to time from comedy or satyric drama, his tragedies remain tragedies none the less” (xxi).
Auf die schier endlose Datierungskontroverse, ob die Trachinierinnen des Sophokles vor oder nach der euripideischen Alkestis aufgeführt wurden, geht P. nicht weiter ein. Im Kommentarteil bemerkt sie nach der Behandlung des Botenberichts der Dienerin über den Abschied der Alkestis vom Haus, der eine gewisse Nähe zu Deianeiras Abschiedsszene in den Trachinierinnen aufweist: “The problem of the relative dates of Trach. and Alc. remains unsolved” (83). Sie bezieht sich dabei auf einen Aufsatz von A. Lesky aus den Siebziger Jahren; doch seitdem ist die Diskussion weiter geführt worden. Möglicherweise sind die Trachinierinnen fast zwei Jahrzehnte älter als die Alkestis.6
P.s Edition stellt, wie gesagt, eine in Teilen revidierte Fassung von Diggles Ausgabe dar. Alle Abweichungen vom OCT-Text (betroffen sind vor allem die Verse 16, 91, 102f., 115f., 122, 132-5, 144f., 180, 207f., 397, 461, 527, 569, 756, 780, 960, 1096, 1111, 1119f.) finden sich ausführlich begründet. Daneben werden aber auch die vielen Neuerungen im Text (ca. 80), die Diggle gegenüber der Vorgängeredition von G. Murray vornahm, meist eingehend besprochen, was D.J. Conacher seinerzeit nur in Ansätzen geleistet hat.7
Schon in der Prologpartie sind einige Stellen problematisch, etwa Vers 16, den Diggle tilgt, P. hingegen beibehält. Man kann gute Argumente für oder gegen die Athetese vorbringen. Ich will mich hier enthalten.
19-20 ( ἣν νῦν κατ’ οἴκους ἐν χεροῖν βαστάζεται / ψυχορραγοῦσαν coni. Usener; ἣ … ψυχορραγοῦσα codd.): Obwohl das Medium des Verbs βαστάζειν nicht belegt ist, hält P. die Bedenken gegen den überlieferten Text für so gravierend, dass sie der Annahme eines Mediums und der damit einhergehenden Kasusänderung zustimmt. In der Tat bleibt bei dem überlieferten Passiv ungenannt, wer Alkestis in seinen Händen hält: “‘She is supported by a pair of hands’, with no indication of whose hands, is as curious in Greek as in English” (56). Doch die Behauptung, “the passive … seems not to be found elsewhere until late prose”, stimmt nicht: vgl. Aristoteles, Rhet. 3, 12 p. 1413b12. Das Medium bringt andererseits mehrere Schwierigkeiten mit sich. Zum einen wäre Admet dann Subjekt, was einen Missklang in den Satz hineinbrächte: Er halte die Sterbende ‘zu seinem Vorteil’ in Händen. Zum anderen könnte, wenn Admet als Subjekt fungiert, das nachfolgende σφέ leicht auf ihn bezogen werden, ein Fehler, den schon J. Lenting in seiner Epistola critica in Euripidis Alcestin, Zutphen 1821, ad vs. 20 auch ohne Useners Konjektur begangen hat: ” Σφέ vertunt eam: mihi est illum”. Da aber von dem Moment an, als der Prologsprecher das Opfergelübde der Frau zur Sprache bringt (v. 17: ἤθελεν), nur noch von ihr die Rede ist und von einem eventuellen Aufschub ihres Todes, wäre ein Wechsel des Subjekts von Alkestis zu Admet in Vers 19 störend.
64 ( ἦ μὴν σὺ πείσῃ καίπερ ὠμὸς ὢν ἄγαν): Das überlieferte παύσῃ ersetzen Diggle und P. durch πείσῃ (coni. F.W. Schmidt). P.s Erklärung, “The received reading παύσῃ is too unspecific. What is death to stop doing?” (65), fällt kurz aus und geht nicht auf den Kontext ein. Mit ἦ μήν beginnt Apoll einen neuen Gedanken. Nachdem der Tod sich von ihm nicht hat überreden lassen, das Sterben der Alkestis aufzuschieben, werde ihm bald doch noch Einhalt geboten, prophezeit der Gott: Ein Gast werde ins Haus des Admet kommen und ihm, dem Tod, die Frau mit Gewalt ( βίᾳ) entreissen (69). Diese βία nun stünde zu einem vorausgehenden πείσῃ im Widerspruch, was schon Dale anmerkte.
Es kann nicht auf alles eingegangen werden. Einige weitere Stellen in Auswahl:
121 ( μόνος): Aus gutem Grund weist P. Diggles Konjektur μόνα zurück. “here μόνα would be applied to Alcestis in the wrong context” (80). Der Chor sinnt auf einen Retter; es fällt ihm nur Asklepios ein; dass es einzig Alkestis sein sollte und keine andere, die er retten würde, wenn er noch lebte, ist ein unpassender Gedanke. Warum P. aber den überlieferten Anakoluth nicht akzeptieren möchte, durch den die besondere Rolle des Apollon-Sohnes hervorgehoben und zugleich Alkestis, welcher der Hauptsatz in anakoluther Fortsetzung gewidmet ist, eine Sonderrolle zufällt, bleibt unklar. Der Chor erliegt dem Irrtum, dass es niemand anderen als diesen einen geben könnte, und formuliert den Rettungswunsch als ein Adynaton. Der vermeintliche Nothelfer lebt nicht mehr. Dazu passt der Bruch in der grammatischen Konstruktion sehr gut. Vers 1138 wird als der einzige Retter ( μόνος) schliesslich doch Herakles bezeichnet. Euripides spielt hier mit dem Wissen der Zuschauer und der Unwissenheit der dramatis personae.
Auch Diggles Konjektur δεινὰ μέν, φίλοι, δεινά (218) akzeptiert P. nicht und setzt sich für den alten Text ein. Das überlieferte δῆλα μέν, φίλοι, δῆλα passt in den Stückzusammenhang; eine Aenderung ist keinesfalls erforderlich. Auch anderen von Diggle aufgenommenen Vorschlägen tritt P. entschieden entgegen: So etwa der Tilgung der Verse 1119f. oder dem von Markland (dem Diggle folgt) vorgenommenen Eingriff in den Vers 180, wo P. mit guten Argumenten an dem überlieferten μόνην festhält.
In Vers 527 nimmt sie die von Diggle favorisierte Konjektur J. Jacksons ( κἀνθάδ’ ὢν οὐκ ἔστ’ ἔτι) wieder aus dem Text, kehrt aber unglücklicherweise nicht zur Ueberlieferung zurück, sondern setzt stattdessen auf eine Konjektur von H. Weil (“He who is going [to die] is [already] dead, and without having died, exists no longer” [164], κοὐ θανὼν οὐκ ἔστ’ ἔτι). Dass sie hierdurch nicht viel mehr erreicht als Diggle, bedarf einiger Worte.
Es liegt im Vers 527 eine varia lectio im zweiten und dritten Metrum vor: Die Hss. BOV überliefern κοὐκέτ’ ἔσθ’ ὁ κατθανών mit den unerheblichen Abweichungen ἔστ’ in O und ἐστίν in V; L weist χὡ θανὼν οὐκ ἔστ’ ἔτι auf, und P hat den metrisch anstössigen Wortlaut καὶ ὁ θανὼν οὐκέτ’ ἐστιν. Offensichtlich gaben die Abweichungen in den Hss. Anlass zu einer Reihe von Text-vorschlägen. Zwei Aspekte werden hierbei je nach Auslegung hervorgehoben: (a) entweder hat, wer sterben muss, sein Leben bereits verwirkt, (b) oder er ist schon tot, obwohl er noch lebt. Die gesamte Partie von 519 an ( διπλοῦς ἐπ’ αὐτῇ μῦθος ἔστι μοι λέγειν) enthält eine Reihe doppeldeutiger Aussagen Admets, deren verwirrende Wirkung sich in den naiven Reaktionen seines Gegenübers widerspiegelt. Ist zuerst für beide unmissverständlich von Alkestis die Rede (518), so erreicht der Dialog schliesslich einen Punkt, an dem Herakles ihre Person völlig aus den Augen verliert: das Wort γυνή, in 518 noch klar auf Alkestis bezogen ( οὐ μὴν γυνή γ’ ὄλωλεν), wird in wenigen Schritten so sehr verfremdet, dass Herakles in der Tat aus Vers 531 ( γυνή· γυναικὸς ἀρτ/ιως μεμνήμεθα) heraushören kann, Admet gedenke nicht seiner eigenen, sondern einer anderen Frau. — Die Kunst des Dichters kommt hierbei vor allem dadurch zum Ausdruck, dass er Admet einfach nur die Wahrheit aussprechen lässt, wenn auch in leicht missverständlicher Form. Ausgelöst werden Herakles’ Fehldeutungen durch eine Erklärung Admets—die konstruiert ist und der gegenwärtigen Situation nicht ganz entspricht—, Alkestis sei und sei wiederum nicht mehr (521): ἔστιν τε κοὐκέτ’ ἔστιν κτλ., ein Diktum, das der Held erläutert haben will ( ἄσημα γὰρ λέγεις, 522). Dass die Moira der Alkestis freilich eine solche von Admet gewählte Formulierung zulässt, scheint Herakles durchaus plausibel zu sein; die Erfüllung ihres Schicksals projiziert er hingegen in eine noch ferne Zukunft ( ἆ, μὴ πρόκλαῑ ἄκοιτιν, ἐς τότ’ ἀμβαλοῦ, 526). Seine offenkundige Unwissenheit bezüglich der πεπρωμένη ἡμέρα gestattet dem thessalischen König nun, seinem Gast die volle Wahrheit ins Gesicht zu sagen, ohne dass dieser sie erkennt: τέθνηχ’ ὁ μέλλων, κοὐκέτ’ ἔσθ’ ὁ κατθανών. Lediglich in dem Partizip μέλλων liegt etwas Zukünftiges. Alle übrigen Teile der Aussage bezeichnen einen Abschluss in der Gegenwart. Bereits in 525 sagte Admet wahrheitsgemäss, Alkestis könne, da sie zu sterben gelobt hat, nicht mehr am Leben sein ( πῶς οὖν ἔτ’ ἔστιν, εἴπερ ᾔνεσεν τάδε). Admet täuscht seinen Gast nur ein einziges Mal (521) und nicht einmal in diesem Falle durch eine grobe Lüge; die nachträglich gegebene Aufklärung macht den zweideutigen Satz, sie sei und sei wiederum nicht, als solchen glaubhaft. Da ihn Herakles zwar aufgrund einer entfernten Kenntnis des Schicksals der Alkestis versteht, zugleich aber nicht zu widerlegen vermag, weil er das Todesdatum nicht weiss, kann Admet danach ganz offen sprechen. Man sollte somit die in allen Hss. zu findende klare Aeusserung Admets in Vers 527 ernst nehmen. Auch Wilamowitz, der mit E. Schwartz καὶ θανὼν οὐκ ἔστ’ ἔτι liest, lässt in seiner Uebersetzung keinen Zweifel an der Deutlichkeit, mit der Admet die Tatsachen beim Namen nennt: “Der Todgeweihte starb, wer starb, ist tot.” Gerade in dieser Aufrichtigkeit liegt der besondere Reiz der Stelle. Eine Version, die betont, dass ὁ μέλλων als Lebender ( οὐ θανών) schon für tot gilt, nimmt keine Rücksicht auf die euripideische Dramaturgie. Weils Konjektur wirkt — wie die von Jackson — blass, zumal sie dem weit vorausliegenden Vers 521 allzu nahe steht; der Dialogpartie ginge hierdurch der Fortschritt, auf den es Euripides offenbar ankam, gänzlich verloren: Admet führt Herakles in einen Irrtum hinein, ohne dabei die Wahrheit zu verschweigen.
Nach Vers 1096 nimmt P. einen Textausfall an, da 1097 nicht logisch anschliesst. Ihr Vorschlag ist in der Tat bedenkenswert. Hier wie an anderen Stellen geht P. mit grossem Einfühlungsvermögen an das Drama heran. Die soeben monierten Einzelfälle sollen daher nicht als Schwächen des Buchs ausgelegt werden; vielmehr hat P. zu einer Fortsetzung des konstruktiven Dialogs über den Text angeregt, wie er hoffentlich in dieser Rezension zum Ausdruck kommt.
Das Buch ist gut redigiert. Nur wenige Tippfehler sind mir aufgefallen, vornehmlich im Griechischen (p. xxxvi muss es im Aristoteleszitat οἰκονομεῖ heissen und τραγικώτατός γε; S. 15 im App. Lachmann; Vers 999 ἐμπόρων).
Notes
1. Euripidis fabulae, ed. J. Diggle, Tomus I, Oxford 1984.
2. Euripides, Alkestis, hrsg., komm. u. übers. von G.A. Seeck, Berlin 2008.
3. Th.K. Stephanopoulos, Umgestaltung des Mythos durch Euripides, Athen 1980, 53-56.
4. G. Megas, Die Sage von Alkestis, Archiv für Religionswissenschaft 30 (1933) 1-33.
5. Th.K. Stephanopoulos, Umgestaltung des Mythos durch Euripides, Athen 1980, 56.
6. P. Riemer, Die ‘ewige Deianeira’, in: A. Bagordo / B. Zimmermann (Hgg.), Bakchylides – 100 Jahre nach seiner Wiederentdeckung (ZETEMATA 106), München 2000, 169-182.
7. D.J. Conacher, Euripides. Alcestis, Warminster 1988.