BMCR 2008.09.20

The Herculaneum Women. History, Context, Identities

, The Herculaneum women : history, context, identities. Los Angeles: J. Paul Getty Museum, 2007. xiii, 178 pages : illustrations (some color), color maps ; 27 cm. ISBN 9780892368822. $50.00.

Die drei “Herkulanerinnen” gehören zu den berühmtesten antiken Statuen. Ihre Entdeckung gilt als ein wichtiges Ereignis innerhalb der Archäologie, waren es doch die ersten Skulpturen, die in den Vesuvstädten gefunden wurden. Keine Geschichte der Ausgrabungen in den Vesuvstädten, keine Geschichte der griechischen und auch der römischen Plastik verzichtet auf sie. Zahlreiche römische Kopien und Abwandlungen bezeugen die Beliebtheit der beiden Statuen-Typen in der Antike, und auch in der Neuzeit waren Abgüsse und Kopien der Herkulanerinnen weit verbreitet. Trotzdem fehlte bisher eine Monographie.

Die nun vorliegende Publikation ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen der Skulpturensammlung der Staatliche Kunstsammlungen Dresden und der Antikenabteilung des Getty-Museums, wo die drei Statuen nach ihrer Restaurierung in einer Ausstellung gezeigt werden (8. November 2007 bis 13. Oktober 2008). Der grosszügig ausgestattete Band umfasst Beiträge mehrer Autoren und Autorinnen und trägt damit der vielfältigen Bedeutung der drei Statuen Rechnung. Sie werden nicht nur als Zeugnisse der griechischen und römischen Bildhauerkunst interpretiert und gewürdigt, sondern auch ihr inzwischen fast dreihundert Jahre andauernden “Nachleben” — ihrer Entdeckung in Portici, ihrer Präsentation in Wien und in Dresden und nicht zuletzt ihrer Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte — wird ausführlich dargestellt.

Bereits im 18. Jahrhundert gab es widersprüchliche Aussagen über Ort und Zeit ihrer Auffindung. Jens Daehner unterzieht im Kapitel “Discovery and Archaeological Context” (S. 1-17), die Quellen einer kritischen Prüfung. Dabei weist er überzeugend nach, dass die Statuen 1710 oder 1711 entdeckt wurden (S. 9), und zwar tatsächlich im Bereich des Theaters (S. 8), nicht auf dem Gelände der Villa des Principe Elboeuf, wie beispielsweise Winckelmann meinte. Dabei verfällt Daehner nicht der Versuchung, die Bedeutung dieser Entdeckungen für die späteren Ausgrabungen in den Vesuvstädten zu überschätzen. Der Anlass für die 1738 begonnenen Untersuchungen war eher zufällig: Vermessungen für den Bau der Königlichen Villa in Portici, die der Ingenieur Roque Joachin Alcubierre durchführte. Der König genehmigte die Grabungen erst, als Alcubierre die Ergiebigkeit des Unternehmens durch Statuenfunde belegen konnte. Winckelmanns negatives Urteil über Alcubierre — dieser habe von den Grabungen so viel verstanden, wie der Mond von den Krebsen — wird zwar immer wieder gerne zitiert, so auch hier; muss allerdings relativiert werden; Winckelmanns Informant war Camillo Paderni, ein erbitterter Rivale Alcubierres (S. 12); manche seiner Schauergeschichten sind schlicht falsch.

Während die Architektur des Theaters durch Pläne und Aufrisse recht gut bekannt ist, sind die Beschreibungen in den Fundberichten zu ungenau, um die Ausstattung exakt zu rekonstruieren. Seit 1739 wurden in Herculaneum weitere mit Statuen ausgestattete öffentliche Bauten entdeckt, so dass es schon früh zu Verwechslungen kam. Immerhin ergeben die sicher aus dem Theater stammenden Funde eine stattliche Anzahl von Ehrenstatuen aus Bronze und Marmor. Welchen Platz die drei Herkulanerinnen innerhalb des Gebäudes einnahmen, ist nicht mehr festzustellen, doch dürfte es die Scaenae frons gewesen sein.

Im Kapitel “From Herculaneum to Dresden: The Modern History” (S. 17-36) schildert Kordelia Knoll den weiteren Weg der drei Statuen, die schon 1713 Portici verliessen und über Rom, wo sie restauriert wurden, nach Wien gelangten. Dabei geht Knoll ausführlich auf die Aufstellung in Prinz Eugens neu errichtetem Belvedere ein, wo sie – wie eine zeitgenössische Abbildung zeigt – zusammen mit barocken Skulpturen den prächtigen Marmorsaal schmückten (S. 23 Abb. 2.3). Nach dem Tod Prinz Eugens kaufte der sächsische Kurfürst Friedrich August II., als August III. zugleich König von Polen, 1736 die drei Statuen. Sie kamen nach Dresden, wo ihre Unterbringung mehrfach wechselte: 1786-1890 hatten sie ihren Platz im “Japanischen Palais”, danach im Albertinum, wo schliesslich ein eigener Raum für sie eingerichtet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte man sie nach Moskau, von wo sie erst 1958 zurückkehrten (S. 35).

Die Legende von der kunstsinnigen sächsischen Prinzessin und späteren neapolitanischen Königin Maria Amalia, die sich aus ihrer Jugend in Dresden an die beiden Statuen erinnert und deshalb die Ausgrabungen vorantreibt, wird zwar erwähnt, jedoch dankenswerterweise mit dem Zusatz “it would be nice” (S. 24-25). Denn einen Beleg dafür, dass Maria Amalia die Statuen kannte, gibt es ebenso wenig wie irgendeinen Hinweis auf ihr Interesse an den Ausgrabungen.

Die Bedeutung der Herkulanerinnen liegt nicht zuletzt in Winckelmanns Urteil, das sie innerhalb der Kunstgeschichte zu “Key Figures of Neoclassicism” (S. 30-36) machte. Sie gehörten zu den wenigen antiken Originalen, die Winckelmann schon vor seiner Übersiedlung nach Rom kennen lernte, wenn auch unter ungünstigen Bedingungen (S. 26-27), in einer eher provisorischen Aufstellung. Trotzdem widmet er ihnen in seinen “Gedanken zur Nachahmung der griechischen Kunst” eine enthusiastische Würdigung, in der er sie “griechischen Werken vom ersten Range” gleichsetzt und ihre “Draperie” als Beleg für die edle Einfalt und stille Grösse griechischer Kunst heranzieht. Gipsabgüsse der drei Statuen waren seit dem späten 18. Jahrhundert weit verbreitet, in den 1780er Jahren dienten sie als Vorlagen für Figuren aus Meissner Porzellan (S. 32 Abb. 2.11), später folgten gusseiserne Nachbildungen (S. 31 Abb. 2.9-10).

Der im engeren Sinne archäologische Part von Christiane Vorster (“The Large and Small Herculaneum Women Sculptures”, S. 59-82) geht von einer gründlichen Bestandsaufnahme aus, in der die Restaurierungen, aber auch die ursprüngliche Farbigkeit der drei Statuen ausführlich dargestellt werden. Aufgrund ihrer Datierung kommt Vorster zum Ergebnis, die Statuen seien zu unterschiedlichen Zeiten gearbeitet und daher vermutlich nicht gleichzeitig im Theater aufgestellt worden (S. 70-76). Wie Daehner beschäftigt auch sie sich mit der ursprünglichen Ausstattung des Theaters (“Display and Function”, S. 77-83), wobei sie von einer Aufstellung in der Bühnenfassade ausgeht (S. 96).

Eine wichtige Rolle spielt die Frage, ob es sich um Porträts handelt. Vorster kann sich dabei auf die Untersuchungen von Jennifer Trimble stützen,1 die den Porträtcharakter der Statuen überzeugend nachgewiesen hat. Auch wenn die ideal wirkenden Gesichtszüge nichts vom Realismus republikanischer Porträts haben, zeigt der Vergleich mit Bildnissen von Angehörigen des Kaiserhauses, etwa auf der Ara Pacis, dass hier ein neues, für die Öffentlichkeit bestimmtes Frauenbild geschaffen wurde: Individuen als Vertreterinnen der Ideale ihrer Epoche und ihres Standes. Zusammen mit anderen im Theater gefundenen weiblichen Statuen belegen sie die Aufstellung weiblicher Ehrenstatuen in der frühen Kaiserzeit als ein neues Element der Selbstdarstellung lokaler Eliten (S. 81-83).

Nachdem Vorster die Statuen ausdrücklich als “autonome Werke” behandelt hatte, untersucht Jens Daehner “The Statue Types in the Roman World” (S. 85-111). Die Zahl der Repliken ist eindrucksvoll. Daehner spricht von einer “success story” (S. 110): 207 Kopien der Grossen und 168 der Kleinen Herkulanerin können nachgewiesen werden (S. 87), dazu noch Darstellungen auf Grabreliefs und auf Sarkophagen. Der zeitliche und geographische Rahmen reicht von einer Statue aus Delos (frühes 1. Jahrhundert v. Chr.) bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. Das früheste römische Beispiel entstammt dem späten 1. Jahrhundert v. Chr. Den Höhepunkt ihrer Beliebtheit erreichten die Herkulanerinnen im 2. Jahrhundert, beginnend unter Trajan, und wieder abflauend in antoninischer Zeit. Nach den Severern findet sich der Typus nur noch auf Grabreliefs und Sarkophagen. Eine Karte veranschaulicht die geographische Verteilung der 140 Fundplätze (S. 90-91).

In Abgrenzung von der traditionellen Kopienkritik, mit der die griechischen Originale wiedergewonnen werden sollen, geht Daehner — unter ausdrücklichem Verweis auf die Untersuchungen von Jennifer Trimble — von den in diesem Typus dargestellten Personen, ihrer sozialen Stellung und der Verwendung der Statuen aus, um ihre Bedeutung in römischer Zeit zu ermitteln. Als Parallele für Herculaneum kann das Theater in Butrint gelten, ausserdem gibt es frühkaiserzeitliche Beispiele im Zusammenhang mit dem Kaiserkult (Misenum, Porträtstatue) oder mit Angehörigen des Kaiserhauses (Heroon des Herodes Atticus in Olympia). Dabei fällt auf, dass eine rein private Verwendung fehlt. Für den Erfolg der beiden Statuentypen macht Daehner “the right balance between low iconographical profile and easy recognizibility” verantwortlich; das mache sie sich für ganz unterschiedliche Zusammenhänge geeignet (S. 110-111).

Im Kapitel “Greek Origins: The Herculaneum Women in the Preroman World” (S. 113-139) geht es schliesslich um die – innerhalb der älteren Kunstgeschichtsschreibung zentrale — Frage nach den griechischen Vorbildern. Vorster analysiert die beiden nur in Herculaneum gemeinsam nachweisbaren Statuentypen zunächst einzeln und kommt aufgrund ihrer kopienkritischen Untersuchung zu dem Schluss, das Vorbild der Grossen Herkulanerin sei um 330/320 v. Chr., das der Kleinen um 320/310 v. Chr. geschaffen worden, und zwar von unterschiedlichen Künstlern (S. 114-119).

Ausgehend von den römischen Kopien und ihrer Verwendung schliesst Vorster auf berühmte Vorbilder mit einer positiven, nie ganz in Vergessenheit geratenen Konnotation, die entweder mit den Dargestellten oder mit dem Künstler zusammenhing. Dass es sich um Göttinnen handelte, kann ausgeschlossen werden; es ist daher auch bei den Vorbildern der Herkulanerinnen von Porträts auszugehen.

Wie Vorster nachweist, waren Porträts berühmter Frauen — etwa Dichterinnen — von berühmten Künstlern in der späten Klassik und im frühen Hellenismus keine Seltenheit (S. 122-128). Dies gilt auch für Statuen bürgerlicher Frauen; insbesondere in Athen sind zahlreiche weibliche Ehrenstatuen inschriftlich bezeugt, wobei die gesellschaftliche Stellung der Familie eine wichtige Rolle spielte. Die beiden Statuentypen der Herkulanerinnen waren seit dem späten Hellenismus verbreitet (S. 128-136), beispielsweise auf attischen Grabreliefs für Frauen aus dem wohlhabenden Bürgertum, wobei die reichen Gewänder und Frisuren den Wohlstand und die Würde der Dargestellten bezeichnen. Dass einige als Priesterinnen dargestellt sind, zeigt ihre zusätzliche Funktion innerhalb der Gesellschaft (S. 137). Die beiden Statuentypen werden zur Verkörperung von positiven Eigenschaften, wobei ihr unterschiedlicher Charakter auch unterschiedliche Verwendung ermöglicht: die Grosse, eher matronal erscheinende Herkulanerin steht für “sophrosyne”, die Kleine dagegen für “charis” und ist daher eher für die Darstellung jüngerer Frauen geeignet (S. 139).

Während die Dargestellten selbst in Vergessenheit gerieten, wurden ihre Statuen zum Typus der als Gattin, Mutter, Tochter oder als Bürgerin vorbildlichen Frau. Erst in zweiter Linie ging es um ein getreues, lebendiges Porträt einer bestimmten Frau. Dies ist wohl auch einer der Gründe, weshalb Frauenporträts aus dieser Epoche bisher wenig Beachtung fanden. Um so verdienstvoller ist Vorsters knappe, aber erschöpfende Darstellung dieses Fragenkomplexes und der damit verbundenen methodischen Ansätze.

Mit dem letzten Kapitel “From the Menagerie to the Plaster Gallery: The Herculaneum Women in Dresden” (S. 141-155) führt Moritz Woelk wieder zurück in die Neuzeit. Die Wirkung der Statuen in der Barockzeit wird durch zwei kolorierte Zeichnungen von Salomon Klingner illustriert, auf denen die Statuen zwischen exotischen Tieren und antiken Ruinen erscheinen (S. 142 Abb. 6.2-3), und durch zwei Sandsteinskulpturen von Lorenzo Mattielli, der das Motiv für Heiligenfiguren verwendete (S. 145 Abb. 6.4-5). Erstaunlicherweise äussert sich Winckelmann lobend über diese barocken Umbildungen. In Dresden erhielten die Statuen bald Konkurrenz, und zwar nicht etwa durch andere antike Originale, sondern erstaunlicherweise durch die Gipsabgüsse der Sammlung von Anton Raphael Mengs, die Ende des 18. Jahrhunderts zusammen mit ihnen aufgestellt wurden. Auch die Herkulanerinnen selbst fanden als Abgüsse weite Verbreitung.

Die vorgelegte Monographie ist ein ausserordentlich vielseitiges Werk, eine Zusammenfassung des Forschungsstandes ganz unterschiedlicher Bereiche. Dass die Abgrenzung nicht immer ganz schlüssig erscheint, etwa bei den beiden Kapiteln zum “Nachleben” (Knoll und Woelk), oder bei der römischen und vorrömischen Verwendung und Bedeutung (Daehner und Vorster), ist angesichts der Fülle von Themen zu verschmerzen. Im eigentlich archäologischen Teil werden bei der Einordnung der antiken Statuen innerhalb der griechischen und römischen Kunst neue methodische Ansätze angewandt und damit einem breiteren Publikumvertraut gemacht, das zu Untersuchungen wie denen von Jennifer Trimble oder von Christiane Vorster sonst kaum Zugang hätte.

Auch dies ist ein Verdienst des (wie alle Veröffentlichungen des J. Paul Getty Museums) grosszügig ausgestatteten Bandes. Die Neuaufnahmen der restaurierten Herkulanerinnen, Gesamtaufnahmen wie Details, sind ebenso wie die zahlreichen anderen Abbildungen von hervorragender Qualität.

Es bleiben daher nur wenige Wünsche offen. Ein Replikenverzeichnis hätte möglicherweise den Rahmen gesprengt, nützlich wäre es sicherlich gewesen. Im Anhang (S. 156-157) gibt es lediglich eine Liste mit Ergänzungen zu den Verzeichnissen von Jennifer Trimble2 und von Annetta Alexandridis.3 Der Verweis auf Trimbles ist in diesem Zusammenhang eher irreführend, da sie nur die von Kruse 4 noch nicht verzeichneten Repliken auflistet, während sich bei Alexandridis eine eigenständige Auflistung mit bibliographischen Angaben findet. Für Bildunterschriften, Replikenverzeichnis, Anmerkungen, Bibliographie und Index hätte man sich etwas grössere Typen gewünscht; angesichts der übrigen Ausstattung leuchtet eine solche Sparsamkeit nicht recht ein.

Noch ein Hinweis: Für Ende August 2008 hat der Hirmer-Verlag eine deutsche Ausgabe angekündigt (“Die Herkulanerinnen. Geschichte und Kontext antiker Frauenbilder”).

Notes

1. Jennifer Ferol Trimble, “The Aesthetics of Sameness: A Contextual Analysis of the Large and Small Herculaneum Woman Statue Types in the Roman Empire.” Ph.D. diss., University of Michigan, 1999.

2. Trimble, l. c. 177-180.

3. Annetta Alexandridis, Die Frauen des römischen Kaiserhauses. Eine Untersuchung ihrer bildlichen Darstellung von Livia bis Iulia Domna. Mainz 2004, 238-248.

4. Kruse römische weibliche Gewandstatuen des zweiten Jahrhunderts n. Chr. Göttingen 1975, 260-263, 294-297, 503-504.