Latein gilt dem Laien gemeinhin als logisch aufgebautes grammatisches System. Ob seiner klaren Systematik müssten die grammatischen Strukturen nur auswendig gelernt werden, um einen entsprechenden Lernerfolg zu erreichen. Diese fatale Erkenntnis fördert nicht nur den Mythos von Latein als “toter Sprache”, sondern verkennt die Entwicklung des Lateinischen als lebendige, weil gesprochene Sprache von frühen Formen über die klassische literarische Hochsprache des 1. Jahrhunderts v.Chr. bis hin zum spätantiken Auseinanderdriften phonetisch und grammatisch verschiedener “Vulgärlatein”-Formen in den romanischen Volkssprachen. Ja, so sind sogar die Frühformen der lateinischen Sprache heutzutage immer weniger eine Domäne der Klassischen Philologie, sondern werden scheinbar bereitwillig der historischen und vergleichenden Sprachwissenschaft überlassen, wie die Dissertation von H. am Institut für Vergleichende Sprachwissenschaft der Universität Würzburg.
Dabei nimmt H. mit den frühlateinischen Inschriften ein Feld in den Blick, das mit seinen vorliterarischen Zeugnissen interessante und vor allem authentische Einblicke in die phonetische, linguistische und paläographische Entwicklung der lateinischen Sprache vor 240 v.Chr. eröffnen könnte, wenn nicht die oft undurchsichtigen, breit gestreuten und uneinheitlichen Datierungsversuche moderner Forschungsliteratur ein disparates Feld für das Beackern durch Philologen und Sprachwissenschaftler zurückliessen. Daher verfolgt H. das Ziel, Licht in diese von historischer, philologischer, linguistischer, paläographischer und archäologischer Seite mit ihren unterschiedlichen Methoden angeführten Zeitansätze zu bringen. Das Schaffen einer verlässlichen Basis für die Inschriftendatierungen stellt so eine Vorarbeit “zu einer Chronologie lateinischer Lautgesetze” (3) dar, die H. ursprünglich im Blick hatte.
Das methodische Vorgehen ist dabei als vorbildlich zu bezeichnen. Nach der Themenstellung und der zeitlichen Eingrenzung der Inschriften auf solche mit Datierungsvorschlägen vom 7.-5. Jahrhundert v.Chr. (1-4), stellt H. das Inschriftenmaterial vor (5-182). Dabei scheidet er Inschriften und Fragmente mit weniger als sechs paläographisch vergleichbaren Einheiten (Buchstaben, Schreibregeln, Schriftrichtung, Interpunktion) aus, benennt diese jedoch vor und begründet ihren Ausschluss (5-35). Das zu analysierende Material, insgesamt 12 frühlateinische Inschriften unterschiedlichen Charakters, wird danach überblicksartig mit der jeweiligen Forschungsgeschichte vorgestellt (36-170), woran sich ein sprachwissenschaftlicher Exkurs anschliesst (171-182). Zur zeitlichen Einordnung der ausgewählten Inschriften untersucht H. das Material hinsichtlich seiner archäologischen (183-210), historischen (211-215), sprachlichen (216-221) und paläographischen (222-425) Datierungsmöglichkeiten, wobei die historischen und sprachlichen Analysen aufgrund ihrer für diese Frühzeit unverwertbaren Datierungen letztendlich verworfen werden. Die paläographische Analyse stellt das Kernstück der Arbeit dar, wobei H. ausgehend von den Schriftsystemen in Mittelitalien (222-228) die Schriftzeichen der einzelnen Inschriften (sowie Gegenproben) analysiert (229-285) und mittels der weiter unten vorgestellten rechnerischen Vergleichsmethode statistisch in ein zeitliches Verhältnis zueinander setzt (286-425). Die daraus gewonnenen Erkenntnisse münden mittels Synthese mit den archäologischen Ergebnissen in neuen Datierungsvorschlägen (426-434). Ein Abbildungsverzeichnis (435-441) sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis (442-456) und ein nützlicher Wortformenindex (457-466) runden den Band ab.
Die zur Untersuchung verwendeten Inschriften sind: Vetusia-Inschrift (La 2.1), Fibula Praenestina (CIL I 2 3), Inschrift von Madonetta (CIL I 2 2833), Duenos-Inschrift (CIL I 2 4), Forum-Inschrift (CIL I 2 1), Inschrift am Sockel von Tibur (CIL I 2 2658), Lapis Satricanus (CIL I 2 2832a), CIL I 2 474, Garigliano-Schüssel, CIL I 2 479, Altarfragmente von Corcolle (CIL I 2 2833a) und als Falsifikationsobjekt CIL I 2 2830, das nur 4 graphische Einheiten aufweist. Da die Objekte in Form, Material, Inschriftencharakter, Fundzusammenhang, Graphie und Inhalt stark divergieren, werden die Inschriften einzeln charakterisiert. Dabei legt H. vor allem Wert auf mehrere und verschieden perspektivische Photographien sowie davon angefertigte eigene Abzeichnungen sowohl des Fundgegenstandes als auch der Inschrift, um die fehlende Autopsie am Objekt auszugleichen. Den möglichen Einwänden begegnet er überzeugend (229-231). Ebenso werden eine Transliteration der Inschrift und, wenn möglich, eine Übersetzung geboten sowie die bisherige Datierung und der Fundort referiert. Sodann wird die Faktenlage der oft verworrenen Forschungsgeschichte zu den einzelnen Objekten diskutiert, dergestalt, dass H. den unterschiedlichen Standpunkten umfassend Darstellungsraum einräumt, konkurrierende Interpretationsmodelle nebeneinander stellt, diskutiert und zu einem abgewogenen, aber jederzeit sicheren Urteil kommt.1
Beispielsweise skizziert H. die umfangreiche Forschungsdebatte um die Echtheit der Fibula Praenestina (67-106), deren mysteriöse Fundumstände, schwer zu analysierende Materialbeschaffenheit, unsorgfältige Beschriftung und sprachliche Besonderheiten immer wieder Anlass gaben, sie für eine Fälschung zu halten.2 So ziehen Kritiker einerseits etwa Charakteristika, die in damals bekannten Inschriften bereits vorkamen und daher als Vorbild für eine Fälschung gedient haben könnten, aber auch Merkmale, die ohne jegliche Parallele waren oder sind, für ihre Fälschungshypothesen heran. Diese letztlich nicht beweisbaren Argumentationslinien klopft H. auf ihre Plausibilität ab und kommt nach sorgfältiger Abwägung der vorgebrachten Kritikpunkte zum auch methodisch vertretbaren Schluss, die Fibula Praenestina und ihre Inschrift so lange als authentisch anzusehen, bis zwingende Beweise für eine Fälschung vorliegen.
Zu Recht schliesst H. auch die historischen und sprachlichen Datierungsmethoden für diese frühen Inschriften aus. Historisch fassbare Ereignisse sind nämlich auf den untersuchten Inschriften nicht festzustellen, man bewegt sich entweder wegen des privaten Charakters der Zeugnisse (Besitzer-, Herstellungs- oder Weihinschriften) oder der fragmentarischen und dadurch mehrdeutigen Überlieferung, zum Beispiel der Foruminschrift, auf dünnem Eis, wollte man dadurch historische Ereignisse oder Personen benennen. Ähnlich ist es um die sprachlichen Merkmale bestellt. Bis auf einige sprachliche Fixpunkte, die sich — wie etwa der Rhotazismus (s > r) — durch anderweitig datierbare Inschriften oder externe Quellen zeitlich festlegen lassen, ist die Beschaffenheit des vorliterarischen Lateins nämlich gerade durch diese epigraphischen Zeugnisse bekannt. Mit dem Ausschluss dieses Kriteriums werden so Zirkelschlüsse vermieden.
So bleiben zur Datierung die archäologischen und die paläographischen Methoden. Während sich H. mangels Fachkenntnissen die archäologischen Datierungsvorschläge durch spezialisierte Forscher zu eigen macht und diese ggf. gegeneinander abwägt, nimmt die Entwicklung und Diskussion der paläographischen Datierungsmethode breiten Raum ein. Dabei setzt H. sich zunächst mit der Kritik an einer paläographischen Datierung auseinander, dass die oft archaisierenden Schreibweisen späterer Zeit keine termini post oder ante quem zuliessen, die Schriftsysteme in Latium zu dieser frühen Zeit keiner einheitlichen Form folgten und einzelne Buchstabenformen keine Aussagekraft für Inschriftenvergleiche oder gar Datierungen hätten. Er stellt diesen Kritikpunkten die Methoden der nicht-paläographischen Einordnung (v.a. durch die Archäologie) und der Gesamtuntersuchung aller erkennbaren Buchstaben gegenüber, um auf dieser Basis die Zuverlässigkeit der paläographischen Datierung zu überprüfen.
Diese Überprüfung erfolgt mittels einer Verhältnisbestimmung der Inschriften zueinander hinsichtlich ihrer Graphie. Hierbei vergleicht H. die verschiedenen Einheiten, also Form einzelner übereinstimmender Buchstaben, Schreibregel, Schriftrichtung und Interpunktion, miteinander und verrechnet die Anzahl der ähnlichen und unähnlichen Einheiten gleichgewichtig miteinander, wobei zur Kontrolle auch bei einer Verrechnung mit ungleich gewichteten Merkmalserscheinungen je nach distinktiver Häufigkeit kaum andere Ergebnisse erzielt werden. Eine epigraphische Nähe und paläographische Ähnlichkeit von Inschriftenpaaren – unter Ausscheidung der Inschriftenpaare mit weniger als sechs gemeinsamen Einheiten – ergibt sich für H. dabei nicht schon bei über 50prozentiger Übereinstimmung. Durch Ähnlichkeitsberechnungen mit deutlich jüngeren Inschriften als Kontrollinstanz setzt H. mit Recht die Grenze für eine aussagekräftige paläographische Datierung auf über 70 Prozent Übereinstimmung in den Einheiten fest. In verschiedenen Schaubildern erweist H. sodann, dass die nach dem Ergebnis ähnlichsten Inschriften nicht etwa regional zentriert sind oder hinsichtlich des Materials des Inschriftenträgers übereinstimmen. So folgert er letztendlich eine chronologische Nähe dieser Inschriften.
In der Synthese mit der archäologischen Datierung gelangt H. bei allen selbst geäusserten Vorbehalten3 zu Datierungen einzelner frühlateinischer Inschriften, die sich z.T. deutlich von denen in der bisherigen Forschungsliteratur unterscheiden. So können die Zeitansätze der Fibula Praenestina von der Mitte des 8. Jahrhunderts bis ins 6. Jahrhundert jetzt auf das 7. Jahrhundert v.Chr. eingegrenzt werden. Die Forum-Inschrift ist hingegen wohl im 7. oder 6. Jahrhundert v.Chr. entstanden, so dass Datierungen bis nach 390 v.Chr. jetzt endgültig verworfen werden können, ebenso wie der breite Rahmen bei der Duenos-Inschrift (7. Jahrhundert – Mitte 3. Jahrhundert v.Chr.), die nun in die 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts v.Chr. zu datieren ist.
Summa summarum legt H. eine ausgezeichnete und — obwohl der Kärrnerarbeit einer Grundlagenstudie verpflichtet — durchaus interessante Studie zu den Frühformen der lateinischen Sprache vor. Es bleibt zu hoffen, dass wir auf dieser Basis der von ihm beabsichtigten Chronologie lateinischer Lautgesetze nicht lange harren müssen.
Notes
1. Seine gesamte Untersuchung fusst im übrigen auf der vorbildlichen Auffassung, die oft schwer nachvollziehbaren, weil unbegründeten und daher (für ihn) fragwürdigen Datierungsvorschläge beiseite zu lassen und auch dem Nichtfachmann “die Ursprünge für die Datierung der frühesten lateinischen Inschriften offenzulegen und sie einer Überprüfung zu unterziehen” (3).
2. Insbesondere M. Guarducci zweifelt in verschiedenen Arbeiten die Echtheit der Fibel an. Vgl. 70 mit der umfassenden Nennung der für oder wider die Authentizität sprechenden Forschungsliteratur.
3. So können neben archaisierender Inschriftensprache auch alte Buchstabenformen auf deutlich jüngeren Inschriften Verwendung finden oder fehlende Schlüsselbuchstaben einen präzisen paläographischen Vergleich unterbinden (428-431).