Der vorliegende Tagungsband versammelt 18 Beiträge,1 die anlässlich der vom 19. bis 21. August 2004 am Seminar für Klassische Philologie der Universität Basel mit Teilnehmern aus Belgien, Deutschland, Italien, der Schweiz, Zypern, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten veranstalteten Internationalen Lucan-Tagung gehalten wurden.2 Diese Tagung stand im Zusammenhang mit dem durch den Schweizer Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt “Eine menschengemachte Katastrophe als kollektives Trauma. Seine Verarbeitung in der römischen Dichtung am Beispiel von Lucans Bellum Civile“.
Ziel der Tagung war es, Lucan-Spezialisten aus den drei dominierenden Sprachräumen der Lucan-Forschung zusammenzubringen. Es sollten Themenkomplexe behandelt werden, die für die Interpretation des Bellum Civile zentral sind (Sprache, Philosophie, literarische Tradition, Verhältnis zur Geschichtsschreibung, zentrale Episoden und Gestalten), die sich als Paradigmata einer Methodendiskussion eignen. Hierdurch sollen nicht nur vergangene, gegenwärtige und für die Zukunft wünschbare Perspektiven der Lucan-Forschung sichtbar werden, sondern auch Möglichkeiten und Beschränkungen einer ‘modernen’ Latinistik reflektiert werden. Zudem sollte dem Problem begegnet werden, dass mit der Lucan-Renaissance des 20.Jh. sich deutlich regelrechte “Vorurteilsstrukturen” (bezüglich angeblichem Stoizismus, Republikanismus, Anti-Vergilismus, Manierismus) und nationale Lesarten herausbildeten. Die Beiträge des Bandes sind grob chronologisch am Bellum Civile orientiert.3 Durch Rückzug des Autors fehlt leider ein Beitrag zum prooemium.
Zunächst gibt Christine Walde (Basel/Mainz) in ihrer Einleitung einen Überblick über die Lucan-Forschung der letzten 35 Jahre und unternimmt es sodann in einem Ausblick, Perspektiven der Lucan-Forschung zu skizzieren. Der Feststellung, dass zur schnellen und sicheren Erschliessung des Werkes ein Gesamtkommentar ein Desiderat der Forschung ist, ist unbedingt beizupflichten.
Yanick Maes (Ghent) “Starting something Huge: Pharsalia I 83-193 and the Virgilian Intertext” zeigt beispielhaft auf, wie bei Lucan immer die grossen Vorgänger Vergil und Ovid als Subtext mitschwingen und in Anspielungen präsent sind. Dass die Kenntnis dieser Vorbilder auch bei seinen Lesern vorauszusetzen ist, ermöglicht es Lucan bei seinen Zitaten mit der Erwartungshaltung des Publikums zu spielen.
Piet Schrijvers’ (Leiden) Beitrag “The ‘Two Cultures’ in Lucan. Some remarks on Lucan’s Pharsalia and ancient sciences of nature” stellt die erweiterte englische Fassung seines Vortrags “Het lied van Jopas” dar.4
Joachim Dingel (Hamburg) behandelt “Lucans poetische Sprache am Beispiel von Bell. Civ. 2,262-525.”
Jula Wildberger (Frankfurt) ” Quanta sub nocte iaceret nostra dies (Lucan. 9,13f.) — Stoizismen als Mittel der Verfremdung” hält zunächst fest, dass die Untersuchung der Stoa bei Lucan vor dem Hintergrund der neueren Forschungsarbeiten zur Stoa ein dringendes Desiderat darstellt und skizziert anschliessend die stark polarisierten Positionen der jüngeren Forschung. W. sieht als Grund für die disparate Forschungslage, dass es im Bellum Civile keine systematische, philosophische Auseinandersetzung mit stoischen Gedanken gebe, sondern lediglich Zitate und Anspielungen auf stoische Termini, Lehrsätze und Texte, die sie als “Stoizismen” bezeichnet. W. folgert daraus, dass Lucan stoische Begriffe und Deutungsmuster poetisch verwendet und zeigt am Beispiel von Catos Rede im zweiten Buch und Pompeius’ Apotheose zu Beginn des neunten Buches auf, wie stoische Begriffe mit anderen stoischen Begriffen bzw. herkömmlichen Vorstellungen, die geradezu deren Inversion sind, so kombiniert werden, dass eine Entscheidung für eine Seite aus dem Text heraus nicht möglich ist. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht gerade dadurch, dass Lucan Kenner der stoischen Philosophie ist, bei seinen Lesern ähnlich gute Kenntnisse voraussetzt und auf dieser Basis die Verfremdungseffekte der “Stoizismen” nutzt, um den Leser zu affirmativer oder kritischer Auseinandersetzung zu aktivieren, doch eine stoische Tendenz in Lucans Dichtung vorhanden ist.
Dorothee Gall (Hamburg) “Masse, Heere und Feldherren in Lucans Pharsalia” weist darauf hin, dass, wenn wie im Bürgerkrieg beide Armeen aus dem eigenen Volk stammen, die Darstellung der Menge in dreifacher Hinsicht problematisch ist: die Dämonisierung des Gegners ist inopportun, beim Adressaten kann eine schmerzliche Erinnerung evoziert werden und die Teilnahme für die unterlegene Seite ist politisch brisant. Da Lucan Massenszenen nicht, wie es durchaus möglich gewesen wäre, unterdrückt, lasse dies durchaus auf eigene erzählerische Interessen schliessen. G. arbeitet in Auseinandersetzung mit der These von Schmitt,5 der die Massenszenen als Kommentar aus der Opferperspektive in Analogie zu den Chorszenen in der Tragödie rückt, fünf Aspekte der Massendarstellung heraus: Schuld, Opferrolle, Verführbarkeit, kritischer Kommentar und Folie für die Feldherren.
Elena Merli (Berlin/L’Aquila) “Historische Erzählung und epische Technik in Pharsalia 4,581-824”, deren besonderes Interesse dem Zusammenhang von Struktur und literarischer Kommunikation gilt, untersucht anhand der Curio-Episode, welche Stellung zwischen historiographischen und epischen Modellen Lucans Erzählung einnimmt. Intratextuelle Bezüge werden explizit nicht untersucht. M. arbeitet durch Nachweis einer Reihe wiederkehrender Elemente heraus, dass der Ablauf der Schlacht und Curios Tod in ein livianisches Schema eingebettet sind. Sodann weist sie intertextuelle und strukturelle Beziehungen der Curio-Darstellung Lucans zu den Darstellungen von Pallas, Lausus und Turnus in Vergils Aeneis auf. Erhellend sind die Ausführungen zu den iuvenis und audax Epitheta bei Lucan und Vergil. Die Zurückführung der Curio-Gestalt auf Catilina erscheint allerdings problematisch. Es ergibt sich, wie beim antiken leser in Kombination von Wissen um die historischen Ereignisse und Kenntnis der literarischen Anspielungen ein Bild Curios entstehen konnte, das seinen ambivalenten Charakter widerspiegelte.
Chiara O. Tommasi Moreschini (Pisa) “Lucan’s Attitude towards Religion: Stoicism vs. Provincial Cults” meint, dass Lucan die traditionelle Götterrepräsentation des Epos aufgrund seiner stoischen Ideale aufgegeben habe und stellt die Frage nach der Funktion von Lucans Interesse für Provinzialreligion und fremde Kulte. Zu fremden Kulten sei Lucan gut informiert und verlässlich und historische Charaktere seien sehr gut passend ausgewählt.
Concetta Finiello (Basel) “Der Bürgerkrieg: Reine Männersache? Keine Männersache! Erictho und die Frauengestalten im Bellum Civile Lucans” arbeitet heraus, dass sich die Figur der Erictho durchaus in das System der Lucanischen Frauengestalten einordnen lässt. Exemplarisch untersucht sie Marcia, Iulia und Cornelia. Es ergibt sich, dass ein allen Frauen gemeinsames Charakteristikum die den Tod ankündigenden Prophezeiungen sind. Hierzu und zur Assoziation mit dem Bürgerkrieg, der sich für die einzelnen Frauengestalten auch noch als profitabel erweist, passt auch ihre Beschreibung als furienhafte Wesen. Schliesslich stellt F. die These auf, dass Erictho das weibliche alter ego des Erzählers sei und begründet dies damit, dass Lucan mit dieser Handlung in der Handlung seine eigenen Produktionsstrategien spiegele und sich während dieser Zeit gewissermassen selbst von der Bühne zurückziehe.
Ulrich Eigler (Zürich) “Caesar in Troja. Lucan und der lange Schatten Vergils” macht deutlich, dass die Präsenz Vergils als Prätext es Lucan ermöglicht, seinen Standpunkt gegen Vergil zu entwickeln. Lucan wolle sich als Dichter der Negativität gegen Vergil etablieren und beanspruche damit die neue Deutungshoheit über die Römische Geschichte. Die Rahmenbedingungen des Bürgerkriegs wenden die römische Tugend ins Negative; dies wird exemplarisch an Caesars virtus gezeigt. Der vergilische Heilsplan ist nicht mehr sinnstiftend; Caesar ordnet sich nicht mehr ins fatum ein. Der historische Caesar suchte in seiner Propaganda durchaus den Aeneasbezug; Lucan entzieht ihm diesen und nimmt damit dem Prinzipat die legitimatorische Basis. Bei Catos Darstellung als alter Aeneas könne Lucan Vergilianer bleiben, die anti-vergilische Technik sei auf Caesar beschränkt.
Auch Charles Tesoriero (University of New England, Australia) “Trampling over Troy: Caesar, Virgil, Lucan” sieht die Aeneis als Metatext, auf den Lucan beständig Bezug nimmt. Insbesondere sei es Lucans Ziel, die augusteische Propaganda Vergils zu konterkarieren. Dazu nutze Lucan die Verschränkung verschiedener Perspektiven. Der Besuch Caesars in Troja ist Erfindung Lucans, wobei auf den ersten Blick die bei Caesar festzustellende Unvertrautheit mit den örtlichen Gegebenheiten erstaunt6 — ein gelungener poetischer Kunstgriff, da dies auch durchaus mit den Lesererwartungen und dem durch Vergil geprägten Leserwissen kollidierte: Der Leser weiss, aber Caesar weiss nicht, worauf zu achten ist. Daher ergibt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was Caesar aus Troja macht und den Erwartungen des vergilisch geprägten Lesers an Caesar. Zur Rolle des incola als monstrator stellt T. heraus, dass dieser damit eben nicht die Position des Dichters einnimmt, die im Dichterkommentar der Verse 980-986 zum Ausdruck kommt.
Sophia Papaioannou (University of Cyprus) “Epic Transformation in the Second Degree: The Decapitation of Medusa in Lucan, BC 9.619-889” befasst sich mit der Schlangenepisode in Bellum Civile 9,619-889.
Andreola Rossi (Amherst College) ” sine fine : Caesar’s Journey to Egypt and the End of Lucan’s Bellum Civile” lenkt das Augenmerk darauf, dass eine dreifache Beziehung von Lucans Bellum Civile zu Vergils Aeneis besteht. Erstens erzähle Lucan die Geschichte der Bürgerkriege, die dem Augusteischen Prinzipat vorangingen, zweitens kommentiere er das Augustuszeitalter und damit das chronologische Ende der Aeneis und drittens präsentiere sich das Bellum Civile als Folgetext zur Aeneis. In der Caesar-Figur des Bellum Civile schwinge nicht nur schon Augustus mit, sondern auch die folgende Caesareae domus series. R. stellt die Bezüge von Buch 10 des Bellum Civile zum ersten Buch der Aeneis heraus und stellt fest, dass Caesar im Bellum Civile schliesslich zum chronologischen incipit der Aeneis gelangt. Lucan stelle dem teleologisch-linearen Konzept der Aeneis das Konzept des Kreislaufs der Geschichte entgegen. Dies werde auch durch das unkonventionelle Ende des Bellum Civile gestützt Dadurch, dass es die Problematik deutlich macht, dass jeweils die Eposenden versuchen, der Geschichte, die potentiell endlich ist, ein sinnhaftes Ende zu geben, stehe dann auch das Ende des Bellum Civile wieder den anderen Epos-Endungen nahe: als Versuch, einem Bruchteil der Geschichte Sinn und Bedeutung zu geben.
Annemarie Ambühls (Basel) Beitrag ” Thebanos imitata rogos (BC 1,552) — Lucans Bellum Civile und die Tragödien aus dem thebanischen Sagenkreis” steht im Kontext ihres Habilitationsvorhabens einer umfassenden Untersuchung zur Rezeption der griechischen Tragödie bei Lucan. A. weist darauf hin, dass Lucan in seinem Prodigienkatalog die Prodigien inhärente Mehrdeutigkeit dadurch steigert, dass er ein als historisches Faktum geschildertes omen mit einem potentiell ebenfalls mehrdeutigen mythologischen Vergleich verbindet. A. folgert, dass die Reihe mythologischer exempla im Prodigienkatalog ein zweites Zeichensystem darstellt, das den Bürgerkriegstext überlagert und als Metatext auf dieser zweiten Ebene den römischen Bürgerkrieg gezielt als “tragischen Bruderkrieg” begreifbar macht. Es handelt sich also nicht um einen Gegensatz zwischen römischem Stoff und griechischem Mythos, sondern um deren gegenseitige Spiegelung und Ergänzung. Zusätzlich zu dem Troja-Mythos, der die Tradition des Epos und Vergil evoziert, sind nun besonders ins Auge zu fassen die Argonauten-Sage, die die alexandrinische Dichtung in Rom und ihre Rezeption aufruft und der thebanische Sagenkreis der die tragische Tradition ins Blickfeld rückt. Bedenkenswert ist die Beobachtung, dass eine solche Wechselwirkung zwischen Mythos und Historie in der Tradition des thebanischen Sagenkreises bereits angelegt ist, insofern als das tragische Theben als Anti-Athen in der Doppelbedeutung eines Spiegelbilds und eines Gegenbilds fungiere.
Martin Dinter (Cambridge) “Lucans Epic Body” sieht die Verwendung des Begriffes corpus und des damit zusammenhängenden Wortfeldes manus, pectus, caput, membrum, tergum, artus, iugulum, oculus, lumen, collum, viscus, latus, pes, auris, ala, naris als für den Zusammenhang des Bellum Civile konstitutiv an. Er unterscheidet hierbei “the cosmic body”, “the Roman state body”, “the military corps”, “the human body” und “the textual body”.
Paolo Esposito (Salerno) “Importanza della scoliastica nell’ esegesi a Lucano” befasst sich mit dem interpretatorischen Wert der Lucanscholien.
Den Band schliessen Indizes der antiken Autoren, Namen und Sachen und der modernen Autoren ab.
In den Beiträgen des anregenden Bandes ist es gelungen, die für die Lucan-Forschung typischen Polarisierungen grossenteils zu vermeiden und der “Vielstimmigkeit” des Textes gerecht zu werden. Zudem wurde der gegenüber der Betrachtung von Einzelpersönlichkeiten oft unzureichend berücksichtigten und z.B. auf der Ebene der Metaphorik und Wortfelder zu findenden strukturellen Kohärenz des Epos die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.
Es wäre schön, wenn der Band dem Wunsch Waldes gemäss Anstoss zur Entstehung eines Gesamtkommentars und für den Nutzer Anregung zur eigenen Lucan-Relektüre werden würde.
Notes
1. Fremdsprachige Beiträge in der Originalsprache; Beiträge für den Druck teilweise überarbeitet und ergänzt.
2. Organisiert von Prof. Dr. Christine Walde in Zusammenarbeit mit Dr. des. Annemarie Ambühl und Concetta Finiello, lic.phil.
3. Denen in den meisten Fällen jeweils ein eigenes Literaturverzeichnis beigegeben ist
4. De mens als toeschouwer: Essays over romeinse literatuur en Westeuropese tradities, Baarn/Amsterdam 1986, 9-27.
5. Schmitt, A.W., Die direkten Reden der Massen in Lucans Pharsalia, Frankfurt/Main 1995
6. Vor allem, wenn man die Rolle der trojanischen Abstammung in der Caesar-Propaganda berücksichtigt.