BMCR 2006.07.12

Die ‘Erzählung’ des Pseudo-Neilos. Ein spätantiker Märtyrerroman. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar. Beiträge zur Altertumskunde, 220

, Die 'Erzählung' des Pseudo-Neilos. Ein spätantiker Märtyrerroman. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar. Beiträge zur Altertumskunde, 220. München/Leipzig: K.G. Saur, 2005. ix, 162. €58.00.

Nahezu beiläufig entdeckte Michael Link (L.) in der Bibliothek des Instituts für Klassische Philologie der Universität Bern einen kleinen Band mit dem Titel Nilus Ancyranus Narratio edidit Fabricius Conca, letztlich die erste und bis dato einzige kritische Ausgabe dieser äusserst interessanten Erzählung.1 Den Mangel an einer modernen Übersetzung und Kommentierung sucht er nun durch seine Ausgabe zu beheben, weshalb berechtigt im Untertitel auch von “Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar” die Rede ist. Schon allein deshalb kommt dem Band L.s eine immense Bedeutung zu, die hoffentlich auch als Grundlage und gleichzeitig Motivation für eine weitergehende Beschäftigung mit diesem historisch wichtigen literarischen Werk dienen. Darüber hinaus erleichtert L’.s Arbeit die “Erschliessung des bisher kaum zugänglichen Textes” (vii) ungemein. Es bleibt zu wünschen, dass bald eine fortlaufende wie auch zusammenhängende Kommentierung der Erzählung vorgelegt werden wird und zudem sich die Forschung von Neuem der wichtigen Fragestellungen, die mit der anonym verfassten narratio verbunden sind, annehmen wird, etwa in Form eines Symposiums oder eines Aufsatzbands.

Wie die Darstellung des Inhalts des schmalen Bands zeigen wird, nimmt sich L.s Beitrag zur Erforschung der narratio keineswegs “eher bescheiden aus”, wie L. in seinem Vorwort (vii) vorgibt, worin er das Desiderat für die vorgelegte Edition knapp, aber präzise darlegt.

In seiner an Detailinformationen sehr dichten Einleitung (1-24) widmet sich L. zunächst der Überlieferungssituation: In den “Manuskripten mit nur geringfügigen Abweichungen” lautet der Titel der narratio“Die Erzählung des Eremiten Neilos über die Ermordung der Mönche auf dem Berg Sinai und über die Gefangenschaft seines Sohnes Theodulos” (1). Neben diesen nicht näher qualifizierten Handschriften werden noch Menologien, das sind “Sammlungen von Heiligen-Viten der orthodoxen Kirche” (1 Anm. 2), “Sammlungen verschiedener Schriften christlicher Tendenz” und “Sammlungen von Werken des Neilos” angeführt. Für die beiden letztgenannten Gruppen nennt L. in den Fussnoten jeweils einen Kodex (Parisinus Graecus 881 und Marcianus Graecus 131), so dass wohl besser von Manuskripten oder sogar Sammelhandschriften die Rede sein sollte, die dann sehr wohl in der von L. vorgestellten Art inhaltlich differenziert werden können.

Danach bietet L. eine gut lesbare Inhaltsangabe der sieben Bücher der narratio (1-4), die seiner Leserschaft einen ersten inhaltlichen Zugang zum Text selbst ermöglicht. Wenige Sätze nur beschäftigen sich mit Sprache und Stil (4), wohingegen die Verfasserfrage adäquaten Raum einnimmt. Aufgrund der handschriftlichen Überlieferung, wo durchgängig Neilos ( Νεῖλος) bezeugt ist,2 wurde die Autorschaft des Neilos von niemandem in Frage gestellt, bis Karl Heussi 1917 zwei unter dem Namen des Neilos überlieferte Schriften miteinander verglich: die Erzählung und eine Briefsammlung. Weniger aus sprachlich-stilistischen als vielmehr inhaltlichen Gründen gelangte Heussi zu einem negativen Bescheid (4-8). Die Ansicht, dass Neilos von Ankyra nicht der Verfasser der narratio sein kann, ist mittlerweile auf breite Akzeptanz gestossen. Nach Heussi wurden im Mittelalter in erster Linie die durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten in Erzählung und Briefsammlung wahrgenommen, weshalb dann auch die Erzählung “fälschlicherweise dem Neilos zugeschrieben wurde” (8).

Eine weitere Einleitungsfrage ist jene nach der Gattungszugehörigkeit der narratio (8-11). Handelt es sich denn wirklich um eine Erzählung, und inwiefern lassen sich konkrete autobiographische Züge finden? Oder liegt doch vielmehr ein historischer Roman mit einem “noch zu definierenden geschichtlichen Kern” (8) vor? Leider mangelt es an äusserer Bezeugung, die bei der Gattungszuschreibung Anhaltspunkte bieten könnte. In Abhängigkeit wiederum von Karl Heussi reflektiert L. über die durchaus vorhandenen Charakteristika einer Märtyrergeschichte, wobei wesentliche narrative Züge die narratio in die Nähe des griechischen Romans rücken (Rückblenden, retardierende Momente, Spannung, Sittenbeschreibungen der Sinai-Beduinen). Darüber hinaus ist korrekt erkannt, dass die Personenkonstellation zwischen dem greisen Erzähler und seinem Sohn Theodulos, die massgeblich den Fortgang der Geschichte bestimmt, sowie zahlreiche narrative Elemente (z.B. Briefe, Träume, Reden, Peripetie, die nur dem Zufall unterworfen ist) weitere entscheidende Wesensmerkmale sind, die diese Erzählung und der griechische Roman gemein haben. Später nennt L. schliesslich das Werk “einen Märtyrerroman mit einem historischen Kern” (23-24).

Eng verbunden damit ist die schon aufgeworfene Frage nach der Historizität (11-16), noch dazu, da es sich um einen narrativen, romanhaften Text handelt, woraufhin L. nahtlos nochmals zur Verfasserfrage überleitet (16-24). Hier bekräftigt er nochmals die Auffassung, es handele sich “um einen Roman unbekannter Autorschaft” (23). Als Entstehungszeit veranschlagt L. “das fünfte nachchristliche Jahrhundert” (24), ohne dies zu begründen, als Entstehungsort den “östlichen Teil des damaligen Reichs”, wobei er den Sinai ausschliesst. In diesem Teil seiner Einleitung referiert L. die Forschungsgeschichte, wobei so viele interessante Facetten angerissen werden, dass gerade diesem Abschnitt etwas mehr an Umfang zu wünschen gewesen wäre. Natürlich ist dabei zu hinterfragen, ob die bedeutsamen ethnographischen Momente der Erzählung, etwa die Beschreibung der Lebensbedingungen der Sinai-Beduinen und der Sinai-Mönche, überhaupt Glaubwürdiges beinhalten. L. kommt durch die Arbeit von Albert Henrichs über die [Phoinikika] des Lollianus (Spurius) von 1972 auch auf das Motiv des Menschenopfers, das recht knapp abgehandelt wird (14-16). Hier erscheint der Zusammenhang zwischen den genannten Stellen bei Achilleus Tatios 3.12.1-3 (Leukippe und Kleitophon), Pseudo-Neilos 3.2-3 und 5.19 und den Acta Andreae et Matthiae 1 so interessant, dass auf eine baldige nähere Betrachtung des Motivs des Menschenopfers oder des Kannibalismus (vgl. die Acta Andreae et Matthiae 1: ἦσαν ἐσθίοντες σάρκας ἀνθρώπων καὶ πίνοντες αὐτῶν τὸ αἷμα) zu hoffen ist. Sicherlich richtig ist, als gemeinsamen Verbindungspunkt den Sühnecharakter des Menschenopfers zu sehen (15) und für den Verfasser der narratio eine gewisse Vertrautheit mit “verschiedenen antiken Romanen” (16) zu reklamieren. Noch eingehender müsste in diesem Zusammenhang sicherlich auch das Kamelopfer mit in die Diskussion einbezogen werden. Dadurch allerdings erhielte wiederum ein Detail, eben das Motiv des Opfers (Menschen- und Kamelopfer), einen so grossen Raum, dass die Ausgewogenheit innerhalb der Einleitung nicht mehr gewährleistet wäre. Deshalb bleibt festzuhalten: Es gelingt L., in prägnanter Weise viele Thematiken anzuschneiden und vor allem die wesentlichen Einleitungsfragen in sehr lesbarer Form abzuhandeln.

Der Darbietung des griechischen Texts mit textkritischem Apparat (26-70) stellt L. hilfreich einen Conspectus siglorum voran (25), in dem Abkürzungen ebenso aufgeschlüsselt sind wie textkritische Zeichen und Klammern und auch die Sigla für die einzelnen Manuskripte, die als Textzeugen herangezogen wurden. Nähere Angaben zu Letzteren fehlen auch hier. Der griechische Text selbst ist dann nach allen Gepflogenheiten der Editionstechnik aufbereitet. Im Innenrand des Buches finden sich Zeilennummern, am Aussenrand die Einteilung in Textabschnitte, beides in arabischen Ziffern. Der Apparat bietet Alternativlesarten, Zusätze oder Kürzungen in den Handschriften. Zwischen Text und textkritischem Apparat sind Verweisstellen aufgeführt, insbesondere aus Achilleus Tatios und dem Alten und Neuen Testament. Dabei ist das Lemma, auf das Bezug genommen wird, kurz leserfreundlich zitiert, so dass die Zuordnung erleichtert wird. Hier ist bereits die ganz an das Ende des Bands gestellte Konkordanz wichtig, in der Textänderungen gegenüber der Edition von Fabrizio Conca in einer Übersicht verzeichnet sind (160-162) L. stellt hier auf zwei Seiten seine Änderungen an Concas kritischen Text vor, teilweise mit und teilweise ohne Angabe des Grundes oder der Art der nderung (z.B. Konjektur, Lesart einer bestimmten Handschrift, neue Position im Satz). Mehrere Stichproben anhand der Ausabe Concas ergaben, dass die Textedition äusserst verlässlich ist. Sicherlich wäre eine deutlichere Kennzeichnung dieser Änderungen im Textteil selbst, etwa in Anmerkungen, vorzuziehen, stösst doch so die Leserschaft eher zufällig auf diesen zweiten Teil des Anhangs mit notwendigen Angaben zum kritischen Text.

Die anschliessende Übersetzung ins Deutsche stellt wohl das grösste Novum in diesem Band dar, handelt es sich doch um die erste vollständige Übersetzung des griechischen Texts in eine moderne Sprache (71-111). Dabei geht L. nicht wörtlich vor und hängt auch nicht an der Syntax des Griechischen, sondern erstellt erfolgreich einen lesbaren, flüssigen Text, der auch im Deutschen seine narrativen Stärken zeigen kann. Letztlich ist genau diese Entscheidung gegen eine wörtliche, damit im modernen Deutschen dann meist holprige Übersetzung sehr zu begrüssen, ist einerseits dem Griechischkundigen doch durch die Textedition die griechische narratio an die Hand gegeben, andererseits für den hauptsächlich an Inhalt und erzählerischen Merkmalen des Textes Interessierten dennoch der Charakter bewahrt (vgl. auch die Zusammenfassung der Handlung, 1-4).

Der Kommentar bezieht sich auf den griechischen Text (112-154). Es erfolgt keine fortlaufende Kommentierung, sondern in einer Mischung aus textkritischen Anmerkungen, philologischen Notizen und inhaltlichen Kommentaren geht L. auf ausgewählte Wörter, Textstellen und Abschnitte ein. Nicht nur wegen der Detailfülle, sondern auch wegen der geschickten Auswahl ist die Lektüre des Kommentarteils selbst schon Gewinn bringend und ermöglicht ein besseres Verständnis der narratio.

Abschliessend verdeutlicht das knappe Literaturverzeichnis (155-157), dass dieser sehr interessante und für das Verständnis des frühen Christentums wichtige Text bislang eines der Stiefkinder der Forschung ist. Als eine Art Dienst an der Leserschaft ist der Abdruck der griechischen Texte des in der Einleitung mehrfach erwähnten Neilos-Briefs 4.62 (nach: J.-P. Migne, PG 79, 1865, 579-581) und der traditionellen Neilos-Vita (nach: H. Delehaye, Hg., Synaxarium ecclesiae Constantinopolitanae. Propylaeum ad acta sanctorum Novembris. Brüssel 1902, 217) zu sehen.3 Der Band enthält keine Indices.

Sicherlich wünscht sich die aufmerksame und bereits in der Thematik vorinformierte Leserschaft mehr Angaben über die handschriftliche Überlieferung als nur wenige Zeilen (1) oder die Sigla zur Abkürzung (25). Eine Kurzbeschreibung und Charakterisierung der einzelnen Handschriften, wie in Editionen dieser Art auch üblich, würden die Überlieferungssituation mehr erhellen. Genauso fallen die Anmerkungen zu Sprache und Stil zu knapp aus, beschränken sie sich allenfalls auf Pauschalurteile und allgemeine Einschätzungen (4).4 Als Drittes schmerzt, dass Indices fehlen. Gerade eine Edition wird nicht nur benutzerfreundlicher, sondern überhaupt als Referenz erst tauglich, wenn wenigstens ein Wortindex (hier ein Index griechischer Wörter) und zumindest noch ein Stellenindex angehängt sind. Doch sollen diese wenigen Kritikpunkte nicht über den positiven Gesamteindruck hinwegtäuschen.

Schon allein wegen der mühevollen Aufgabe, einen bisher schwer zugänglichen Text in einem handlichen Band zu edieren, zu übersetzen und mit Kommentaren zu versehen, gebührt L. grosser Dank. Darüber hinaus legt er mit seiner Arbeit eine Grundlage für eine hoffentlich einsetzende Neubeschäftigung mit Pseudo-Neilos’ narratio, die ein wesentliches literarisches als auch historisches Zeugnis für das frühe Christentum darstellt. Durch die gut lesbare Übersetzung, begleitet von einer Kurzzusammenfassung der Handlung, ermöglicht L. auch Nicht-Spezialisten einen attraktiven Zugang zu einem Text, der mehr Aufmerksamkeit verdient hat.

Notes

1. F. Conca (Hg.), Nilus Ancyranus, Narratio. Leipzig: Teubner, 1983.

2. Wie L. feststellt (1), weisen die Handschriften dem Neilos noch unterschiedliche Attribute zu, so “Eremit”, “Ankyraner” oder “Mönch”.

3. Der von H. Delehaye 1902 herausgegebene Band ist als Nachdruck verfügbar (Wetteren, Belgium: Imprimerie Cultura, 1985).

4. Im Rahmen der Diskussion über die Gattungszugehörigkeit allerdings kommen sehr wohl einzelne literarische, damit auch stilistische Eigenheiten zur Sprache, die Anlass für eine eigene sprachlich-stilistische Untersuchung der narratio sein könnten.