Die Erforschung der griechischen Sklaverei wurde massgeblich von Moses I. Finley vorangetrieben, der, angefangen in den 1930er-Jahren, bis in die 1980er-Jahre in mehreren Artikeln und Büchern zum Thema Stellung bezog. Seine Ergebnisse haben die Sklavereiforschung bis heute geprägt. Finley hat der klassisch-griechischen Antike einen Sonderstatus eingeräumt, indem er ihr die Erfindung der Kaufsklaverei („chattel slavery“) zuschrieb—was in der archaisch-griechischen und in den nahöstlichen Gesellschaften, wo verschiedene Formen von Abhängigkeit vorherrschten, noch ohne grössere Bedeutung gewesen sei. Nota bene hat Finley nicht ausgiebig zur aussergriechischen Antike geforscht oder publiziert.1
An diesem Punkt setzt das neue Buch von David M. Lewis ein. Greek Slavery Systems will die nahöstlichen Gesellschaften der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends vor Christus in den Blick rücken. Lewis betont dabei, dass zu den einzelnen Staaten gute Studien publiziert worden seien und dass deren Wirtschaftssysteme immer besser erschlossen würden. Aber die Sklavereiforschung habe noch zu wenig Kenntnis davon genommen oder gehe noch immer von falschen Prämissen (nämlich jener von Finley) aus. Trotz seiner unbestreitbaren Verdienste habe Finleys Einfluss im negativen Sinn die Erforschung nahöstlicher Sklaverei im Keim erstickt. In einer gross angelegten Widerlegung von Finleys Positionen will Lewis in Greek Slavery Systems zeigen, dass Kaufsklaverei keine Erfindung der Griechen, sondern bereits zuvor in nahöstlichen Gesellschaften verbreitet gewesen sei. In diesem Sinne seien die griechischen Sklavereisysteme nicht als Archetyp, sondern im Kontext der griechisch-archaischen und nahöstlichen Gesellschaft zu interpretieren.
Lewis baut seine Studie in vier Schritten auf: in umfangreichen Prolegomena (23-104) gibt Lewis einen Abriss der Forschungsgeschichte, präsentiert seine Methodik und illustriert diese an einem komparativen Fallbeispiel. Im zweiten Teil untersucht der Autor eine Auswahl griechischer Sklavereisysteme (archaisches Griechenland, Sparta, Kreta und Athen). Der dritte Teil ist den nahöstlichen Gesellschaften Israels, Assyriens, Babyloniens, Persiens und Karthagos gewidmet. Der vierte Teil geht über eine Zusammenfassung hinaus und stellt viele weiterführende Fragen und bietet Antwortmöglichkeiten. Ein Appendix zum Gebrauch von oiketes, eine immense Bibliographie (307-350!), ein index locorum sowie ein allgemeiner Index runden den sorgfältig edierten Band ab.
Greek slave systems ist keine Einführung in das Thema und noch weniger eine Gesamtdarstellung der Sklaverei in den griechischen Poleis. Dennoch führt Lewis seinen Leser gekonnt durch sein Buch, vor allem, weil er in den Prolegomena einen guten Überblick über die Forschung liefert und seine Korrekturen an den Forschungstendenzen anbringt. Dabei trifft Lewis einerseits die wertvolle Unterscheidung zwischen emischer und etischer Perspektive. Eine solche Unterscheidung ist beispielsweise bei der Untersuchung der Heloten Spartas von Nutzen. Entgegen modernen Tendenzen, die Helotie nicht als Sklaverei, sondern als speziellen Status der kollektiven Unfreiheit wahrzunehmen,2 weist Lewis darauf hin, dass antike Schriftsteller durchgehend von douloi oder oiketai sprechen. Eingebettet in seiner Methodik der modernen Rechtstheorie und Anthropologie zeigt Lewis, dass die Heloten und ihre Besitzer in einem eindeutigen Besitzverhältnis standen und die meisten der modernen Kriterien für Eigentum („ownership“) erfüllt waren. Zusammen mit der emischen Sichtweise (Heloten als douloi) sieht Lewis keinen Grund mehr, Heloten nicht als Sklaven wahrzunehmen—als eines von verschiedenen Sklavereisystemen der Antike.
Dieselbe Herangehensweise wählt Lewis konsequent bei den einzelnen Fallstudien. Auch bezüglich der Unfreien Kretas hat die Forschung behauptet, es handle sich um Leibeigene („serfs“). Lewis jedoch spricht aufgrund einer Analyse des berühmten Stadtrechts von Gortyn wiederum von Sklaven. Dabei will er gar nicht die Unterschiede etwa zum athenischen Sklavereisystem leugnen (im Gegenteil, Lewis hebt hervor, wie kretische Sklaven grössere Freiheiten als Sklaven anderer Regionen besessen hätten) und betont: „regional diversity was the rule“ (S. 194). Statt von einem Archetypen auszugehen, an dem die anderen Systeme zu messen sind, wählt Lewis die Perspektive der modernen Rechtstheorie und betont die Gemeinsamkeiten bezüglich der Merkmale Eigentum und Besitz (S. 53: „the legal position of owners vis-à-vis their slaves in Athens and Babylonia fulfils all of the criteria for ownership as understood in modern comparative legal theory“). Dieser Zugang ist einerseits erfrischend, wird doch in den meisten Geschichten der Sklaverei der athenischen Polis klaren Vorrang eingeräumt. Nicht so Lewis, der die attische Sklaverei kaum ausführlicher behandelt als die spartanische oder die kretische. (In dem Sinne schreibt Lewis aber auch keine Geschichte der Sklaverei und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit: die thessalische Sklaverei oder der berüchtigte Sklavenhandel auf Chios etwa werden nicht behandelt). Andererseits werden bei Lewis´ allzu starken Fokus auf die Gemeinsamkeiten die Unterschiede etwas gar knapp behandelt. Bei der Verortung der Sklaverei in der Wirtschaft der jeweiligen Polis klammert der Autor die Frage nach der Herkunft der Sklaven meist aus. So wird zwar der attische Sklavenhandel noch behandelt, auf die Herkunft der Sklaven in der homerischen Gesellschaft, Sparta oder Kreta geht Lewis weit weniger ausführlich ein. Letztere bezogen ihre Sklaven grösstenteils von Hausgeborenen, das heisst, die Sklavenbevölkerung reproduzierte sich selbst. Das war eine Konsequenz und gleichzeitig eine Voraussetzung dafür, dass die Sklaven in Familien leben konnten und dadurch grössere individuelle Freiheiten genossen.
Der dritte Teil des Buches kontextualisiert die griechischen Sklavereisysteme. Angefangen mit der israelitischen Sklaverei (durch die Linse des Alten Testaments) zeigt Lewis, dass Sklaverei, und nicht irgendeine Form von Unfreiheit, im Mittelmeerraum die Norm war. Lewis arbeitet mit den Sklavengesetzen aus Exodus 21.1-11 und Levitikus 25.39-46 heraus, wie die israelitischen Eliten bestrebt waren, die eigene, jüdische Bevölkerung vor der Sklaverei zu schützen. Eine Zweiteilung wird sichtbar, in erstens Fremde, denen das Schicksal der Sklaverei zuteilwerden sollte, und zweitens den Israeliten, die oft Gefahr liefen, als Schuldknechte in der Sklaverei zu landen. Die Gesetze sollten dies verhindern, blieben aber Lewis zufolge beim Anspruch stecken. Als dritte Kategorie macht Lewis auf die freien Arbeiter aufmerksam, die in der Landwirtschaft zum Zug kamen und mit Sklavenarbeit konkurrierten.
Dieser Aspekt begegnet uns auch in der Untersuchung der babylonischen Wirtschaft. Lewis zeigt anhand der Sklavenpreise, wie männliche Sklavenarbeit dominierte, während Sklavinnen um einiges billiger und weniger geschätzt waren. Doch neben die Sklavenarbeit gesellte sich die Arbeit der freien Pächter, die für die Landbesitzer billiger und flexibler einsetzbar war. Babylonien wurde daher, so Lewis, nie zu einem solchen Sklavenstaat wie Athen. Die Frage darauf, „why slavery?“, stellt Lewis jedoch erst im letzten Kapitel seines Buches.
Eine vorgezogene Antwort liefert Lewis gleichwohl im an Babylonien anschliessenden Kapitel, der Fallstudie zum persischen Reich. Wieder zeigt sich, dass die Herkunft der Sklaven massgebend für die Wirtschaft des Staates war. Lewis vermutet, trotz schwieriger Quellenlage zu Persepolis, dass versklavte Kriegsgefangene den Grossteil der königlichen Wirtschaft ausmachten. Auch für das persisch kontrollierte Ägypten hebt er hervor, dass die Nachfrage nach Sklaven durch einen gut etablierten Sklavenhandel gedeckt werden konnte. Dieses Sklavenhandelnetzwerk im Mittelmeer war auch die Voraussetzung dafür, dass die karthagische Wirtschaft—die letzte Fallstudie—derart aufblühen konnte. Auch hier stösst Lewis mit dem vorhandenen archäologischen und literarischen Quellenmaterial an seine Grenzen. Aber zumindest der karthagische Sklavenhandel ist literarisch gut bezeugt, während archäologische Funde die blühende Exportwirtschaft Karthagos belegen.
Die einzelnen Fallstudien werden nicht wie erwartet in einer Zusammenfassung resümiert. Lewis geht einen Schritt weiter und stellt stattdessen die Frage: „why slavery?“ Vereinzelt hat der Autor die Frage schon vorweg beantwortet, nun aber versucht er, eine systematische Antwort auf die Frage zu liefern, warum die griechischen Poleis eine „slave society“ im finleyanischen Sinn geworden sind, während andere Staaten wie Assyrien oder Persien die Sklaverei zwar kannten, aber wirtschaftlich nicht im selben Masse auf ihr beruhten („society with slaves“). Damit greift Lewis die Frage auf, die seit Herman Nieboer3 kontrovers diskutiert worden ist, wohlweislich einmal mehr, um die Schwarzweiss-Darstellung von Finley zu widerlegen. Lewis bringt in diesem in sich geschlossenen Essay (269-294) viele wertvolle Gedanken ein und zeigt, wie viele Faktoren die übergeordnete Fragestellung beeinflussten. So weist er auf die Konkurrenz der Sklavenarbeit und der flexibler einsetzbaren (freien) Saisonarbeit hin, oder auf die verschiedenen Pachtsysteme, die im Osten vielfach zum Zug kamen (die Ansiedlung von Deportierten und Kriegsgefangenen wird ebenfalls in den Raum gestellt, aber nicht systematisch untersucht). Verständlicherweise weist Lewis auf die Handelsrouten hin, und zentral dabei, auf die Rolle des Mittelmeers. So ist es nicht verwunderlich, dass Athen oder Karthago auf billige Sklaven zugreifen konnten, während im Hinterland des persischen Reiches die Sklavenpreise entsprechend höher waren. Eine Untersuchung der Sklavenpreise, wo die Quellen dies ermöglichen, erweist sich als sehr fruchtbar. Lewis verweist bezüglich Assyrien und Babylonien weiter darauf, wie dicht bevölkert die Länder gewesen seien, was andere Formen der Arbeit begünstigt habe. Zu kurz hingegen (der „Epilog“ erlaubt es Lewis auch nicht anders) kommt Lewis‘ Hinweis auf die politische und ökonomische Geographie. Denn natürlich müsste Lewis auch darauf hinweisen, dass die geographische Lage und das Klima eine zentrale Rolle dafür spielen, welche Formen der Landwirtschaft dominierten. Eine Bemerkung in diese Richtung hat Lewis im Kapitel zu Assyrien in Klammern eingefügt (S. 230)—das wäre sicherlich für jede untersuchte Gesellschaft hier von Bedeutung gewesen, insbesondere wenn Lewis im Epilog nach den geographischen Bedingungen für die Entwicklung der Sklaverei fragt.
Wer heute zur antiken Sklaverei forscht, kommt um den Namen Moses Finley nicht herum. Es ist daher von grossem Nutzen, dass David M. Lewis viele der veralteten Positionen infrage stellt und neue Lösungsansätze präsentiert—oder in vielen Fällen auch verstreute Forschungsergebnisse zusammenführt. Gleichwohl wird die Nennung und anschliessende Widerlegung von Finley wie zu einem Mantra in Greek Slave Systems. Verwunderlich ist es ja nicht, dass teilweise 65 Jahre alte Positionen mittlerweile überkommen und überarbeitet sind.4 Das mag auch für die Unterscheidung in „slave societies“ und „societies with slaves“ gelten, die Finley mitgeprägt hat. Lewis kritisiert die Kriterien und den heuristischen Nutzen der Kategorien insgesamt (S. 93-104). Nicht ganz schlüssig ist für den Rezensenten, dass der Autor dennoch immer wieder auf die Begriffe zurückfällt (bsp. S. 119, 164, 180, 236, 247)—nota bene um Finley zu widersprechen.5 Dabei überblickt Lewis eine enorme Fülle an Forschungsliteratur und setzt sich auch mit fremdsprachigen Werken auseinander; er arbeitet sehr nah an den Quellen6 und wertet nebst den gängigen literarischen Quellen auch epigraphische und archäologische Funde aus.
Greek Slave Systems darf nicht als Einführung oder Gesamtdarstellung interpretiert werden, sondern als zielgerichtete Analyse einzelner Fallstudien mit dem Hauptergebnis, dass in der Antike verschiedene Systeme der Sklaverei koexistierten. Das athenische Beispiel sollte, so eine der zentralen Aussagen von Lewis, nicht als Archetyp antiker Sklaverei angesehen werden, sondern im Kontext der archaischen und nahöstlichen Sklavereisysteme interpretiert werden. Mit diesem komparativen Ansatz und einer klar gegliederten Analyse überzeugt Lewis auf ganzer Strecke. Greek Slave Systems setzt bei der Erforschung der Helotie Spartas, der Sklaverei Kretas sowie der Sklavereisysteme im Nahen Osten neue, überzeugende Akzente. Darüber hinaus bietet der Epilog mit der Fülle an Fragen und Aspekten viel Material zur Auseinandersetzung. Es wird spannend sein zu sehen, wie die Forschung in den kommenden Jahren Lewis‘ Impulse aufnehmen wird.
Notes
1. Unter den vielen Beiträgen ist M.I. Finley, Ancient Slavery and Modern Ideology, London 1980, hervorzuheben.
2. Vgl. E. Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt, Hildesheim, Zurich 2009, S. 65: „Der Helote war nicht persönlicher Sklave des jeweiligen Spartiaten, sondern eine Art ‚Schollegebundener‘ des spartanischen Gemeinwesens. (…) Hieran wird besonders deutlich, dass der Terminus ‚Sklave‘ doulos (…) nicht zutreffend ist. Dass die Heloten nicht mit Sklaven gleichzusetzen sind, ist an der jährlichen Kriegserklärung ablesbar: einem Sklaven kann man nicht den Krieg erklären, da er keine Rechtsperson ist.“
3. H. Nieboer, Slavery as an Industrial System, Den Haag 1900.
4. S. 107: „The main influence on much of what has been written on early Greek slavery in recent decades (…) has been M.I. Finley’s The World of Odysseus (1954).“ Umfassend hat das Thema G. Wickert-Micknat, Unfreiheit im Zeitalter der homerischen Epen, Wiesbaden 1983, behandelt.
5. Vgl. S. 119: „This means that, pace Finley, the Greek world was already a world of ‘slave societies’ long before the archonship of Solon.“
6. Schade ist allerdings, dass Oxford University Press auf eine Wiedergabe der griechischen Texte verzichtet hat (mit einer überraschenden Ausnahme, S. 248). Der Leser folgt den Texten nur in der Übersetzung des Autors.