[The author apologizes for the lateness of this review.]
Schon seit der Antike gilt Platons Philebos als ‘sperriger’ Dialog ohne große literarische Ansprüche.1 In dieser Hinsicht ist Gabriella Bertolinis Buch, das nach meiner Kenntnis die erste monographische Untersuchung mit einem Fokus auf literarischen Aspekten des Dialogs darstellt, eine willkommene Ergänzung der Sekundärliteratur zum Philebos. 2
Bertolinis Monographie ist äußerst leserfreundlich strukturiert: Auf eine kurze Einleitung (Introduzione generale, 5-28) folgen ein Kapitel, das die verschiedenen semantischen Felder der im Dialog auftretenden Metaphern im Licht des gesamten platonischen Oeuvres präsentiert (29-81), und zwei Kapitel, die grundsätzlich eine fortlaufende Lektüre des Dialogs darbieten. Dabei liegt das Augenmerk eher auf dem ersten, etwas kürzeren Teil des Philebos (11a-31b1), während die Behandlung des zweiten Teils, der sich über fast vierzig Stephanusseiten erstreckt und damit fast doppelt so lang wie der erste Teil ist (31b2-67b13), etwas kürzer ausfällt (Kap. 2: 83-171; Kap. 3: 173-242). Dies lässt sich durchaus durch den Charakter des Dialogs selbst erklären: Der erste Teil des Philebos präsentiert eindeutig die meisten und am ausführlichsten ausgearbeiteten metaphorischen Referenzen, der zweite Teil ist hingegen aus philosophischer Perspektive dichter, aber in literarischer Hinsicht etwas weniger ausgearbeitet als sein Pendant. In einem Fazit resümiert Bertolini systematisch die Ergebnisse ihrer Analyse (Conclusioni, 243-273). Zwei appendices bieten eine ausführliche und sehr nützliche Zusammenstellung aller Passagen des Dialogs, in denen Metaphern und Personifikationen vorkommen, begleitet von einer italienischen Übersetzung (275-301; 303-333). Ein dritter appendix setzt sich mit der Frage nach der Einheit des Dialogs auseinander (335-338). Der Band wird durch eine Bibliographie (339-348), einem Index locorum (349-361) und einem Index nominum (363-367) abgerundet.
Ausgangspunkt der Analyse ist hauptsächlich eine Auseinandersetzung mit der von Elizabeth E. Pender vorgelegten Untersuchung zu den platonischen Metaphern.3 Insbesondere akzeptiert Bertolini Penders Annahme, dass bei Platon Metaphern und Personifikationen keine kognitive Funktion haben, nicht. In methodischer Hinsicht beruft Bertolini sich hingegen vor allem auf die Terminologie von Michael Silk, der in Anlehnung an I. A. Richards in einer Metapher drei Elemente erkennt: das tenor (T), d.h. das Bezeichnete, das vehicle (V), d.h. das Bezeichnende, und schließlich sogenannte neutral terms, d.h. Begrifflichkeiten, die kontextabhängig sowohl dem tenor als auch dem vehicle zugeordnet werden können. Seltsamerweise wird jedoch diese Terminologie im Laufe der Textanalyse nicht wirklich angewandt und nur zu Beginn des abschließenden Fazits in einer Anmerkung kurz erwähnt (Fußnote 1, S. 243) sowie am Ende der Analyse wiederaufgenommen (265-267), so dass man sich als Leser fragt, ob sie von der Autorin tatsächlich für hermeneutisch tragfähig gehalten wird.
Grundsätzlich ist bei einer Besprechung von Bertolinis Buch die Wertung seiner Grundthese und Gesamtdarstellung von der Würdigung der zahlreichen, punktuellen philologischen Kommentare zu einzelnen Passagen des Dialogs zu unterscheiden. Beide fallen durchaus positiv aus, wobei in Hinsicht auf die Grundthese auch einige kritische Bemerkungen geäußert werden müssen.
Bertolini arbeitet fünf metaphorische Felder heraus, die im Philebos bedeutungstragend sind:
i. agonistische Metaphorik
ii. Personifikationen
iii. Jagdmetaphorik
iv. Wegmetaphorik
v. religiöse Metaphorik
Dabei betont Bertolini, dass all diese metaphorischen Felder miteinander verflochten sind und zu besonderen theatralischen Effekten im Dialog beitragen (265-272). Ferner stellt sie fest, dass hauptsächlich die agonistische Metaphorik und die Personifikation des logos als tatsächlicher Akteur des Dialogs sinntragend für die Wirkungsentfaltung des Textes auf den Rezipienten sind. Beide Aspekte sind vor allem in der Eingangs- und Abschlussszene des Dialogs präsent und tragen dazu bei, im Philebos eine Ringkomposition zu erkennen. Zentral für Bertolini ist in dieser Hinsicht, dass sowohl die agonistische Metaphorik als auch die Personifikation des logos in der Ökonomie des Dialogs sozusagen instrumentalisiert werden, um den Unterschied zwischen dem ‚unproduktiven‘ Streit von Philebos und Sokrates, der dem im Dialog dargestellten Gespräch zwischen Sokrates und Protarchos vorausgegangen war, und eben dieser philosophisch fruchtbaren Unterhaltung hervorzuheben. Die literarische Analyse der von Platon verwendeten Metaphorik scheint also eine Lektüre zu unterstützen, welche auch in einem ‚späten‘ Dialog wie dem Philebos die aus den sogenannten sokratisch-aporetischen und mittleren Dialogen bekannte Dichotomie von Philosophieren im Sinne des platonischen dialegesthai und nicht-philosophischem, auf den Diskussionssieg orientierten Diskutieren in den Fokus rückt. Obwohl bereits diese Erkenntnis die hermeneutische Diskussion zu diesem Dialog weiterführen kann, hätte man sich an dieser Stelle – und dies ist m.E. das größte Manko des Buches – eine deutlichere Positionierung der Autorin gewünscht sowohl innerhalb der wichtigsten Stränge der heutigen Platonforschung als auch und vor allem zur philosophischen Interpretation des Dialogs selbst. Denn weder nimmt Bertolini explizit Stellung in der Debatte um einen skeptischen, immer suchenden oder dogmatischen, esoterischen Platon (vgl. 227), noch versucht sie, Überlegungen zu den systematischen Fragestellungen anzustellen, die den Zugang zum Philebos geprägt haben, wie z.B. die Frage nach der möglichen Bedeutung der am Ende des Dialogs präsentierte Wertskala. Vielmehr beschränkt sie sich darauf, zu bemerken, dass bei der Behandlung solcher systematischer Fragestellungen die literarischen Aspekte nicht oder zumindest nicht genügend berücksichtigt werden (233). Freilich kann und sollte man aufgrund von Bertolinis Analyse nun diese Aspekte bei künftigen philosophischen Interpretationen des Dialogs einbeziehen. Hätte die Autorin indes auch selbst Stellung zu diesem Problemgeflecht genommen, wäre die Argumentation sicherlich ausgewogener gewesen.
Betrachtet man hingegen die zahlreichen, in der durchgehenden Analyse des Dialogs immer wieder vorkommenden philologischen, semantischen und textkritischen Anmerkungen, ist Bertolini für ihren differenzierenden, nach Möglichkeit allen in der Platonforschung gebotenen Deutungen einer Passage berücksichtigenden Zugang zum Text zu preisen. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele, um dies zu verdeutlichen. In 13d3-8 lesen wir:
ὅτι σε μιμούμενος ἐγὼ καὶ ἀμυνόμενος ἐὰν τολμῶ λέγειν ὡς τὸ ἀνομοιότατόν ἐστι τῷ ἀνομοιοτάτῳ πάντων ὁμοιότατον, ἕξω τὰ αὐτὰ σοὶ λέγειν, καὶ φανούμεθά γε νεώτεροι τοῦ δέοντος, καὶ ὁ λόγος ἡμῖν ἐκπεσὼν οἰχήσεται. πάλιν οὖν αὐτὸν ἀνακρουώμεθα, καὶ τάχ᾽ ἂν ἰόντες εἰς τὰς ὁμοίας ἴσως ἄν πως ἀλλήλοις συγχωρήσαιμεν.
In zeitgenössischen Kommentaren wird die Passage als nautische Metapher interpretiert. Dorothea Frede übersetzt z.B.:
Wenn ich meinerseits, um dich nachzumachen und mich zu verteidigen, erdreistete zu sagen, das Unähnlichste sei dem Unhähnlichsten von allen am ähnlichsten, – solche Behauptungen wären von der gleichen Art wie deine. Damit würden wir uns aber ungebührlich kindisch aufführen und unser ganzes Gespräch würde stranden. Wir sollten es lieber wieder flottmachen; vielleicht erreichen wir ja eine gemeinsame Basis, wenn wir einander gewisse Konzessionen machen.4
Obwohl sie letztendlich diese Deutung offenbar bevorzugt, erinnert Bertolini zunächst daran, dass diese Interpretation in der Antike und bis Henri Estienne mit einer anderen konkurrierte, wonach ἀνακρουώμεθα im Sinne von ‚anstimmen‘ aufgefasst wurde. Erst mit Stallbaum habe sich die nautische Interpretation durchgesetzt. Davon ausgehend betrachtet sie dann die verschiedenen Implikationen beider Deutungen, wobei ihre Ausführungen auf einer soliden Überprüfung der Bedeutung des Verbs ἀνακρούομαι in verschiedenen Gattungen und Epochen und insbesondere in der alten Komödie basieren (98-102).
Bei ihrer Analyse von 14b1-4 diskutiert sie hingegen mit Präzision die unterschiedlichen lectiones des Textes und argumentiert plausibel für minimale aber wichtige Änderungen zum Text der editio oxoniensis (111-115).5
Alles in allem ist es Bertolini gelungen, eine gut lesbare, anregende literarische Analyse des Philebos zu bieten, auf der, hoffentlich, künftige Untersuchungen aufbauen werden. Ihr Verdienst besteht vor allem darin, mit philologischer Präzision verschiedene Passagen beleuchtet und systematisch als Zeichen eines Narrativs interpretiert zu haben, welches das platonische dialegesthai als Königsweg zur Erkenntnis darstellt.
Notes
1. Siehe in jüngster Zeit z.B. John V. Garner, The Emerging Good in Plato‘s Philebus (Evanston, IL: Northwestern University Press, 2017) (BMCR 2018.09.28), der etwas lapidar urteilt: “Unlike other dialogues of Plato, the Philebus is far from a dramatic masterpiece” (ix).
2. Freilich ist der Philebos schon öfters Objekt eher literaturwissenschaftlich orientierter Analysen, wobei auch in solchen Fällen das Augenmerk vor allem auf der philosophischen Relevanz einiger allgemeiner Aspekte, wie z.B. die Bedeutung der Dialogform, die Frage nach der rezeptionsästhetischen Intention bzw. die Darstellung der Gesprächspartner, lag. Vgl. z.B. Christopher Gill, „Dialogue Form and Philosophical Content in Plato’s Philebus“, in Plato’s Philebus. Selected Papers from the Eight Symposium Platonicum, edited by John Dillon and Luc Brisson (Sankt Augustin: Academia Verlag 2010), 47-55 ; Annie Larivée, „Le Philèbe, un protreptique?“, Phoenix 65 (2011), 53-65; Thomas Alexander Szlezák, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, (Berlin/New York, 2004) (zum Philebos : 193-217).
3. Elizabeth E. Pender, Images of Persons Unseen. Plato’s Metaphors for the Gods and the Soul, International Plato Studies 11 (Sankt Augustin: Academia Verlag, 2000).
4. Frede geht auf die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks in ihrer Anmerkung 3, S. 16 ein, verweist jedoch nur auf Goslings Kommentar (Oxford 1975, 78) und lehnt die Interpretation (vielleicht etwas verfrüht) kategorisch ab.
5. τὴν τοίνυν διαφορότητα, ὦ Πρώταρχε, τοῦ ἀγαθοῦ τοῦ τ᾽ ἐμοῦ καὶ τοῦ σοῦ μὴ ἀποκρυπτόμενοι, κατατιθέντες δὲ εἰς τὸ μέσον, τολμῶμεν, ἄν πῃ ἐλεγχομένω μηνύσωσι πότερον ἡδονὴν τἀγαθὸν δεῖ λέγειν ἢ φρόνησιν ἤ τι τρίτον ἄλλο εἶναι. Der Oxforder Herausgeber, John Burnet, folgt Robert G. Bury in der Tilgung von τοῦ ἀγαθοῦ und lehnt Grovius’ Emendation ἐλεγχομένω für ἐλεγχόμενοι der handschriftlichen Tradition ab.