Auch an Standardwerken nagt der Zahn der Zeit. Gerade für die Numismatik trifft dies zu, denn viele bahnbrechende Studien stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert, sind bislang unersetzt, bedürfen jedoch aufgrund von Neufunden, Neudatierungen und neuen Analysen einer Aktualisierung. Dies paart sich mit dem rapide zunehmenden Druck, in der lingua franca Englisch zu publizieren, worunter die klassischen Wissenschaftssprachen in den Altertumswissenschaften leiden und leider immer öfter übergangen werden.
Obgleich Letzteres im thukydideischen Sinne den Anlaß für die Neubearbeitung von „Die Tetradrachmenprägung von Syrakus in der Periode der signierenden Künstler“ des finnischen Numismatikers und Bibliothekars Lauri Oskar Theodor Tudeer (1884-1955; siehe die biographische Skizze im Werk, S. 197-199) aus dem Jahre 1913 bildete, wie Herausgeberin Ute Wartenberg in ihrem Vorwort (S. xxiii) preisgibt, ist die Kombination von englischer Übertragung von Katalog und Originalkommentar mit Überarbeitung, umfassenden Einleitungen sowie annotierter Bibliographie und Indizes aus der Feder des exzellenten Kenners der sizilischen Münzprägung, Wolfgang Fischer-Bossert (Österreichische Akademie der Wissenschaften) unbedingt zu begrüßen. Der Anlaß ist ihm nämlich Grund genug, zahlreiche Modifizierungen, Erweiterungen und Neuinterpretationen zu dieser besonderen Epoche der syrakusanischen Münzprägung beizusteuern, die mit innovativen Motiven und handwerklich wie künstlerisch hochwertigen Münzstempeln aufwartete und im wahrsten Sinne des Wortes prägend für die gesamte Region gewesen ist.
Fischer-Bosserts Fortschreibung von Tudeers Studie erfolgt nach kurzer Einleitung in sechs Hauptschritten: historischer Hintergrund, Stempelkopplungen, Münzlegenden, Imitationen und Umgestaltungen, Hortfunde und Datierungsdiskussion sowie Auseinandersetzung mit älteren Forschungsmeinungen. Während der historische Rahmen – der Peloponnesische Krieg und v.a. die sogenannte Sizilische Expedition Athens, der Übergang von der sogenannten demokratischen Regierungszeit in Syrakus zur Tyrannis von Dionysios I. sowie die zahlreichen Städteeroberungen, -zerstörungen und Umsiedlungsaktionen – in vielen Punkten ob der Quellenlage keine exakte Chronologie zuläßt und daher lediglich die Dynamik dieser Zeitspanne spiegelt, zeigen die Detailanalysen der Münzstempel, wie exakt Tudeer schon damals arbeitete: Lediglich 2 Avers- und 4 Reversstempel können seiner Analyse hinzugefügt, einer seiner Aversstempel muß getilgt werden. Modifizierungen in der internen Gruppenanordnung seitens Tudeer sind daher notwendig, obgleich sie sich im Rahmen halten.
Größere Veränderungen gibt es allerdings hinsichtlich der Chronologie zu verzeichnen. Durch die zahlreichen Hortfunde ist der chronologische Rahmen der Prägungen jetzt viel enger anzusetzen als derjenige Tudeers, und zwar zwischen 415/4 und 395 v.Chr. (Tudeer: 425-387 v.Chr.) (siehe dazu die Tabelle, S. 98). Diese Neudatierung ist allerdings nicht in den Katalog übernommen worden, so daß man diesen vorsichtig zu verwenden hat.
Wichtig sind Fischer-Bosserts Ausführungen zu den zahlreichen Nachahmungen der Tetradrachmen in Syrakus und auch anderen Städten, die einzelne Vernetzungen, Feindatierungen, aber auch Aussagen über Innovation und Erstarrung der Motivik zulassen. Ebenso interessant sind seine Beobachtungen zum Wechsel von Omikron zu Omega (bzw. Epsilon zu Eta) durch Übernahme des ionisch-milesischen Alphabets in den Legenden, was erst in den „privaten“ Teilen der Münzlegende aufschien (mit einigen Spätzündern respektive Verweigerern unter den Stempelkünstlern) und sich dann auch auf die „öffentliche“ Zuschreibung des Prägeurhebers ausdehnte. Hier wären weiterführende Überlegungen zum Aufkommen von „Staatlichkeit“ bzw. „öffentlicher Autorität“ spannend.
In seiner Auseinandersetzung mit Forschungspositionen ist Fischer-Bossert zumeist mit guten Gründen skeptisch, was Zuweisungen bestimmter Motive oder Beizeichen zu historischen Ereignissen angeht. Sein oftmaliges non liquet mag für viele zwar unbefriedigend sein, ist aber wissenschaftlich vollkommen gerechtfertigt. Hinsichtlich des Katalogteils sind die Ergänzungen aus der Dokumentation weiterer Stücke aus Auktionen und Sammlungen zu erwähnen (dazu auch der „Collection Index“, S. 321-349), die in einer Neunummerierung resultieren. Diese kann über eine Konkordanz (S. 351-355) leicht mit den ursprünglichen Katalognummern Tudeers abgeglichen werden. Der originale Kommentar Tudeers, übersetzt von Orla Mulholland, liefert in Ergänzung zum Fischer-Bossertschen Rahmen detailgenaue Beschreibungen, sollte jedoch immer wieder mit dem aktualisierten ersten Teil abgeglichen werden.
Positiv hervorzuheben ist besonders die aktualisierte und annotierte Bibliographie, die nicht allein die wichtigste Literatur liefert, sondern auch den aktuellen Forschungsstand zu den einzelnen signierenden Künstlern wiedergibt. Die Indizes zu Forschern, literarischen Quellen, Inschriften, Münzstätten und Prägeautoritäten, Künstlern, allgemeinen Themen sowie Horten erschließen das Werk in hilfreicher Weise. Auch die Tafeln sowie die zum Teil ausklappbaren Abbildungen fördern die Benutzbarkeit.
Alles in allem liegt eine Arbeit vor, die Tudeers Pionierwerk in neuem Rahmen präsentiert und den aktuellen Forschungsstand ebenso wie die noch offenen Fragen spiegelt. Die Verknüpfung von historischen, kunsthistorischen wie auch fundnumismatischen Erwägungen erweist über den speziellen Gegenstand hinaus eindrucksvoll, wie sehr die Numismatik als Vorreiter interdisziplinären Arbeitens methodologisches Vorbild für die gesamten Altertumswissenschaften sein kann.