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Vor exakt 25 Jahren widmete William Calder III1 dem Leben und Forschen Werner Jaegers, eines der sowohl als Wissenschaftler als auch als Bildungspolitiker einflussreichsten Klassischen Philologen des zwanzigsten Jahrhunderts, einen ersten Aufsatzband. Nun legen Colin King und Roberto Lo Presti erneut Beiträge internationaler Forscherinnen und Forscher vor, um—dem Titel ihres Bandes entsprechend—das wissenschaftliche und bildungspolitische Wirken Jaegers zu untersuchen. Dies soll nach Angabe der Herausgeber nicht unter der Prämisse einer „Denkmalpflege“, sondern einer „prüfenden Bestandsaufnahme“ (S. 4) geschehen. Präziser formuliert, ist das Ziel dieses Bandes, dessen Ursprünge in einer Berliner Konferenz aus dem Jahr 2013 liegen, die Untersuchung der Wirkung der philosophiehistorischen und bildungstheoretischen Arbeiten Werner Jaegers. Übergeordnet soll so die „Heldengeschichte“ (Vorwort) der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts einer Neuevaluation unterzogen werden.
Nach einer sehr knappen Einführung (S. 1–4), die zurecht mit Nachdruck auf den lesenswerten Aufsatz „Future Philology“ von Sheldon Pollock hinweist, 2 lassen sich die acht versammelten Aufsätze (sechs in deutscher, zwei in englischer Sprache) thematisch in zwei Blöcke aufteilen. Block eins bilden hierbei die ersten drei Aufsätze, welche Jaegers Denken und Wirken in dessen (ideen-)geschichtlichem Kontext verorten. Den grundlegenden Auftakt macht Manfred Landfester, dessen Beitrag (S. 5–50) eine konzise Kontextualisierung und Analyse der „Kulturkrisenstimmung“ (S. 5) liefert, in welche hinein Werner Jaeger 1907 in Marburg sein Studium der Klassischen Philologie und Philosophie beginnt. Besonders aufschlussreich ist hier Landfesters Zusammenfassung des Konflikts zwischen den Anhängern Stefan Georges und denen des Historismus. Dieser Aufsatz bildet eine lohnende Lektüre für alle, die Orientierung in dem „Irrgarten der Weltanschauungen“ (S. 12) zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchen.3 Chronologisch fortschreitend untersucht Wolfgang Rösler in seinem Aufsatz (S. 51–82) Jaegers umstrittene Beziehung zum rassischen Denken der Nationalsozialisten. Dabei positioniert sich Rösler kritisch zu einer früheren Arbeit Johannes Göttes4 insofern, als er Jaeger dem „ganz massiven Vorwurf“ ausgesetzt sieht, eine „geistige Nähe zum Nationalsozialismus“ (S. 57) eingegangen zu sein. Stefan Kipfs Untersuchung (S. 84–109) geht dem Einfluss von Werner Jaegers wirkmächtigstem und berühmtestem Werk Paideia auf den Latein- und Altgriechischunterricht in der Bundesrepublik Deutschland nach. Kipf kommt hierbei zu einer differenzierteren Betrachtung als Rösler, insofern er Jaegers Artikel Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike (1933) mit Manfred Fuhrmann5 zunächst als Versuch wertet, „den Dritten Humanismus den Nationalsozialisten anzudienen“ (S. 91). Schließlich nuanciert er diese Einschätzung aber, indem er in der Arbeit die Absicht auszumachen sucht, „einer durchaus realen Bedrohung [für den Humanismus] durch die Nationalsozialisten entgegenzuwirken“ (S. 92). Diese drei ersten Aufsätze bilden einen anregenden und lesenswerten Einstieg in die geisteswissenschaftliche Umwelt, in der Jaeger sozialisiert wurde und die er selbst auch entscheidend prägen sollte.
Der zweite Block des Bandes nimmt anhand von Einzeluntersuchungen Werner Jaegers wissenschaftliches Werk im engeren Sinne in den Blick. Auch hier lässt sich eine chronologische Anordnung erkennen. So vergleicht Giuseppe Cambiano in einem ersten Schritt seines Aufsatzes (S. 111–137) Jaegers Interpretation der politischen Dimensionen vorsokratischen Denkens mit denen von Eduard Zeller, Paul Tannery, Theodor Gomperz und John Burnet. Anschließend kontrastiert er Jaegers Blick auf die Vorsokratiker vor seiner Emigration in die Vereinigten Staaten in der Paideia (1934) mit dem nach der Emigration in The Theology of the Early Greek Philosophers (1947). Auf diese Weise gelangt Cambiano zu einer Neuakzentuierung dahingehend, inwiefern Jaegers Auswanderung Veränderungen in Bezug auf seine Perspektive auf das vorsokratische Denken nach sich zog. Zeitlich voranschreitend spürt Dorothea Frede in ihrem Beitrag (S. 139–169) dem für Jaeger „Wesentlichen an Platons Philosophie“ (S. 139) nach. Dies wird einerseits an den in Jaegers Paideia als für Platon in dessen Politeia zentral identifizierten Charakteristika, andererseits an Jaegers Ausführungen über den späten Platon in der Grundlegung herausgearbeitet. Mirjam Kotwicks Aufsatz (S. 171–208) wendet sich Jaegers Entwicklung als Herausgeber von Aristoteles’ Metaphysik und seinen editorischen Prinzipien zu. Präziser gesprochen argumentiert sie, dass Jäger seine Theorie der Entwicklungsgeschichte der aristotelischen Gedanken auf den Text der Metaphysik überträgt. Roberto Lo Presti und Philip van der Eijk (S. 209–243) schlagen in ihrem Beitrag die Brücke von der Philosophie zur griechisch-römischen Medizin. Dabei gehen sie in einem ersten Schritt auf Jaegers Wirken als Leiter des Corpus Medicorum Graecorum ein und nehmen dessen Überlegungen zur griechischen Medizingeschichte in den Blick. In einem zweiten Schritt gehen sie der Bedeutung der Medizin im zweiten Band von Jaegers Paideia nach. Inhaltlich beschließt den Band Christoph Markschies mit einer Reevaluation der Beschäftigung Jaegers mit dem antiken Christentum. Dabei setzt sich Markschies (S. 245–258) von einer thematisch nahestehenden Arbeit Paul Keysers6 insofern ab, als er unter Heranziehung zusätzlicher Quellen auch die Wissenschaftsgeschichte des antiken Christentums im zwanzigsten Jahrhundert und Jaegers lebensanschauliche Selbstbeschreibung einer „Synthese aus der Frömmigkeit seiner Großeltern und der Rationalität seiner Eltern“ (S. 246) als ex post konstruiert entlarvt. Ein Sach- (S. 259–261) und Namenregister (S. 263–266) runden die Publikation ab. Das Buch ist gründlich ediert und dank sauberem Druckbild und großem Format angenehm lesbar.
Naturgemäß werden nur wenige Experten diesen Band in Gänze lesen. Dafür sind besonders die Aufsätze im eben dargelegten zweiten Teil des Buches in zu großem Maße speziellen Einzeluntersuchungen gewidmet. Weniger stark gilt das für die ersten drei Beiträge. Ganz im Gegenteil sind diese für jeden Klassischen Philologen ein lohnender Anreiz, sich in noch größerem Maße der politischen, kulturellen und sozialen Bedingungen ihres Tuns bewusst zu machen. Speziell Manfred Landfesters Aufsatz liefert hier eine ausgezeichnete Orientierung im Dickicht der Glaubenssysteme gegen Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, welche zwischen einer Orientierung der Klassischen Philologie an den Maximen einer Lebenswissenschaft, bzw. Bildungs- oder Weltanschauungswissenschaft und der von Nietzsche kritisierten „unendlichen und ziellosen Vermehrung von methodisch gesichertem Wissen“ (S. 5) oszillieren.
Diesem Band sei besonders (aber keinesfalls ausschließlich) ob seiner ersten Hälfte ein breites Publikum insbesondere unter den Vertretern des wissenschaftlichen Nachwuchses gewünscht. Denn er gibt einerseits all jenen eine wertvolle Einführung an die Hand, die sich für das noch immer zu wenig erforschte Feld der Wissenschaftsgeschichte der Klassischen Philologie des zwanzigsten Jahrhunderts interessieren. Andererseits bietet er denjenigen Orientierung, welche die gegenwärtige Situation der Klassischen Philologie mit ihren diversen Problemen aus historischer Sicht reflektiert verstehen lernen wollen.7 Und zuletzt zeigt er Optionsräume, Möglichkeiten und Grenzen einer notwendigen Diskussion dahingehend auf, wie sich ein verändertes Selbstverständnis der Klassischen Philologie künftig manifestieren und in welche inhaltlichen und methodischen Richtungen sich die Disziplin in Anbetracht bevorstehender globalpolitischer und technologischer Veränderungen aus einem historischen Bewusstsein heraus proaktiv verändern kann.8
Autoren und Titel
Vorwort, V
Colin Guthrie King, Einführung (1)
Manfred Landfester, Werner Jaegers Konzepte von Wissenschaft und Bildung als Ausdruck des Zeitgeistes (5)
Wolfgang Rösler, Werner Jaeger und der Nationalsozialismus (51)
Stefan Kipf, Paideia und die Folgen—Die Bedeutung des Dritten Humanismus für den altsprachlichen Unterricht nach 1945 (83)
Giuseppe Cambiano, Werner Jaeger and the Presocratics (111)
Dorothea Frede, Jaegers Platon (139)
Mirjam E. Kotwick, The Entwicklungsgeschichte of a Text: On Werner Jaeger’s edition of Aristotle’s Metaphysics (171)
Roberto Lo Presti und Philip van der Eijk, Werner Jaeger und die antike Medizin (209)
Christoph Markschies, Werner Jaegers Blicke auf das antike Christentum (245)
Sachregister (259)
Namenregister (263)
Notes
1. Calder, W. (Hg.), Werner Jaeger Reconsidered (Proceedings of the second Oldfather conference, held on the Campus of the University of Illinois at Urbana-Champaign, April 26–28, 1990), Atlanta 1992.
2. Pollock, S.: „Future philology? The Fate of a Soft Science in a Hard World“, Critical Inquiry 35.4, 2009, 931–961.
3. In den Fußnoten erwähnt, aber in Landfesters Bibliographie fehlend sind die beiden verwendeten und äußerst wichtigen Aufsätze Oexle, G.: „Krise des Historismus—Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne“, in: Oexle, O.: Krise des Historismus—Krise der Wirklichkeit: Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, 11–116 sowie Böschenstein, B. / Egyptien, J. / Schefold, B. / Vitzthum, W.G.: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft, Berlin 2005.
4. Götte, J., „Werner Jaeger (1888–1961)“, Eikasmos 4, 1993, 217–228.
5. Fuhrmann, M.: „Die humanistische Bildungstradition im Dritten Reich“, Humanistische Bildung 8, 1984, 139–161.
6. Keyser, P. T. „Werner Jaeger’s Early Christianity and Greek Paideia, in: William Calder III (Hg.), Werner Jaeger Reconsidered (Proceedings of the second Oldfather conference, held on the Campus of the University of Illinois at Urbana-Champaign, April 26–28, 1990), Atlanta 1992, 83–105.
7. Dazu jetzt auch Morley, N.: Classics. Why it matters, Cambridge 2018, 41–77.
8. Zu diesem Gedanken siehe besonders das anregend kurze Kapitel „A Brief History of Lawns“ in Harari, Y.N.: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow, London 2017, 67–74.