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Der vorgelegte Sammelband behandelt in seiner Einleitung und sechzehn Fallstudien unterschiedliche Ebenen im Epos von Anfangen und Aufhören – von der kleinsten Passage bis zur Makroebene der gesamten Gattung. Die Vielfalt der Themen spannt dabei einen großen Bogen auf, der zeigt, wieviel Forschung zum Thema des Bandes noch vor uns liegt, die auf bisherigen Arbeiten zu „ closure “, Aristoteles’ Meinung zu einem idealen epischen Erzählen, aber auch zur vergleichsweise selten behandelten Frage, womit man zum Beispiel eigentlich ein Epos anfangen soll, aufbauen kann. Dazu zeigt dieser Sammelband einige Wege auf, die beschritten werden könnten und müssten. Vor allem hierin liegt der Wert dieses Buches.
In ihrer Einleitung stellt Schmitz die Absicht der vorliegenden Sammlung, die aus einer Tagung in Münster im Jahr 2013 entstand, heraus. Sie möchte den Fokus auf „narrative Verfahren des Anfangens und Beendens“ im „griechisch-(neu)lateinischen Epos“ (28) legen. Diesem sehr offen formulierten Anspruch werden alle Beiträge gerecht. Schmitz’ überzeugenden Ausführungen zur Paradoxie von Anfangen und Aufhören im Kontinuum epischen Erzählens und epischer Erzählungen könnten um eine Diskussion über das besondere Ende der Argonautika des Apollonios Rhodios1 und die Epiloge der Metamorphosen Ovids2 ergänzt werden, die zunächst für das Enden, aber gerade dadurch für das Anfangen mit einem Epos von meines Erachtens unterschätzter Relevanz sind (vgl. auch 83, 144ff. und 185).
Latacz führt uns die zeitlichen Bedingtheiten des uns überlieferten Anfangs der epischen Gattung mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit und ihrer Bedeutung für das Ende der oral poetry vor Augen und stellt materialreich fundiert fest, dass eine Poetik des Epos und seiner etwa 4.000jährigen Geschichte bisher noch nicht geschrieben wurde. Er plädiert für ein an Fallbeispielen orientiertes Vorgehen wie im Fall des vorliegenden Bandes auf dem Weg hin zu einer solchen Poetik.
Büttner geht auf Aristoteles’ Poetik, bes. Kap. 23-26, und die Rolle von Anfang, Mitte und Ende in diesem Werk ein. Nachvollziehbar beschreibt Büttner den Anfang einer Handlung nach Aristoteles als die Setzung eines Zieles durch einen Charakter in freier, sich nicht von selbst ergebender Entscheidung. Das Ende einer Handlung sei durch das Erreichen dieses Ziels gegeben, wobei die Mitte der Handlung durch das Arbeiten für dieses Ziel erzeugt werde. Daraus ergibt sich allerdings die Frage nach der Autonomie des Menschen bei Homer und Aristoteles.3
Ambühl interpretiert den Umgang mit Anfang und Ende im hellenistischen Kleinepos und bei Apollonios Rhodios in seiner Vielfalt als experimentelles Bemühen der hellenistischen Dichter, Epos, Hymnus, Lyrik und Dramatik miteinander zu kombinieren und selbstbewusst innovativ neue Wege auszuloten. Die von Ambühl ganz richtig betonte Selbstverortung von Apollonios im „Euripideischen“ Kontext wird auch im Schluss der Argonautika aufgenommen.4 Reizvoll wäre es, Ambühls im griechischen hellenistischen Epos beobachteten Ansatz des Umgangs mit Geburtsgeschichten dem Umgang mit dem Tod zum Beispiel bei Vergil oder in Ovids Auseinandersetzung mit seiner eigenen Apotheose (s.o.) gegenüberzustellen.
Reitz zeigt am Einsatz des Katalogs im Epos, dass gerade hier der Konflikt des Epos zwischen dem Streben nach Vollständigkeit der Darstellung und dem Zwang zur Auswahl paradigmatisch ausgetragen wird. Ergänzend zur Liste von poetischen Möglichkeiten des Katalogeinsatzes stellt sich die Frage, wie sich die Stelle A. R. 1,18-22 hier einordnen ließe. Handelt es sich hier um Wettbewerb, Überbietung, Abbreviatur, Variatio, alles zusammen oder doch wesentlich um eine neue Kategorie, die man Präteritio nennen könnte? Göttlich inspiriertes Dichten und Dichtung, die durch das Wissen um das gesteuert wird, was Vorgänger geschaffen haben, scheinen sich zumindest auf den ersten Blick etwas zu widersprechen. 5
Jöne vergleicht philologisch dicht die beiden Beinahe-Abschiede in Aen. 2,634-80 und 9,176-223. Beide Szenen evozieren die Frage danach, wie die Geschichte wohl weitergegangen wäre, wenn die Abschiede wirklich geschehen und nicht verhindert worden wären. Auch dadurch, dass diese abgebrochenen Abschiede in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden den Auftakt für neue Abschiedserzählungen bilden, beweist sich einmal mehr die Existenz dessen, was Schmitz in ihrer Einleitung als Kontinuum epischer Erzählung beschreibt.
Überzeugend führt uns Grewing Ovid in seinen Metamorphosen als Meister der Verflechtung von Anfängen und Enden von Erzählungen vor Augen, der unter anderem bei Catull viel gelernt habe. Die mise en abyme des letzten Buchs hätte auch stärker auf Anfänge und Enden hin betont werden können.6 Was bedeutet die Seelenwanderungslehre des Pythagoras für Anfänge und Enden? Die Frage nach dem Ende und dem bewussten Setzen eines Endes ist über die poetologische Frage hinaus gerade in augusteischer Zeit auch eine politische oder zumindest werk- und literaturpolitische.7
Walde gibt uns einen Überblick über den derzeitigen Stand der Diskussion zum Ende der Pharsalia Lucans. Dieser Beitrag macht einmal mehr deutlich, wie schwierig es ist, ein Buchende auch als ein solches zu erkennen, wenn man nicht genau weiß, ob der Autor nicht doch noch etwas hätte hinzufügen wollen.
In einer eng am Text geführten Diskussion stellt Baier an einigen Schlüsselszenen von Valerius’ Argonautica heraus, wie die Darstellung von Gesprächen bei diesem Autor sich von ähnlichen Bezugsszenen dieser Textabschnitte bei Apollonios oder Vergil prononciert unterscheiden und so zu ähnlichen Phänomenen führen, die wir bei Tacitus beobachten können. Der Niedergang der Beredsamkeit im Prinzipat schlägt sich, wie Baier zeigt, auch im Epos nieder. Umgekehrt gibt es nach Lucan zumindest wieder die Möglichkeit für die Existenz „guter“ Helden im Epos.8
Der Beitrag von Klodt konzentriert sich auf die Anfänge von hortativen Reden in Statius’ Thebais. Sie weist nach, dass sich Überlegungen, wie sie die antike Rhetorik für Einleitungen von Reden anstellte, auch bei Statius im Epos finden und von ihm durchaus virtuos und abwechslungsreich eingesetzt werden.
Telg genannt Kortmann untersucht die gliedernde und die Aussageabsicht des Autors unterstützende Funktion, die Tag und Nacht als Beginn und Ende besonders im siebten und zwölften Buch der Punica des Silius besitzen. Die Ausführungen bleiben aber im Wesentlichen werkimmanent. Für intertextuelle Untersuchungen böten die besprochenen Texte viele Anknüpfungspunkte.9
Marks argumentiert einleuchtend für eine Interpretation des Binnenproömiums am Anfang von Buch 11 von Silius’ Punica als Mitte der Bücher 4-10 und 11-17 und als Mitte des eigentlichen Krieges zwischen Rom und Karthago. Diese Deutung basiert auf einem Vergleich zwischen diesem Binnenproömium und den entsprechenden Proömien von Apollonios Rhodios’ drittem und dem siebten Buch aus Vergils Aeneis. Auch seine Forderung, mehrere mögliche makrostrukturelle Gliederungen von Silius’ Werk, die sich überlappen, gleichzeitig zuzulassen, ist ja zum Beispiel in der Vergilphilologie schon lange akzeptiert, zumal Vergils Binnenproömium nicht direkt am Anfang von Buch VII steht.10
Die besonders betonte Abgeschlossenheit von spätantiken mythologischen Epen interpretiert Kaufmann als Zeichen der Stärke und Lebendigkeit der epischen Gattung, nicht als Degenerationssymptom. In der Tat wäre eine Antwort auf die von Kaufmann selbst aufgeworfene Frage nach einer Verortung dieser Beobachtung in der spätantiken Ästhetik und Poetik eine wichtige Fortführung der von ihr gemachten Feststellungen – auch auf dem Weg hin zum neulateinischen Epos.
Gärtner zeigt, wie die Posthomerica sich selbst dadurch zu einem Zwischentext in der Nahtstelle von Ilias und den Heimfahrten der Kriegsteilnehmer stilisieren, so dass in ihnen ein den Gattungsgewohnheiten widersprechender und an die Ilias unmittelbar anschließender Anfang sowie ein dezidiert auf die Fortsetzungen verweisendes Ende zu lesen sind. Ähnlich verfahren andere Autoren von Supplementen, zum Beispiel Maffeo Vegio.11 Auch hier wird deutlich, dass dieser Sammelband ein Ausgangspunkt für viele weitere Forschungsarbeiten sein kann.
Haye untersucht in einer weitestgehend werkimmanent gehaltenen Studie die praefationes und den Epilog der Herculeia des Giovanni Mario Filelfo. Angesichts des verlorenen Anfangs dieses Gedichts erweisen sich diese übrigen erhaltenen metapoetischen Aussagen des Textes als gute Quelle dessen, was der Autor mit seinem Epos wollte und was er unter Umständen in die Eröffnung seines Werkes geschrieben haben könnte: Ercole d’Este gleichzeitig feiern und für die Zukunft anspornen, wobei unter anderem auch an die Unterstützung des Dichters durch den Fürsten durchaus gedacht war, die sich allerdings im konkreten Fall nicht einstellen sollte.
Schindler untersucht drei Supplemente zur Aeneis Vergils. Diese Werke von Maffeo Vegio, Jan van Foreest und Claude Simonet de Villeneuve offenbaren eine von eigenen zeitgenössischen Ansichten der Suppliierenden getragene Interpretation der Schlussszene von Vergils Werk und ihrer Bedeutung. Schindlers Artikel macht aber auch deutlich, wie zeitbedingt die Ansichten über den Wert von Supplementen an sich – auch in der Wissenschaft – sein können.12
Piccone orientiert sich bei der Analyse des Aufbaus der leider ohne ihren Anfang überlieferten Felsinais von Marco Girolamo Vida an der Aeneis Vergils und greift dabei auch auf den Aufbau von Vidas später verfassten Christias zurück. In einem weiteren Schritt könnte man Vidas gesamte Begeisterung für Vergil berücksichtigen und sein Lehrgedicht über die Seidenraupe sowie andere Aspekte der Vergilrezeption bei Vida auf mögliche Hinweise abklopfen, um eventuelle Entwicklungslinien, wenn es sie gab, zu erkennen, auf denen Vida sich bei der Abfassung der Felsinais bewegt haben könnte.
Ein Index locorum beschließt das Buch.
Inhaltsverzeichneis
Vorwort 7
Christine Schmitz: Einleitung: Anfänge und Enden. Narrative Potentiale des antiken und nachantiken Epos 9-35
Joachim Latacz: Vom unbekannten Anfang bis zum bekannten Ende. Das Vers-Epos im Überblick 37-60
Stefan Büttner: Was meint die Formel »Anfang – Mitte – Ende« in der Poetik des Aristoteles? 61-78
Annemarie Ambühl: Narrative Potentiale von Anfangen und Enden im hellenistischen (Klein-)Epos 79-103
Christiane Reitz: Das Unendliche beginnen und sein Ende finden – Strukturen des Aufzählens in epischer Dichtung 105-118
Angela Jöne: Beinahe-Abschiede in der Aeneis 119-140
Farouk F. Grewing: Der Anfang vom Ende oder das Ende als Anfang? Überlegungen zu closure in Ovids Metamorphosen 141-168
Christine Walde: Tu ne quaesieris scire nefas quem finem… di dederunt… : Reflexionen zur Debatte um das Ende von Lucans Bellum Civile 169-198
Thomas Baier: Anfang ohne Ende. Abgebrochene Kommunikation bei Valerius Flaccus 199-219
Claudia Klodt: Die Exordialtechnik der Redner in Statius’ Thebais 221-252
Jan Telg genannt Kortmann: Tag und Nacht als Anfangs- und Endpunkte in Silius Italicus’ Punica 253-276
Raymond Marks: A Medial Proem and the Macrostructures of the Punica 277-291
Helen Kaufmann: Das Ende des mythologischen Epos in der Spätantike 293-312
Ursula Gärtner: Ohne Anfang und Ende? Die Posthomerica des Quintus Smyrnaeus 313-338
Thomas Haye: Die Herculeia des Giovanni Mario Filelfo (1426- 1480) 339-355
Claudia Schindler: Anfang als Ende, Ende als Anfang. Der Schluss der Aeneis und die friihneuzeitlichen Aeneis -Supplemente 357-376
Carla Piccone: Quidprimum … canam quaeve ultima narrem? Riflessioni sulla struttura della Felsinais di Marco Girolamo Vida 377-393
Index locorum 395-402
Notes
1. Vgl. R. Hunter: Apollonius of Rhodes: Argonautica. Book IV. (Cambridge 2015), 318ff.
2. Vgl. M. v. Albrecht: Ovids Metamorphosen. Texte, Themen, Illustrationen. (Heidelberg 2014), 193f.
3. Vgl. schon A. Schmitt: Aristoteles. Poetik. (Berlin 2008), 678.
4. Vgl. z. B. P. Green: The Argonautica by Apollonios Rhodios. (Berkeley 1997), 360.
5. Vgl. R. V. Albis: Poet and Audience in the Argonautica of Apollonius. (Lanham 1996), 37.
6. Vgl. hierzu N. Holzberg: Ovids Metamorphosen. (München 2007), 110ff.
7. Vgl. hierzu A. Barchiesi: The Poet and the Prince. Ovid and Augustan Discourse. (Berkeley 1997), 270. Wenn Ovid für sich mit seinem Werk („ perpetuum carmen “, Met. 1,4) den Anfang eines ewigen Lebens gelegt hat („ vivam “, Met. 15,879), stellt sich die Frage nach einem Ende eigentlich nicht. Vgl. zur Bedeutung von „ vivam “ z. B. G. K. Galinsky: Ovid’s Metamorphoses. An Introduction tot he Basic Aspects. (Oxford 1975), 44.
8. Vgl. auch T. Stover: Epic and Empire in Vespasian Rome. A New Reading of Valerius Flaccus’ Argontautica. (Oxford 2012), 216ff.
9. Vgl. auch die Rolle von Tag und Nacht im neulateinischen Epos, z.B. in Anchietas de gestis Mendi de Saa. Vgl. F. Arias-Schreiber Barba: Das erste Epos aus Amerika und die Aeneis Vergils. Der Aufbau von Anchietas De Gestis Mendi de Saa und die klassische Epik. (Hamburg 2011), 64.
10. Vgl. z.B. W. Suerbaum: Vergils Aeneis. (Stuttgart 1999), 143-147.
11. Vgl. auch im Beitrag von Schindler S. 361.
12. Vgl. auch das programmatische Zitat Goethes aus seiner Farbenlehre, das P. G. Schmidt seinem Buch zu neuzeitlichen Supplementen antiker lateinischer Prosawerke voranstellt (Supplemente lateinischer Prosa in der Neuzeit, Göttingen 1964, 9): „Jedes gute Buch, und besonders die der Alten, versteht und genießt niemand, als wer sie supplieren kann.“