Seit dem 2. Jahrhundert pilgerten Christinnen und Christen nach Palästina; der erste bekannte Pilger war Melito von Sardis. Mit der Kirchbaupolitik unter Kaiser Konstantin wurden bestehende Pilgerstätten modernisiert und neue eingerichtet. Spätestens jetzt entstand ein literarisches Genre, das den einsetzenden Massentourismus begleitete und unterstützte: der christliche Reiseführer. Zu den ältesten erhaltenen Werken dieser Art gehören der Routenplaner des Anonymus aus Bordeaux sowie der Bericht der anonymen Pilgerin vermutlich von der Iberischen Halbinsel, die heute als „Egeria“ bzw. „Aetheria“ (so vom Übersetzer bevorzugt) bekannt ist. Der Pilger von Bordeaux beschränkt sich dabei weitgehend auf die Präsentation technischer Angaben zum Weg und seiner Länge, nur gelegentlich unterbrochen von Hinweisen auf lokale Besonderheiten, wohingegen Egeria / Aetheria das Modell eines Reisetagebuchs auf den Spuren der Bibel liefert. Die Lektüre des einen Textes ist anstrengend, die des anderen bisweilen kurzweilig und nicht zuletzt liturgiewissenschaftlich bedeutsam. Die Überlieferung beider Texte ist sehr schmal (Anonymus: eine vollständige und drei fragmentarische Handschriften, Egeria: zwei unterschiedlich umfangreiche Fragmente sowie zwei mittelalterliche Exzerpte), dennoch existieren zahlreiche—kritische und andere—Ausgaben und Übertragungen.
Kai Brodersen, der in Erfurt Antike Kultur lehrt, hat nun eine weitere zweisprachige Ausgabe beider Texte vorgelegt (warum der Verlag den Anonymus im Buchtitel verschweigt, erschließt sich nicht). Es ließe sich fragen, worin nun der Mehrwert gegenüber den deutschen Übertragungen von Herbert Donner (beide Texte)1 oder Georg Röwekamp und Dietmar Thönnes (Egeria)2 liegt, aber diese Frage geht möglicherweise ins Leere, denn Donners wegweisende Sammlung mit Übertragungen ist einsprachig und zu Egeria wartet Brodersen mit einer verdienstvollen Neuerung auf: Er legt erstmals eine Übertragung eines Fragments vor, das erst seit 2005 veröffentlicht ist, und eine Lücke in dem 16. Kapitel des Berichts minimiert.
Der Aufbau der Brodersenschen Ausgabe ist—den Gepflogenheiten der Reihe folgend—eher spartanisch. Auf eine knappe Einführung in die insgesamt drei übertragenen Texte—der dritte ist der Brief des Mönchs Valerius von Bierzo, der den Bericht der Aetheria / Egeria zuerst erwähnt hat—folgen diese in der Reihefolge Anonymus von Bordeaux, Brief des Valerius und Reisebericht der Egeria / Aetheria; abgeschlossen wird der Band mit einem knappen Literaturverzeichnis und einem Register. Den Vorgaben der Reihe folgend, entfallen erläuternde Anmerkungen ebenso wie eine Diskussion der Forschungsliteratur. Die Übersetzungen lesen sich sehr flüssig und stimmig, sie sind fraglos ein Gewinn, auch wenn vereinzelt Rückfragen zu stellen wären: Zu fragen ist beispielsweise, ob der Terminus religio mit „Religion“ (S. 76) adäquat übersetzt ist (sachgemäßer erscheint: „Glaube“); im gleichen Absatz scheint sich im Deutschen ein Fehler eingeschlichen zu haben: „mithilfe der Das macht göttlicher Majestät mit allen Kräften“ klingt sinnlos. Mit sexta feria (S. 140) scheint eher der Freitag als der S. 141 übersetzte „Samstag“ gemeint zu sein (auch wenn S. 174 die septima dies mit dem Sonntag gleichgesetzt wird; hier scheint jedoch die Verbindung zu den im Satz zuvor genannten dies sex hergestellt zu sein); darüber, ob communicare (S. 92; 142) gut mit „an der Kommunion teilnehmen“ übersetzt ist, lässt sich streiten, da die Form der „Kommunion“ im 4. Jahrhundert noch nicht festgelegt war (also eher: „Abendmahlsgemeinschaft haben“). Druckfehler sind außerordentlich wenige aufgefallen (z.B. S. 147). Ob sich insbesondere die Übertragung von Egerias / Aetherias Itinerarium jedoch im akademischen Unterricht gegenüber der Röwekampschen Ausgabe wird durchsetzen können, ist angesichts deren erläuternden Fußnotenapparats jedoch fraglich.
Auch erscheint es spekulativ, wenn der Herausgeber eher behauptet denn belegt, es sei „aber doch recht plausibel, dass auch der Bericht von Bordeaux von einer Frau stammt“ (S. 8); eine Position für die weitere Forschung ist das allemal.
Der Übertragung sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen.
Notes
1. Herbert Donner (tr.), Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.-7. Jahrhundert). 2nd edition. Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, 2002.
2. Georg Röwekamp / Dietmar Thönnes (tr., intr.), Egeria Itinerarium Reisebericht. Mit Auszügen aus Petrus Diaconus De locis sanctis Die heiligen Stätten. Fontes Christiani 20. Freiburg et al.: Herder, 1995.