Gerade heute, wo die Krise der westlichen Gesellschaft von Politiker, Journalisten und Historikern in schöner Regelmäßigkeit mit verschiedenen Schlüsselepisoden der antiken Geschichte verglichen wird,1 tritt auch die Beschäftigung mit der politischen Selbstwahrnehmung der antiken Autoren zunehmend in den Vordergrund der althistorischen Forschung. Es ist dabei kaum erstaunlich, daß die Einschätzung der Gegenwart in gewisser Weise die Parameter der Analyse der Vergangenheit prägt: Für die einen entspricht der Niedergangsdiskurs der Antike lediglich einem rhetorischen Topos, der mehr oder weniger losgelöst von den tatsächlichen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder religionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen zu lesen ist; für die anderen ist er Zeichen einer ernstzunehmenden Analyse tatsächlicher historischer Entwicklungen und kann somit tatsächlich (mehr oder weniger explizit) als potentielle Blaupause für die Verwerfungen der Gegenwart gelten. Benjamin Biesinger widersteht in seiner hier zu besprechenden Monographie, welche die Druckfassung einer 2014 an der Universität Konstanz eingereichten und verteidigten Promotionsschrift darstellt, zwar erfolgreich jeglicher Versuchung, das von ihm behandelte Material auch auf die Gegenwart zu beziehen, macht aber bereits in der Einleitung seiner Arbeit keinen Hehl daraus, daß es ihm weniger um die Adäquation zwischen Wahrnehmung und Realität zu tun ist, sondern vielmehr um die Entstehung und Entwicklung wesentlich literaturhistorisch aufgefaßter Niedergangstopoi in der lateinischen Historiographie. „Im Rahmen dieser Arbeit werden diese Texte als absichtsvolle Selbstbeschreibungen verstanden. Deren Entstehung und Verbreitung ist durch konkrete, situativ verschiedene soziale und historische Kontexte motiviert. Mit der bewussten Entscheidung eines Autors, die eigene Gegenwart als schlechtere Zeit darzustellen, kommentiert er zeitspezifische Veränderungen seiner Gesellschaft mit realen Wirkungsabsichten.“ (S. 13)
Die Struktur der Arbeit folgt im wesentlichen der chronologischen Ordnung der Autoren. An eine kurze methodologische Einleitung (S. 13-30), in welcher Biesinger summarisch Forschungsstand, Dekadenzbegriff und Textcorpus diskutiert, schließt sich ein weiteres, ebenfalls recht kurz ausfallendes Kapitel zum literarisch-gesellschaftlichen Kontext mit dem Titel „Römische Erfolgsgeschichten“ (S. 31-58), in dem es dem Autor zunächst um die mündlichen Kommunikationsstrategien der Römer geht, allen voran die laudatio funebris, dann um die Entstehung der frühen römischen Historiographie und ihrer Verortung im Geschichtsbild der senatorischen Oberschicht. Hierauf folgt dann schließlich die systematische Abhandlung der als relevant betrachteten Autoren: Cato (S. 59-92), Sallust (S. 93-173), Livius (S. 174-241), Velleius (S. 277-311) und Tacitus (S. 312-354), wobei zwischen Livius und Velleius eine Art Exkurs zu „Augusteischen Geschichtskonstruktionen“ (S. 242-276) eingeschoben ist. Abgeschlossen wird der eigentliche Hauptteil der Untersuchung von einer Reihe von „Synthesen“ (S. 355-380) zum rhetorischen, selbst-inszenatorischen und dynamischen Aspekt des Dekadenzmotivs in der römischen Historiographie; hieran schließen sich drei Appendices (S. 381-388; zu den „großen Römern“ in Sall. Cat. 53; zur Kaisernachfolge in Tac. Ann. und zur gescheiterten Adoption Pisos durch Galba in Tac. Hist. 1,12-19) sowie Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 389-420) und Register (S. 421-428).
Insgesamt handelt es sich um eine solid recherchierte und nuanciert argumentierende Studie, deren Einzelergebnisse man mit Gewinn lesen und weitgehend zustimmend bewerten wird. Vor allem die mentalitätsgeschichtlichen Kontextualisierungen der einzelnen Autoren geben einen lebendigen und überzeugenden Hintergrund für die Einzelanalyse der relevanten Stellen und die Gesamteinordnung der Autoren in den Themenkomplex. Freilich läßt sich nicht verhehlen, daß die Entscheidung, das – immense – Thema „römische Dekadenzdiskurse“ auf „nur“ 428 Seiten zu behandeln, nicht ohne einen gewissen „Mut zur Lücke“ realisiert werden kann. Die Bedeutung dieser Lücken kann man nun verschiedenermaßen einschätzen, wobei die einen auf die verständlichen zeitlichen Beschränkungen der Promotionsphase verweisen werden, da eine Dissertation nicht auch gleichzeitig ein Lebenswerk sein kann, die anderen darauf, daß auch und gerade die Definition eines „machbaren“ Themas zur Leistung einer Promotionsarbeit gehört und daher Selbstbegrenzung besser sei als Selektivität. Es wäre wohl vermessen, im vorliegenden Fall Partei ergreifen zu wollen, doch soll dem Leser immerhin signalisiert werden, wo neben den uneingeschränkt positiven Aspekten der Arbeit dem subjektiven Empfinden des Rezensenten zufolge auch noch Raum für Verbesserung und Fortschritt bestanden hätte.
Ein erster Wermutstropfen gilt der forschungsgeschichtlichen Kontextualisierung, die mit 4 Seiten für die „Forschung“ und 6 Seiten zum Begriff „Dekadenz“ ein wenig kurz ausgefallen ist. Freilich ist verständlich, daß eine wesentlich literaturhistorisch und historiographisch verfahrende Arbeit nicht die gesamte gewaltige Literatur zum „Niedergang“ der Republik im besonderen und zum Dekadenztopos im allgemeinen aufzuarbeiten vermag. Eine derartige platz- und somit auch inhaltsmäßige Beschränkung verrät aber doch ein solchermaßen reduziertes Interesse an übergeordneten kulturgeschichtlichen Fragestellungen, daß klar ist, daß auch das Resultat ähnlich beschränkter Art sein muß. Dies wird noch dadurch verstärkt, daß Biesinger sein Desinteresse an kulturgeschichtlichen Fragestellungen offensichtlich gar nicht aufzufallen scheint, da er die dementsprechenden, methodologisch ja durchaus legitimen Lücken gar nicht als solche verbalisiert; selbst auf die Versicherung, daß „diese Diskussionen […] deshalb schwerlich ohne Weiteres übergangen werden [können], weil sie die Idee von Dekadenz allgemein auf das Engste mit der römischen Antike verbunden sehen“, folgen nur einige wenige Zeilen, in welchen die vergangene geschichtsphilosophische Beschäftigung mit dem Thema ausschließlich auf Montesquieu und Gibbon reduziert wird (S. 17f.).
Eine andere, in vielem etwas unglückliche und wohl nicht zufällig in dieselbe Richtung weisende Entscheidung ist das weitgehende Ausblenden der geistesgeschichtlichen Wurzeln des Dekadenztopos in der antiken Geschichte selbst. Wie erwähnt, kontextualisiert Biesinger sein Thema nahezu ausschließlich im Bereich der römischen oralen wie aristokratischen Kultur, und auch das nur im Hinblick auf politische und gesellschaftliche Fragen (wenn auch die augusteische Wende, die ja auch ein eigenes Kapitel erhält, erheblich vollständiger und zufriedenstellender behandelt wird als die Republik, deren historiographisch relevanten Ideologeme mit den einleitend kurz abgehandelten Schlagwörtern memoria und gentes allzusehr auf Elitenherrschaft und diskursive Performanz reduziert werden). Eine intensivere Auseinandersetzung mit klassischen griechischen und hellenistischen Dekadenztheorien sucht man allerdings vergebens, so daß beim Leser ein wenig der Eindruck entsteht, Fabius Pictor (dessen Entscheidung, sein Geschichtswerk schließlich auf Griechisch, nicht auf Latein zu verfassen, nur ganz en passant auf S. 48 erwähnt und geistesgeschichtlich gar nicht gewürdigt wird) sei bei seiner historiographischen Arbeit ausschließlich von seinem römischen sozialen Umfeld geprägt worden. Und so findet denn trotz der Versicherung, „Fabius Pictor hatte noch die Wahl. Zwar stand er auch als römischer Archeget der Gattung bereits in Traditionen und unter den Einflüssen anderer Literaturen oder nicht-literarischer Vergangenheitserzählungen […], dennoch waren grundlegende Entscheidungen darüber, wie geschriebene römische Geschichte auszusehen habe, noch nicht getroffen“ (S. 52), die zeitgenössische griechische Literatur keine wirkliche Beachtung bei Biesinger, weder, was die Verortung Fabius Pictors betrifft, noch die der anderen behandelten Historiker. So erscheint Platon denn im gesamten Buch nur viermal, Poseidonios trotz der immensen Bedeutung seines Denkens für die spätrepublikanische Weltsicht gerade sechsmal, und Isokrates, Zenon, Epikur, Panaitios oder Dikaiarchos nicht ein einziges Mal, was, wie man zugeben muß, eine notwendigerweise etwas reduktionistische Sichtweise auf die Entwicklung der römischen Geisteswelt erzeugen muß, welche, losgelöst vom hellenistischen Denken, eines wichtigen, ja zentralen Bestandteils ihres historischen Unterbaus beraubt wird.
Die weitgehende Ausschließung des griechischen Denkens erstreckt sich dabei nicht nur auf die klassische oder hellenistische Philosophie und Rhetorik, sondern auch auf die spätrepublikanische griechischsprachige Geschichtsschreibung zu römischen Themen. Man mag hier sicherlich mit einer gewissen Berechtigung einwenden, daß das Thema des Buches schließlich „Untersuchungen zur römischen Geschichtsschreibung“ lautet, und sicherlich macht es angesichts der Notwendigkeit, das gewaltige Thema irgendwie zu reduzieren, Sinn, den lateinischen Traditionsstrang präferiert zu behandeln. Trotzdem aber ist der Aussage: „Im Übrigen scheiden infolge der kontextorientierten Fragestellung griechische Autoren und ihre Werke als Vorläufer und Vergleichsfälle weitgehend aus“ (S. 27), die zudem nur mit Verweis auf Hesiod und Thukydides legitimiert wird, kaum zuzustimmen. Ein Blick in die Korrespondenz Ciceros genügt, um zu zeigen, wie eng verwoben in der römischen Lebenswelt der späten Republik griechisches und lateinisches Geschichtsdenken waren, auch und gerade dann, wenn es um die Einschätzung zeitgenössischer römischer Politik ging, und daß der Sprachenwahl in vielen Fällen (man denke nur an Ciceros mehrsprachige Behandlung seines eigenen Consulats) im Rahmen der überwiegend zweisprachigen römischen Oberschicht keine trennende, sondern mittlerweile sogar eher verbindende Bedeutung zukam. Auch kann kaum behauptet werden, daß vielen griechischen Autoren ein unmittelbarer biographischer Einblick bzw. sogar direkte politische Einmischung in die Welt der senatorischen Oberschicht verwehrt worden sei, bedenkt man zum einen Polybios‘ enge Einbindung in die römischen Eliten seiner Zeit, zum anderen die offensichtlich eher unpolitische Natur der Aktivitäten eines Titus Livius, der als Patavier sicherlich auch kaum als „typischer“ Römer zu gelten hat. Und somit ist es denn mehr als bedauerlich, daß zeitgenössische griechischsprachige Autoren wie etwa Diodor und sogar Dionys von Halikarnassos nirgendwo zu ihrem Recht kommen und bezeichnenderweise auch im Register fehlen (wie übrigens auch einige lateinische Autoren derselben Zeit wie etwa Pompeius Trogus oder der nur ein einziges Mal genannte Lucan, die zusammen ein interessantes Korrektiv gebildet hätten).
Als letzter Punkt ist schließlich hervorzuheben, wie schon zu Beginn vorliegender Rezension erwähnt, daß Biesinger zwar durchaus die von ihm kommentierten Passagen in ihrem jeweiligen konkreten historischen Kontext würdigt, sein Hauptaugenmerk aber eher der literarischen Konstruktion von Geschichte und auktorialer Persona gilt als der Frage nach der Adäquation der behaupteten (oder konstatierten) Krisen- und Niedergangsphänomene. Diese Wahl ist natürlich vollkommen legitim und sicherlich etwa der Alternative bei weitem vorzuziehen, erneut eine Darstellung der politischen Geschichte der späten Republik und des Principats durch die Brille der zeitgenössischen Historiker zu schreiben. Fragwürdig wird der Ansatz allerdings, wenn es heißt: „Ob diese zeitgenössischen Vorwürfe und Diagnosen sachlich gerechtfertigt sind oder nicht, kann insofern absolut zweitrangig bleiben, als dass diese Äußerungen selbst als ‚diskursive Realitäten‘ der Zeit den Gegenstand der Untersuchung darstellen werden.“ (S. 19-20) Freilich nimmt der Historiker (wie jeder Mensch) die Gegenwart durch seine ihm biographisch ganz eigene, unverwechselbare Sichtweise wahr, und tendiert dazu, Gegenwart, Vergangenheit und (ansatzweise) Zukunft in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, der oft genug der Versuchung erliegt, sowohl Einzelfälle zu verallgemeinern als auch übergeordnete Tendenzen herunterzuspielen, wenn es der Stärkung der eigenen Position dient. Trotzdem wäre es wohl über das Ziel hinausgeschossen, verschiedenste Formen krisenhafter Zeitwahrnehmung und ihre Generalisierung als Niedergangsphänomen ausschließlich im Kontext der Entwicklung, Weitergabe und Abwandlung eines literarischen Topos zu interpretieren und vom Maße des realen Zutreffens dieser Analysen weitgehend zu abstrahieren, da dies den Versuch, einen sinnvollen Spannungsbogen über einzelne literarische Variationsmuster hinweg zu schlagen, von vornherein erschwert, ja unmöglich macht.2 Tatsächlich besteht doch ein gewisser, bei Biesinger dem subjektiven Empfinden des Rezensenten nach nicht immer genügend berücksichtigter Unterschied, was die Wertung von Werk, Wesen und Weltsicht eines Historikers betrifft, zwischen einer kritischen Beschreibung realer Krisenphänomene auf der einen Seite und von der Wirklichkeit abgelöster geschichtspessimistischer Schwarzseherei auf der anderen. Bereits Machiavelli formulierte in der Einleitung zum zweiten Buch seiner „Discorsi“ (Übers. Fr. von Oppeln-Bronikowski, Wiesbaden 1965, 134-135): „Die Menschen loben stets die alten Zeiten, wenn auch nicht immer mit Recht, und klagen die Gegenwart an. Sie sind so parteiisch für die Vergangenheit, daß sie nicht allein die Zeitalter preisen, die sie aus den Überlieferungen der Schriftsteller kennen, sondern auch die Zeiten ihrer Jugend, deren sie sich in ihrem Alter erinnern. […] Die Gewohnheit zu loben und zu tadeln […] besteht. Aber […] man braucht sich dabei nicht immer zu irren. Manchmal muß man ja notwendigerweise die Wahrheit treffen, denn die menschlichen Dinge sind in steter Bewegung und steigen oder fallen.“
Dessen ungeachtet handelt es sich bei Biesingers Studie um eine umfassend recherchierte, im einzelnen sachkundig und nuanciert argumentierende, durch zahlreiche spannende intertextuelle und biographische Querverweise bestechende und überzeugende Arbeit, welche sicherlich zur wesentlichen Grundlage jeglicher späteren Auseinandersetzung mit der Thematik werden wird, und von dessen Einsichten die Forschung wohl noch lange Jahre zehren wird.
Notes
1. Auch der Autor vorliegender Besprechung ist hier keine Ausnahme; vgl. D. Engels, Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen, Berlin, 2014 (zuerst in franz. Sprache erschienen unter dem Titel, Le déclin. La crise de l’Union européenne et la chute de la République romaine, Paris, 2013).
2. In dieser Hinsicht soll ein kleiner Wermutstropfen in eigener Sache nicht übergangen werden, scheint der Aufmerksamkeit des Verf. doch seltsamerweise ein Aufsatz aus der Feder des Autors vorliegender Besprechung mit eben dieser Absicht entgangen zu sein, dessen Titel zudem fast identisch mit dem des hier besprochenen Buches ist: Déterminisme historique et perceptions de déchéance sous la république tardive et le principat, in: Latomus 68, 2009, 859-894.