Dieser Kommentar der fabulae Aesopiae setzt nun endlich auch mit einem wissenschaftlichen Kommentar den Trend der letzten beiden Jahrzehnte fort, den Fabeldichter Phaedrus zunehmend in das Forschungsinteresse zu rücken. Die Verfasserin Ursula Gärtner hat sich bereits durch einige Aufsätze zu unterschiedlichen Themen wie dem römischen Wertesystem bei Phaedrus, den fabulae Aesopiae als Kommunikationsmedium in der Kaiserzeit und v.a. einige Arbeiten zum phaedrianischen Dichtungsprogramm als wichtige Phaedrus-Forscherin etabliert. Mit diesem Buch macht sie nun den Anfang, eine empfindliche Lücke der Forschungsliteratur zu Phaedrus zu schließen. Zwar liegt uns mit dem „Phaedrus-Kommentar“ von Eberhard Oberg1 ein moderner Kommentar vor, doch ist dieser nach den Fortschritten der Phaedrusforschung in den vergangenen 15 Jahren im Hinblick auf das Interpretationsspektrum des Textes zumindest teilweise inzwischen unzureichend. Auch die ältere Ausgabe von Luzzatto,2 die (leider nur) zu ausgewählten Fabeln der fünf Bücher eine kurze interpretierende Einleitung, dann einen lemmatisch geordneten Kommentar bietet, ist – ebenso wie Obergs – durchaus hilfreich in Fragen der interpretatorischen Grundrichtung oder in Sachfragen sowie knapp erwähnten intertextuellen Bezügen. Allerdings haben sich gerade in der jüngeren Phaedrusforschung zunehmend die Bedeutung der Intertexte und die Komplexität des phaedrianischen Dichtungsprogrammes herausgestellt, so dass beide Kommentare in dieser Hinsicht als veraltet gelten müssen.
Gärtner kommt also einem Forschungsdesiderat nach, wenn sie ihren Kommentar mit einem dezidiert interpretativen Schwerpunkt versieht. Zugleich soll das Buch, wie Gärtner selbst im Vorwort (S. 10) klarmacht, neben den Interpretationen auch Sachinformationen bieten, wie man sie von einem lemmatischen Kommentar erwarten würde. Diesen Anforderungen eines wissenschaftlichen Kommentars, der von der Verfasserin selbst als „Hybrid zweier wissenschaftlicher Textgattungen“ (S. 10) bezeichnet wird, ist vermutlich auch geschuldet, dass sich Gärtner auf die Kommentierung des ersten Fabelbuches beschränkt. Diese Entscheidung ist verständlich und zugleich – gerade angesichts der hohen Qualität – bedauerlich. Bevor der eigentliche Interpretationsteil in den Blick genommen wird, soll zunächst auf die Einleitung eingegangen werden, die mit 45 Seiten (S. 13– 58) rund ein Fünftel des Gesamtumfanges einnimmt.
Die Einleitung ist in zwei Hauptteile gegliedert, deren erster Teil (S. 13–17) knapp einige gattungsgeschichtliche Grundlagen der Fabel darstellt. Hier liefert Gärtner einen Überblick zur antiken Terminologie und Definition der Fabelgattung und bietet einen groben Abriss der Geschichte dieser Gattung, die erst mit Phaedrus, also in der römischen Kaiserzeit, ihre Eigenständigkeit erlangt. Schon dieser erste Teil der Einleitung ist repräsentativ für eine äußerst positive Eigenschaft des Buches: Die Aufarbeitung von und die Auseinandersetzung mit antiken Belegstellen sowie der Sekundärliteratur sind ebenso wie weniger wichtige intertextuelle Hinweise, die nicht unmittelbar zur Argumentation beitragen, konsequent in den Fußnotenapparat ausgelagert. Dieser mag dadurch zwar optisch manchmal überladen wirken, garantiert aber einen hervorragend lesbaren Haupttext.
In der Darstellung der Gattung argumentiert Gärtner zurecht gegen die Tendenz der Forschung des 20. Jhs., die (phaedrianische) Fabel auf eine herrschaftskritische Funktion zu reduzieren (S. 15f.), und stellt stattdessen die Vielseitigkeit der Gattung heraus, die ihr auch schon als nicht-eigenständigem, rhetorischem Exemplum in der griechischen wie römischen Literatur vor Phaedrus zueigen ist. Indem Gärtner hier auf die funktionale Vielfalt der Fabel in den fabulae Aesopiae verweist, bereitet sie auf den umfangreicheren zweiten Teil der Einleitung vor, der ganz Phaedrus’ „Leben und Werk“ gewidmet ist. Dort stellt die Verfasserin in 13 kleinen Unterkapiteln verschiedene thematisch geordnete Aspekte der fabulae Aesopiae vor.
Noch vor Themen wie den Adressaten des Werkes, der Überlieferungsgeschichte, Makrostruktur, intertextuellen Beobachtungen, der zeitlichen Verortung usw. misst Gärtner der Vita des Autors mit elf Seiten den meisten Raum bei. Der Grund hierfür ist darin zu suchen, dass sich gerade in der Frage, inwieweit die vermeintlich biographischen Informationen der Pro- und Epiloge, insbesondere des Prologs im dritten Buch, zuverlässig Auskunft über den realen Autor Phaedrus geben, die communis opinio in den vergangenen Jahren geändert hat. So übt Gärtner berechtigte Kritik an – auch neueren – Interpretationen, die auf den zweifelhaften Angaben zum Freigelassenenstatus des Dichters oder auch der Geburt auf dem pierischen Musenberg und anderen biographischen Details um Phaedrus’ Leben fußen (S. 21f.). Diese Angaben gehen entweder auf paratextuelle Anmerkungen in den Handschriften (wie im Falle des Freigelassenenstatus) oder auf Aussagen des textinternen Ichs zurück. Die Richtigkeit paratextueller Informationen sei jedoch kaum belegbar (S. 24) und die textinternen Aussagen seien von der Vita des empirischen Autors zu trennen. Gärtner spricht sich überzeugend dafür aus, dass sich die biographische Unzuverlässigkeit dieser Informationen damit erklären lässt, dass es sich um literarische Topoi handelt, die Teil eines komplexen Dichtungsprogrammes sind. Damit zeichnet Gärtner in der Einleitung ihres Kommentars einen Interpretationszugang nach, der sich als eine konzise Kurzfassung ihrer letzten Aufsätze zu Phaedrus, als Deutung der phaedrianischen Poetik in nuce, liest. Eben diese Kürze und Prägnanz sind wichtige Merkmale dieses Kommentars, der schon die Einleitung zu einem Forschungsbeitrag mit Eigenwert macht.
Lediglich die Ordnung der Unterkapitel „2.1.1. Freigelassener als Dichter“ (S. 21) und „2.1.2. Dichter als Freigelassener“ (S. 23), dem wiederum ein Abschnitt mit der Überschrift „Der Freigelassene“ (S. 24) untergeordnet ist, weist zwar anschaulich auf das Problem der Biographisierung hin, wäre aber unter einem einzigen Abschnitt mit aussagekräftigeren Überschriften besser arrangiert gewesen.
Zudem sei darauf hingewiesen, dass besonders dieses erste Kapitel zu Phaedrus’ Selbstaussagen von der Deutung Gärtners geprägt ist, Phaedrus verwende gezielt literarische Topoi und übertreibe insbesondere die Selbstaussagen seiner dichterischen Vorgänger. Dass die Ansprüche des Ichs z.T. übertrieben anmuten, ist dabei unstrittig, doch deren Funktion, die die Verfasserin eben im Selbstzweck einer komischen Übertreibung sieht, ist durchaus diskutabel. Solche interpretatorischen Impulse sind allerdings gerade als Ausdruck des Hybridcharakters des Kommentars zu sehen und werden immer nachvollziehbar begründet. Zudem erleichtert Gärtner dem Leser stets die Vertiefung der Themen durch den – auch bibliographisch – umfassenden Anmerkungsapparat, mit dem die saubere Interpretationsarbeit unterfüttert wird.
Auch den folgenden Kapiteln der Einleitung liegt eine nachvollziehbare Interpretation der fabulae Aesopiae zugrunde, die kaum Kritik erlaubt. Lediglich im Kapitel 2.3 zu Phaedrus’ Publikum stellt Gärtner fest, dass der Adressat bei Phaedrus immer ein Leser sei (S. 36, insbes. Anm. 127). In der Tat werden die Rezipienten in den fabulae Aesopiae nicht explizit als Hörer bezeichnet, doch Phaedrus deutet an mehreren Stellen die Mündlichkeit seines Werkes an. Als Beispiele seien 2 prol. 6, 2 epil. 12 und 3 prol. 7 angeführt, wo er das Ohr, auris, des Rezipienten erwähnt.
Neben einer Überlieferungs- und einer hervorragend recherchierten und bibliographisch reich kommentierten Forschungsgeschichte sowie einigen Ausführungen zu den Prätexten und Vorbildern der fabulae Aesopiae bleibt Gärtner auch einen Überblick über die Protagonisten der Fabeln, Themen und Aussagen, Versmaß und Stil, eine Verortung im 1. Jh. n. Chr. und einen Ausblick auf die Rezeption des Werkes nicht schuldig. Hervorzuheben sind hier ferner die Ausführungen zur Auseinandersetzung mit den Dichtungsprogrammen der Vorgänger (Kapitel 2.7) und zum Aufbau der Fabelbücher (Kapitel 2.8). Erstgenanntes Kapitel bietet einen übersichtlichen interpretatorischen Zugang zu wichtigen poetologischen Topoi, letztgenanntes enthält einige treffende Beobachtungen zur Werkkonzeption der fabulae, die nach Gärtner in einigen Aspekten über das Maß hinausgeht, was man Phaedrus zugetraut hat. Mit gut gewählten Beispielen deutet Gärtner an, dass Phaedrus’ Werk neben kompositorischen Zügen innerhalb der Fabelbücher durchaus auch ein buchübergreifendes Konzept aufweist, das im Zusammenhang der literarischen Vorgänger, insbesondere der augusteischen Dichtung, zu betrachten ist.
Den großen zweiten Teil des Buches bildet der eigentliche Kommentarteil. Zu diesem ist vorweg zu sagen, dass Gärtner hier einen Interpretationskommentar auf hohem Niveau vorlegt, der signifikant zur Erschließung der fabulae Aesopiae beiträgt. Wie die Einleitung versieht sie auch den Kommentarteil mit aufwendigen Anmerkungen, die eine gute Lesbarkeit des Haupttextes und zugleich reiche intertextuelle und bibliographische Hinweise gewährleisten.
Exemplarisch gehe ich im Folgenden etwas genauer auf die Interpretation zu Fabel 1,12 Cervus ad fontem (S. 155–162) ein, um einen Eindruck von Gärtners Arbeitsweise im Kommentarteil zu vermitteln. In Fabel 1,12 geht es um einen Hirsch, der nach Erblicken seines Spiegelbildes in einer Quelle die Schönheit seines Geweihes lobt, während ihm seine dünnen Beine missfallen. Für die anschließende Flucht vor Jagdhunden entpuppen sich jedoch die flinken Beine als sehr hilfreich, bevor er mit dem zuvor gelobten Geweih im Gestrüpp hängen bleibt. Mit dem Ausruf des Hirsches, der seinen Irrtum bemerkt, endet das Gedicht.
Die Interpretation der Fabel entspricht mit einer Länge von sieben Seiten dem Durchschnitt von Gärtners Interpretationen, die sich im Umfang von drei bis 15 Seiten (Fabel 1,2) bewegen. An den Titel der Fabel hängt Gärtner hier wie stets eine bibliographische Anmerkung mit der wichtigsten Literatur zum Gedicht, die weiter unten nach Bedarf ad locum ergänzt wird. Nach einer kurzen Erklärung des Fabelthemas folgt eine schematische Gliederung des Gedichts, bei der sich Gärtner eines modernen, aber in der Fabelforschung bewährten Schemas bedient, das sie im Einleitungsteil erläutert (S. 47f.).
Im anschließenden Hauptteil der Interpretation folgt Gärtner dann zunächst der Textchronologie. Bei der Textarbeit zeigt sich deutlich die Expertise Gärtners: Sie geht zuverlässig auf Wortstellung und Versbau ein, die bei Phaedrus große Bedeutung haben. Grundsätzlich tritt in Gärtners Analysen das hohe Kompositionsniveau der Texte zutage. Während sich Gärtner im Haupttext zunächst auf sprachliche Phänomene und ihre Funktion konzentriert, weist sie in den Fußnoten auf inter- und intratextuelle Bezüge sowie auf motivische Eigenheiten hin, die sie im Falle von Fabel 1,12 v.a. von Ovid beeinflusst sieht, auf den sie später auch im Haupttext ausführlicher eingeht. Zunächst vergleicht Gärtner die phaedrianische Fassung mit anderen Versionen innerhalb der Fabeltradition, sofern es solche gibt. Pointiert stellt sie dabei die wichtigsten Unterschiede heraus und zitiert im Anmerkungsapparat nicht nur die Parallelfassungen, sondern bietet dort auch Übersetzungen sämtlicher griechischer Zitate. Dadurch gestalten sich synoptische Vergleiche phaedrianischer Fabeln mit solchen, die in der Augustana-Sammlung (unter dem Namen Aesops überlieferte Fabeln in griechischer Prosa) oder auch bei Babrios aus dem 1./2. Jh. n. Chr. überliefert sind, erfreulich komfortabel. Durch stete Vergleiche nicht nur mit griechischen Fassungen, sondern auch mit den späteren lateinischen bei Avian oder dem Romulus-Corpus aus dem 4. Jh. kann Gärtner vielfach einen Eindruck von Phaedrus’ Originalität und bisweilen eigenwilliger Akzentuierung geben. Diese Erkenntnisse sind gerade mit Blick darauf relevant, dass sich Gärtner auf das erste von fünf Büchern beschränkt, das erst den Anfang eines Werkes von zunehmender stofflicher und poetischer Eigenständigkeit bildet. Vor diesem Hintergrund ist umso bemerkenswerter, wie ergiebig Gärtners Analysen des ersten Fabelbuches sind.
Im Falle von Fabel 1,12 kann sie nachweisen, dass das Gedicht lexikalisch und motivisch einiges mit der Sage von Actaeon sowie der von Narcissus und Echo in Ovids Metamorphosen gemein hat. Auf diese Parallelen wurde zwar schon vor Gärtner hingewiesen, doch Gärtners textnahe Analyse gibt wertvolle neue Impulse. So arbeitet sie neben dem Thema der Selbsterkenntnis und einigen Junkturen, die bei Ovid entlehnt zu sein scheinen, auch die den Texten gemeinsame Thematik der Macht und Ohnmacht von Sprache heraus. Wie Gärtner feststellt, deuten sich im Ausruf des Hirsches, der am Ende sein Unglück beklagt, Parallelen zu Actaeon an, dem allerdings nach der Verwandlung in den Hirsch die Fähigkeit zur Sprache abhanden gekommen ist. Bei diesem „Geflecht von Anspielungen“ (S. 161) wagt Gärtner keine dezidierte poetologische Aussage festzumachen. Doch sie leistet akribische Vorarbeit für weitere Überlegungen: Schließlich ist durchaus bemerkenswert, dass Phaedrus mit der Sprachfähigkeit des Hirsches im Gegensatz zum ovidischen Sprachverlust gerade eine zentrale Gattungseigenschaft der Fabel in Szene setzt. In jedem Fall arbeitet Gärtner das anspielungsreiche Gedicht – wie auch die anderen des ersten Buches – interpretatorisch hervorragend auf und bietet damit nicht nur einen hilfreichen Überblick des Forschungsstandes, sondern gibt viele Anregungen für weitere Untersuchungen der Gedichte. Am Ende der Interpretationen zeichnet Gärtner jeweils kurz die Rezeptionsgeschichte nach. Dabei finden sich häufig nicht nur Hinweise auf Fabeln, die auf die phaedrianischen zurückgehen, sondern es werden gezielt Differenzen und Gemeinsamkeiten aufgezeigt. Vielfach zitiert Gärtner den vollständigen Text rezeptionsgeschichtlich wichtiger Fabeln.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass man Gärtners Kommentar anmerkt, dass er das Ergebnis eingehender, anspruchsvoller Auseinandersetzung mit dem Text ist. Es sind mir keine nennenswerten Fehler aufgefallen, die über Kleinigkeiten hinausgingen (so muss es z.B. auf S. 54, Anm. 233, Currie (1984) 506ff. statt 508ff. heißen). Das Buch ist daher ohne Einschränkung zu empfehlen, sei es zu Studien- und Forschungszwecken, oder auch für Lehrer, die die fabulae Aesopiae nicht nur für den Einstieg in die Dichtung, sondern als literarisch ernstzunehmenden Text im Unterricht behandeln wollen.
Notes
1. Oberg, E. Phaedrus-Kommentar. Stuttgart 2000.
2. Luzzatto, M. J. Fedro: Un poeta tra favola e realtà. Torino 1976.