Der elfte Band des in der Reihe “Les Belles Lettres“ erscheinenden Gesamtwerks Diodors umfaßt das 16. Buch. Die Einleitung, die Übersetzung und die Anmerkungen hat Paul Goukowsky, den griechischen Text Danièle Gaillard-Goukowsky besorgt.
In der sehr ausführlichen Einleitung (vii-ccxl), die monographischen Charakter hat, werden die von Diodor berichteten Fakten historisch-kritisch hinterfragt, wobei literarische, epigraphische und papyrologische Quellen herangezogen werden und die kontrovers diskutierte Frage nach Diodors Quellen erschöpfend behandelt wird. Bezüglich der Quellenforschung setzt diese Einleitung Standards, die für die gesamte Diodorforschung von Bedeutung sind.
Zunächst wird in einem kurzen Kapitel “Diodore et la rhétorique“ (viii-xix) die im Proömium zum Gesamtwerk (Diod. 1,2,5) geäußerte Kritik an den Reden mit Recht relativiert und darauf hingewiesen, daß die Gestaltung des 16. Buchs rhetorisch ist: Als “amplification rhétorique d’un thème emprunté à la Troisième Philippique “ des Demosthenes (S. xi), jedoch mit (im Gegensatz zum Redner) positiver Wertung Philipps (S. xvii), zeigt Diodor auf, wie jener aus geringen Anfängen das größte Reich in Europa geschaffen hat.
Nach der Besprechung der Widersprüche zwischen dem von Diodor verwendeten Chronographen, der das Gerüst des Werks bildete, und den zur Rekonstruktion der Ereignisgeschichte benutzten Quellen (S. xxiii-xl) werden die verschiedenen von Diodor im 16. Buch behandelten thematischen Stränge analysiert. Ausführlich wird besonders die Geschichte von Syrakus (S. xl-xcvii) untersucht. Diodor charakterisiert Dion zu Lasten des (zu Unrecht) nur negativ gezeichneten Jüngeren Dionysios als patriotische Lichtgestalt ohne Schatten und verwendet dabei, wie der Vergleich mit anderen Quellen zeigt, wohl neben lokalen sizilischen Historikern (wie die von Diodor 15,94,4 genannten Philistos und Athanas von Syrakus, die bei späteren Autoren keine Spuren hinterlassen haben) und panegyrischen Quellen (wie den Sokratiker Aischines) auch Platons Briefe (S. xlviii-lxi). Da die übrige Tradition nur lückenhaft und z.T. erst spät (etwa bei Plutarch oder Justin) greifbar wird, können die von Diodor zur Rekonstruktion des sizilischen Strangs herangezogenen Quellen nicht näher bestimmt werden. Dabei zeigt Goukowsky überzeugend auf, daß “l’on ne trouve dans les chapitres consacrés à Dion aucune trace ni d’Éphore, ni de Timée ni de Théopompe“ (S. xciii).1
Mustergültig ist auch die Diskussion der Chronologie des “Heiligen Kriegs“ zwischen Phokern und verschiedenen, später von Philipp angeführten Allianzen (S. xcviii-cxxxi). Andere historische Quellen (wie Diyllos, Demophilos, Theopomp etc.) und epigraphische Zeugnisse werden mit Diodors Material verglichen, wobei Goukowsky Kallisthenes als Vorlage für “une hypothèse plausible“ (S. cxviii) hält. Bei der Rückeroberung Ägyptens durch die Perser (S. cxxxi-cxlviii) wird mit Recht betont, daß Diodors’ Erzählung “passablement romancé“ (S. cxlii) und rhetorisch aufgebauscht ist. Als mögliche Quelle kommt der Ktesias-Nachfolger Deinon infrage (S. cxlvi), auch wenn wir kein Vergleichsmaterial haben. Weiter wird bei der Behandlung der Figur des korinthischen Condottiere Timoleon (S. cl-clxxxiv) unterstrichen, daß Diodor ein rhetorisch beeinflußtes und ideologisch verklärtes Bild des Befreiers von Syrakus entwirft (S. cli), das nicht auf Theopomp oder Timaios, sondern auf eine uns unbekannte Vorlage zurückgeht. Die Frage, ob Diodor “pour donner de Timoléon une image idéalisée, n’a pas lui aussi modifié quelquefois les données fournies par ses sources“ (S. clxxxiii), sollte auf jeden Fall bejaht werden. Schließlich wird die manchmal dramatische Schilderung Philipps, dem das 16. Buch gewidmet ist, unter Hinzuziehung der übrigen Quellen ausführlich besprochen (S. clxxxiv-ccxxxi). Die attraktive Quellenhypothese, gemäß der ein später, sonst unbekannter Alexanderhistoriker (wie einer etwa in Pap. Oxy. 1798 greifbar ist) analog zur Verschwörung der Pagen gegen Alexander die Ermordung Philipps durch Pausanias gestaltet habe (S. ccxxv), ist leider nicht beweisbar, weil wir weder für diese Quelle Anhaltspunkte haben noch wegen einer Lücke im 17. Buch Diodors wissen, wie dieser die Verschwörung gegen Alexander dargestellt hat.
Es folgt eine kurze Besprechung der Überlieferung des Textes und der editorischen Grundsätze (ccxxxi-ccxl), wobei auf P. Bertracs Einleitung, der im ersten Band des Gesamtwerks alle Handschriften bespricht,2 verwiesen wird. Von der direkten Tradition werden zu Recht nur die beiden relevanten Codices, der Patmiacus 50 (P) und der Parisinus gr. 1665 (R) berücksichtigt, während die übrigen descripti nicht herbeigezogen werden, was den kritischen Apparat entlastet. Da im Gegensatz zu P in R am Anfang das Inhaltsverzeichnis fehlt, hätte an dieser Stelle der Laurentianus 70,12 (F), der gemäß Goukowsky für dieses Buch (S. ccxxxii) “un apographe de R“ ist, hinzugezogen werden sollen. So bevorzugt Gaillard-Goukowsky S. 1 im cap. 4 des Pinax die zugegebenermaßen falsche Lesart von P ἀνδρείας statt ἀνανδρίας und erklärt diese in der Anmerkung mit einem Fehler von P in cap. 9,3, wo vor der Korrektur ebenso ἀνδρεία stand. Hingegen lesen die jüngeren descripti wie F ἀνανδρίας. Die Wahrscheinlichkeit, daß auch R ἀνανδρίας hatte, ist daher groß; der Fehler von P ist leicht als Haplographie erklärbar.3
Ein Verdienst dieser Edition ist gewiß, R nochmals gründlich kollationiert zu haben, während Fischer, der die Teubner-Edition besorgt hat, diesen Codex offenbar nur oberflächlich kannte.4 Ebenso nützlich ist die Berücksichtigung der indirekten Tradition, die durch Exzerpte aus dem 10. Jh. dargestellt wird5; es wäre benutzerfreundlicher gewesen, diese nicht nur dort, wo sie bessere Lesarten bewahrt, sondern auch dort, wo sie interessante Varianten bietet, die nicht in den Text aufgenommen werden, im Apparat und nicht nur in der Liste in der Einleitung zu verzeichnen (S. ccxxxv-ccxl). Ein großes Problem sind, wie auch in der Einleitung und in den Anmerkungen, die vielen Akzentfehler, die mit der Qualität der Einleitung und dem Prestige der Reihe im Widerstreit stehen.6 S. 16, Z. 8 könnte man auf die Tilgung von ταύτην verzichten und das überlieferte ἐχόντων anstelle von Fischers Konjektur ἔχουσαν behalten, da die beiden Partizipien οἰκούντων und ἐχόντων durch καὶ koordiniert werden. Hingegen ist S. 31, Z. 26 der Zusatz des Artikels τὸ notwendig.
Als Nicht-Muttersprachler kann ich mich nicht zur stilistischen Qualität der durchweg korrekten Übersetzung äußern: S. 22, Z. 29 wird aber ὀκτακοσίους ὄντας nicht, S. 66, Z. 9 ὀγδοήκοντα mit “quatre-vingt-dix“ übersetzt; unpassend scheint “se méfiait“ für εὐλαβεῖτο S. 16, Z. 16, das bei Diodor die Furcht angibt (cap. 16,3; 22,2 und 66,7 treffend mit ‘craindre‘ bzw. ‘redouter‘ wiedergegeben).
Während Ergänzungen im Griechischen korrekt mit spitzen Klammern gekennzeichnet werden, fehlen diese in den entsprechenden Teilen der Übersetzung: S. 19, Z. 7 bleibt der Zusatz <τὴν διὰ τῶν λόγων σύνθεσιν> unübersetzt, ebenso S. 88, Z. 23f. die Ergänzung <εἰς τὴν ἐξ ἀρχῆς κατάστασιν>; ebenda ist Z. 25 die Ergänzung von <ἄλλας> zwar übersetzt, aber nicht als solche in der Übersetzung gekennzeichnet. Ebenso wird S. 90, Z. 20 im Griechischen <ἱππεῖς δὲ χιλίους> ergänzt, im Französischen ohne Klammern mit “mille fantassins“ übersetzt, danach aber eine lacuna angegeben. Hingegen werden in der Übersetzung diese Klammern dazu verwendet, um erklärende Zusätze, die dem Leser Verständnishilfen sein sollen, aber keineswegs Ergänzungen gegenüber dem überlieferten Text darstellen, kenntlich zu machen (S. 21 wird etwa διὰ τὸ μέγεθος τῶν ἐπαγγελιῶν “en raison des grandes promesses
Bisweilen differiert die Setzung der Paragraphenziffern zwischen der Übersetzung und dem Text.7
Der sonst knappe Apparat wird durch die allzu konsequente Angabe von Akzentvarianten und orthographischen Versehen unnötig belastet (daß mittelalterliche Codices bisweilen eine “accentuation fantasiste“ [S. ccxxxiii] haben, sollte nicht erstaunen): So vermerkt Gaillard-Goukowsky im Apparat S. 6, Z. 10 “Θρᾷκας nos : Θράκας codd.“ (schon von Fischer korrigiert) und Z. 27 die Varianten “Γναῖον R : Γνάϊον P“ bzw. “Αἰμίλιον R : Αἱμίλ- P“ oder S. 24, Z. 9 die Angabe, daß P τυράνους statt τυράννους (R) liest. Wird der Itazismus “στρατείαν R : -τίαν [lies -τιάν] P“ (S. 84 zu Z. 16) wegen des Bedeutungsunterschieds der beiden Wörter zu Recht angegeben, ist dies oft überflüssig (so S. 27 zu Z. 19 die Angabe, daß P ὀφιλομένων statt ὀφειλομένων hat, ebenso S. 35 zu Z. 12 μισοπονιρίας statt μισοπονηρίας, ähnlich S. 116 zu Z. 26 Χαιρώνειαν statt Χερώνειαν). Im Gegensatz zu Fischer, der bei verderbten Stellen ausführlich die vorgeschlagenen Verbesserungsversuche dokumentiert und für manche Konjekturen Parallelstellen anführt (so erklärt er etwa S. 111 zu cap. 76,1, daß er aufgrund der Parallele Diod. 13,60,1 und 14,12,2 νίκην in φιλονεικίαν korrigiert), notiert Gaillard-Goukowsky in der Regel nur die Varianten, ohne im Apparat oder in den Anmerkungen weitere Erklärungen zu geben.
Die Anmerkungen betreffen größtenteils historische Probleme und erklären nur selten sprachliche oder philologische Schwierigkeiten. So hätte man etwa angeben sollen, daß S. 13, Z. 11 die Codices Χαρικλείδην und nicht Ἡρακλείδην lesen; ebenso ist die knappe Erklärung S. 157, Anm. 335, daß der von P überlieferte Plural ἠναγκάζοντο (S. 44, Z. 1) als lectio difficilior vorzuziehen sei, verwirrend, da in der Edition selbst ἠναγκάζετο von R gewählt, aber als Plural “ils étaient contraints“ übersetzt wird, während im Apparat bloß die Variante von P mit der Anmerkung “fortasse recte“ vermerkt wird. Die Bemerkung S. 178, Anm. 599, daß ein Abschreiber kaum ἐπί mit ἐν verwechseln konnte, ist bei der Annahme eines in Majuskeln verfaßten Archetyps vielleicht noch einmal zu überdenken.
Am Ende steht S. 203 eine “table de matières“, die aber die Untergliederung der Einleitung in Unterkapitel nicht vermerkt, sondern nur “Notice“ angibt, was dem Leser das Auffinden der einzelnen Themen erschwert, wozu auch das Fehlen von Indices beiträgt.
Während die Einleitung durch Gründlichkeit und Qualität besticht und hinsichtlich der Quellenfrage grundlegend ist, vermag die Edition nicht die bisherige Ausgabe von Fischer zu ersetzen. Der ganze Band hätte überdies noch einer abschließenden redaktionellen Bearbeitung bedurft.8
Notes
1. Anders E. Schwartz, Diodor von Agyrion, RE V.1, Stuttgart 1903, 663-704, für den Diodors Bericht vornehmlich auf Ephoros beruht (S. 681).
2. F. Chamoux / P. Bertrac. Diodore de Sicile. Bibliothèque historique, Livre I. Paris 1993, S. ci–cxxiii.
3. Das Argument, “il nous a paru logique de reproduire le Sommaire tel qu’il figure dans le Patmiacus, puisque nous avons laissé de côté les apographes de R“ (S. ccxxxiii), ist merkwürdig, da das Ziel einer Diodor-Edition nicht die Rekonstruktion des Textes einer einzelnen Handschrift, sondern desjenigen des Autors (bzw. des rekonstruierten Archetyps) ist.
4. C. Th. Fischer, Diodori Bibliotheca Historica, vol. 4, Leipzig 1906.
5. Zu cap. 40,1 meint Goukowsky, daß die Variante Exc. de Virt. et Vit. 146 Βοιωτοί wohl besser als Θηβαῖοι der Codices ist (S. ccxxxvii), erwähnt diese aber im kritischen Apparat (S. 56) nicht. Der Zweck des Hinweises S. ccxxxvi, daß Exc. de Virt. et Vit. 140, das Diodors cap. 11,2 paraphrasiert, πεντηκονταετοῦς γὰρ δουλείας, “sans doute avec raison“, hat, was aber auch die Lesart von P und R ist, wird erst im Apparat der Teubner-Edition von Fischer (S. 21) klar, der angibt, daß Plut. Dion 28 δι’ ἐτῶν ὀκτὼ καὶ τεσσαράκοντα hat: das Exzerpt, das eine ältere Stufe der Diodor-Überlieferung repräsentiert, stützt also offenbar die Lesart der Codices. Dies wird indessen nirgends erklärt.
6. Es ist unmöglich, alle Akzentfehler anzugeben, hier eine knappe Auswahl: S. xxiii lies γλώσσης statt γλωσσῆς; S. lxii, Anm. 266 αὐτοκράτορες statt αὐτοκρατόρες; S. cxxi ψυχήν statt ψύχην und ἧσσάν σφισιν statt ἦσσαν σφίσιν, S. 1f. dreimal ἀρχή statt αρχή; S. 3, Z. 23 τοῦ statt του, S. 6, Z. 1 δουλεύουσαν statt δουλευούσαν; S. 37, Z. 13 ἀδίκους statt ἀδίκοὺς; S. 61, Z. 2 δεξιὰν statt δεξίαν; S. 69, Z. 19 ἐᾶν statt ἐὰν; S. 79, Z. 1 οὗτος statt οὕτος; S. 83, Z. 27 διέτριβεν statt διέτρίβεν; S. 149, Anm. 243 πολὺν statt πόλυν.
7. So etwa S. 86, wo zu cap. 64 im Text die Paragraphenzahl 3 in Z. 25 statt Z. 27 steht; S. 101 fehlt die Ziffer 4 in der Übersetzung; S. 108 steht im Griechischen die Paragraphenzahl 3 in Z. 13 statt Z. 10; S. 119 fehlen im Französischen die Paragraphenzahlen 6 und 2.
8. Es ist unmöglich, alle Druckfehler anzugeben, hier eine Auswahl: Lies S. ix, Anm. 16 ‘der‘ statt ‘des‘; S. xlvi, Anm. 174 ‘semble‘ statt ‘semblz‘; S. lxxxi, Anm. 359 ‘brevissimamente‘ statt ‘brevissamente‘; S. xcic, Anm. 439 ‘cinquantaine‘ statt ‘cinquantaien‘; S. cxl ‘suppléer‘ statt ‘supppléer‘; S. cliv, Anm. 713 ‘Storia della Sicilia nell’antichità‘ statt ‘Storia della Sizilia nell’Antichita‘ (ebenso S. 184, Anm. 666); S. ccxxxii, Anm. 1089 ‘Dain‘ statt ‘Daim‘; S. 34, Z. 4 κατηγοροῦντος statt κατηγοροῦτος; S. 61 ‘très‘ statt ‘tès‘; S. 125, Anm. 2 ‘Ephoros‘ statt ‘Ephros‘; S. 69, Z. 12 στρατηγήματος statt στραταγήματος; S. 72, Z. 19 αὐτοκράτορα statt αὐτοκράτοτα; S. 126, Anm. 14 ‘Filippo‘ statt ‘Filipo‘.