„Mir ekelt vor diesem Tintenklecksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen“—diese Worte lässt Friedrich Schiller in seinem Drama „Die Räuber“ die Hauptperson Karl Moor sprechen.1 Schillers 1782 uraufgeführtes Schauspiel reflektiert die Suche einer jungen Generation von Literaten der Aufklärungszeit nach bestandsfähigen Normen. Karl Moor rebelliert gegen die Leitinstanz der Vernunft, betont den Stellenwert der Emotionen und sieht diese im „genialischen“ Menschen zu ihrem Recht kommen. Dafür beruft er sich auf Plutarchs Lebensbeschreibungen. Eines wird hieran überdeutlich: die offenbar erfolgreiche Orientierung Plutarchs an seiner Leserschaft, die sich nicht nur unter den Zeitbedingungen des römischen Prinzipats von seinen Biographien beeindrucken, sondern auch in der Neuzeit noch mitreißen ließ, jedenfalls solange sie in seinen Darlegungen vorbildwürdige Anleitungen zu erkennen vermochte. Das ist gewiss auch ein Resultat der didaktischen Zielsetzung, die Plutarch verfolgte und die auf Resonanz stieß, solange die Geschichte als „Lehrmeisterin des Lebens“2 vorbehaltlos Akzeptanz fand.
Plutarchs in Belehrung durch Unterhaltung angelegte Rezipientenorientierung wird in dem Normengefüge sichtbar, an dem er die von ihm vorgestellten Personen misst und das er unaufdringlich an seine Leser weitergibt. Die Dimensionen, an denen Plutarch sein literarisches Gesamtwerk orientiert, in den Einzelheiten wissenschaftlich untersucht, miteinander in Beziehung gesetzt und auf diese Weise im Kleinen wie im Großen Zugänge zu den Schriften Plutarchs und den mit ihnen verbundenen Intentionen geschaffen zu haben, ist das bleibende Verdienst Philip Stadters: Die über ein halbes Jahrhundert reichende Beschäftigung mit Plutarch und dessen Œuvre3 ist in einem Buch verdichtet, das diesen Schriftsteller mit seinen römischen Lesern in Verbindung bringt und daraus einen Schlüssel zum Verständnis der dessen Werken zugrunde liegenden Absichten formt. Es handelt sich nur scheinbar um eine Monographie. Tatsächlich hat Stadter hier 23 Aufsätze versammelt, die seit den 1990er Jahren, teilweise auch erst in jüngster Vergangenheit entstanden sind. Sie finden sich in vier Teilen zu unterschiedlichen Themen geordnet. Insgesamt vermitteln sie ein Bild großer thematischer Geschlossenheit. Hierzu akzentuieren die vier Abschnitte die Generalthemen, unter denen jeweils zwischen drei und sieben Aufsätze gruppiert sind, die das Leitthema auffächern, nach verschiedenen Richtungen betrachten und so neben detaillierten Einsichten gleichzeitig ein abgerundetes Gesamtbild vermitteln. Überschneidungen kommen vor, fallen aber nicht sonderlich auf, weil die identischen Sachverhalte in unterschiedliche Zusammenhänge eingebettet sind.
Die sieben Aufsätze des ersten Teils sind unter der Überschrift „Two Worlds – or One?“ in grundsätzliche Reflexionen über die Einheit der Mittelmeerkultur und die gleichzeitig dennoch vorhandene römisch-griechische Dichotomie dieser Welt eingebunden. Hierfür dient Plutarch selbst als signifikantes Beispiel, das Stadter in dem Beitrag „Friends or Patrons?“ vor dem Hintergrund vergleichbarer Fälle am Verhältnis des Griechen zu seinen Freunden und zugleich Patronen aus der römischen Elite, besonders zu Mestrius Florus und Sosius Senecio, vorstellt und indem er hier wie andernorts in Erkenntnissen aus der Interpretation der Werke Plutarchs Einsichten in dessen Denkweise formuliert.
Das im Eingangsbeitrag angerissene Thema des ersten Teils fächert Stadter in den folgenden Aufsätzen nach verschiedenen Aspekten auf: Ein erster Gesichtspunkt sind die Parallelbiographien und die Kaiserviten Plutarchs, für die Stadter mit durchaus überzeugenden Argumenten gerade auch eine römische Leserschaft geltend macht. Hierzu veranschaulicht er bestimmte Bedingungen der Kommunikationssituation in der Gegenwart Plutarchs, indem er als Abfassungszeit für die Parallelbiographien die von dem Griechen aufgrund von Erfahrungen in der Vergangenheit als unsicher eingeschätzte Lage der Übergangszeit des Prinzipats auf Nerva und Trajan und bei ihm selbst das Bewusstsein für überraschende Schicksalswenden selbst angesichts scheinbar wohlgeordneter Verhältnisse geltend macht. Ähnliches gilt für Plutarchs Reihe der mit den Biographien zu Galba und Otho ja nur zu einem kleinen Teil erhaltenen Kaiserviten von Augustus bis Vitellius. Für deren Abfassung nimmt Stadter recht früh die mittleren Regierungsjahre Vespasians an, in denen sich angesichts des Niedergangs unter Nero und der Wirren des Vierkaiserjahrs die Hoffnungen des Biographen auf die inzwischen konsolidierte neue Dynastie richteten. Angesichts der didaktischen Zielsetzung Plutarchs lenkt Stadter die Aufmerksamkeit auf die für die römischen Leser der Biographien ambitionierten Vorschläge des Griechen zugunsten einer moralisch fundierten Konsolidierung und Perpetuierung gerechter Herrschaftspraxis. Plutarchs Einschätzungen führt Stadter auf ein Staatsdenken zurück, das auf den Grundlagen platonischer Philosophie beruht.
Ein zweiter Gedankenkreis dieses Teils betrifft Delphi. Stadter verankert dieses Thema einerseits in der Biographie Plutarchs, den er für die flavische und trajanische Kaiserzeit als „Diplomat for Delphi?“ vorstellt, andererseits in dessen Werken, und zwar in bestimmten Lebensbeschreibungen griechischer und römischer Politiker aus den Parallelbiographien, in denen das delphische Orakel eine besondere Rolle spielt („Plutarch and Apollo of Delphi“). Die Verarbeitung des Themas in den literarischen Werken Plutarchs und seine Relevanz in dessen eigenem Leben beleuchten einander und erlauben—teils hypothetische—Beobachtungen, die sich in ein plausibles Gesamtbild fügen, das hier wie anderswo Stadters Tendenz unterstützt, den Werken Plutarchs grundsätzliche ethisch-moralische Einstellungen ihres Verfassers zu entnehmen. Dies betrifft nicht zuletzt den ebenfalls in zwei Beiträgen präsentierten dritten Gedankenkreis des ersten Teils, der anhand der „Tischgespräche“ Plutarchs Grundfragen menschlichen und damit auch politischen Umgangs miteinander thematisiert. Stadter verdeutlicht diesen Gedanken besonders an den Parallelen, die Plutarch zwischen dem Symposiarchen und dem Politiker zieht.
Schon anhand der Lektüre des ersten Teils wird deutlich, dass für Stadter die Forschungen zu den biographischen Arbeiten Plutarchs im Mittelpunkt stehen, auch wenn er das Gesamtwerk immer vor Augen hat und bei Bedarf zur Abrundung seiner Argumentation heranzieht. In den beiden Aufsätzen zu Plutarchs Viten vertritt Stadter besonders überzeugend die Fixierung des Autors gerade auch auf römische Leser. Dieses Thema macht er zu einem Untersuchungsgegenstand, der die Sammlung dieser Aufsätze unter einer gemeinsamen Fragestellung verbindet. Außerdem beleuchtet er in diesen Beiträgen die Haltung Plutarchs zur weitgehend einheitlichen Kultur der Mittelmeerwelt bei gleichzeitig wichtigen perspektivischen Unterschieden zwischen griechischen und römischen Zugängen zu dieser Welt. In den nächsten beiden Teilen des Sammelbandes treten daher die Biographien Plutarchs mehr und mehr in den Vordergrund.
Zunächst geschieht dies in den sieben Aufsätzen des zweiten Teils unter der Überschrift „Writing for Romans“. Die ersten fünf Beiträge sind auf die Parallelbiographien konzentriert und beschäftigen sich mit Plutarchs Planungen zur Abfassung dieser Lebensbeschreibungen, seiner Lektüre lateinischer Quellen für die Viten, seinem Umgang mit dem cursus honorum in den Biographien von Römern und der Spiegelung des Selbstverständnisses trajanischer Zeit in den Viten von Staatsmännern der Vergangenheit. Überzeugend wirkt Stadters Plädoyer für solide lateinische Sprachkenntnisse Plutarchs. Auf eindrückliche Weise veranschaulicht er Plutarchs Geschick, in Viten von Männern lange zurückliegender Zeiten, wie den Lebensbeschreibungen Numas, Solons und des Publius Valerius Publicola, den Stoff so aufzubereiten, dass in ihnen nicht nur Hinweise für das eigene Verhalten des Lesers, sondern auch Anspielungen auf die – günstig beurteilte – politische Gegenwart der Zeit Trajans, zum Beispiel anhand der Frage nach der Gerechtigkeit des Herrschers, und die – als problematisch angesehene – jüngste Vergangenheit unter Domitian geboten werden: „Plutarch’s mirror confronts the reader with his own self and his own world“ (S. 178).
Der dritte Teil mit seinen sechs Beiträgen zum Thema „Statesmen as Models and Warnings“ ist fast ausschließlich den Parallelbiographien Plutarchs gewidmet. Stadters Interpretationen leben vom Vergleich der Vitenpaare, auf die er eingeht und bei denen er unter verschiedenen Fragestellungen Ähnlichkeiten und Unterschiede verfolgt. Mit deren Hilfe arbeite Plutarch Modelle guter und weniger guter Lebensführung heraus, zu denen sich der Leser eine Meinung bilden könne, wie immer sowohl individuell als Maßstab für die eigene Person als auch durch gegenwartsbezogene Analogieschlüsse, die die Beurteilung des zeitgenössischen politischen Personals erlaubten. In diesem Sinne geht es unter anderem um den Staatsmann als moralische Instanz bei Plutarch, um das Verhältnis zum Göttlichen, um das Thema der – auch im Prinzipat zu beobachtenden – Konkurrenz in der Elite und um die in den Biographien angelegte Mehrdimensionalität an Vergleichsmöglichkeiten. Derartige Vergleiche ergeben nämlich nicht nur zwischen Vitenpaaren Sinn, sondern auch in ganzen Gruppen von Lebensbeschreibungen, die anhand unterschiedlicher Personen gleiche Themen unter verschiedenen Zeitbedingungen ansprechen oder auch anhand gleicher Zeitbedingungen unterschiedliche Charaktere römischer Politiker etwa der späten Republik beleuchten. In diesen Kapiteln führt Stadter den Aspektreichtum vor, unter dem die diversen Parallelbiographien untersucht und ausgewertet werden können: So interpretiert er etwa diverse Fragen der Moralität und ihrer Differenzierung an den Vitenpaaren Kimon/Lucullus, Aristides/Cato und Alexander/Caesar oder sehr unterschiedliche Facetten des Ehrgeizes und ihrer Folgen an Lysander und Sulla. Angesichts dieser thematischen Ausrichtung räumt Stadter zugleich mit dem alten Verdikt auf, Plutarch stilisiere die von ihm vorgestellten Personen zu idealen „Helden“.
Der letzte und mit drei Aufsätzen kürzeste Teil greift einige Gesichtspunkte neuzeitlicher Plutarch-Rezeption auf. Auch in der englischsprachigen Plutarch-Rezeption spielt die Aufklärungszeit eine wichtige Rolle; sie ist mit Joseph Addisons Tragödie über den jüngeren Cato von 1713 ebenso präsent wie mit den von Alexander Hamilton 1777/78 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg angefertigten Notizen zu Plutarch. Seinen letzten Beitrag zu diesem Buch widmet Stadter der Frage: „Should we Imitate Plutarch’s Heroes?“ Das Thema bezieht Stadter auf die Leserorientierung Plutarchs und die daraus sich ergebenden Konsequenzen. Er gibt nochmals zu bedenken, Plutarch schildere keine lupenreinen Helden, sondern ganz pragmatisch Menschen mit Stärken und Schwächen, die die Urteilsfähigkeit des Lesers herausforderten. Doch negiert Stadter eine an Ciceros Diktum von der historia als magistra vitae orientierte didaktisch-pragmatische Bedeutung der Lebensbeschreibungen Plutarchs für die heutige Welt keineswegs, wie er in den ein wenig pathetisch wirkenden Schlussworten dieses Aufsatzes—wenn auch vorsichtig—zu erkennen gibt. Mit dieser Schlussfolgerung Stadters tut sich der durch die Schule des Historismus gegangene Altertumswissenschaftler, der für die Quellen nur geschichtsimmanente Urteilskriterien gelten lässt, recht schwer. Stadter setzt hier einen ganz anderen Akzent, wenn er die Vermittlung antiken Denkens und der hinter ihm stehenden Werte an die Menschen von heute und damit aktuelle Nützlichkeitserwägungen im Urteil über die Charaktere in den Biographien Plutarchs in den Vordergrund stellt. Doch diese Rückkehr zum Maßstab der Geschichte als „Lehrmeisterin des Lebens“ ist unter methodischen Gesichtspunkten höchst kritisch zu betrachten, weil sie Plutarchs normenorientierte Darstellungen als gültige Leitlinien akzeptiert. Der Leser von heute würde damit moralische Kriterien der Wertewelt Plutarchs zu Maßstäben für die eigene Gegenwart machen.
Stadters Aufsatzsammlung zu Plutarch kann man fast wie eine Monographie lesen. Wenn man das tut, fallen eine Reihe durchgehender Themen auf, die Stadter unter verschiedenen Prämissen beleuchtet und deren Resultate überzeugend wirken, da sie in diversen Aufsätzen aus unterschiedlichen Begründungszusammenhängen erarbeitet sind. Dazu gehören die wichtigen Aussagen zur Kommunikationssituation der Werke—insbesondere der Biographien—Plutarchs, die neben dem im Titel bereits verankerten Leitaspekt der römischen Leserschaft in den primär auf die Gegenwart des Prinzipats bezogenen didaktischen Absichten des Schriftstellers zum Ausdruck kommt. Angesichts des Wechsels von politisch unruhigen und ruhigeren Zeiten in Rom dient diese utilitaristische Komponente, wie Stadter mehrfach herausstellt, anhand der Stärken und Schwächen des in den Lebensbeschreibungen vorgestellten Personals der Werbung für die Konsolidierung einer Herrschaft, die sich an dem platonischen Leitbild orientiert. Darin zeigt sich recht deutlich das Interesse des Provinzialen an gerechter Herrschaft durch ein politisches System, das seine eigenen Einflussmöglichkeiten auf indirekte Einwirkung beschränkt. Dieser Zielsetzung entspricht allenthalben in den Biographien eine Charakterdarstellung, die neben den virtutes auch den vitia einer Persönlichkeit gerecht wird. Stadter fördert daher in seinen Aufsätzen auf verschiedenen Wegen und in ebenso sorgfältigen Argumentationsgängen wie überzeugenden Ergebnissen eine realistische Beurteilung der von Plutarch dargestellten Personen, die zugleich mit den idealistischen Komponenten in der Zielsetzung des Biographen rechnet und so ein facettenreich und zugleich stimmig gedeutetes Gesamtbild zu erzeugen weiß.
Notes
1. F. Schiller, „Die Räuber“, in F. Schiller, Werke, Bd. 1: Dramen I, textkritisch hrsg. v. H. Kraft (Frankfurt am Main, 1966), 6-130, hier 20.
2. Vgl. Cicero, De oratore 2,36.
3. Einsetzend mit der Dissertation: Ph. A. Stadter, Plutarch’s Historical Methods: An Analysis of the Mulierum Virtutes (Cambridge, Mass., 1965).