BMCR 2016.02.10

Krieg und Bürgerkrieg bei Lucan und in der griechischen Literatur: Studien zur Rezeption der attischen Tragödie und der hellenistischen Dichtung im Bellum civile. Beiträge zur Altertumskunde, Bd 225

, Krieg und Bürgerkrieg bei Lucan und in der griechischen Literatur: Studien zur Rezeption der attischen Tragödie und der hellenistischen Dichtung im Bellum civile. Beiträge zur Altertumskunde, Bd 225. Berlin; München; Boston: De Gruyter, 2015. xii, 484. ISBN 9783110222074. €119.95.

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Annemarie Ambühl untersucht in der nunmehr erschienenen Druckfassung ihrer 2010 in Mainz eingereichten Habilitationsschrift die intertextuelle Benutzung der griechischen Literatur in Lucans Pharsalia.

Auf eine Einleitung (1–54) folgt ein Kapitel über die Verwendung der Mythologie in Gleichnissen sowie in geographischen Exkursen (55–178), dann zwei Abschnitte über die Rezeption des thebanischen (179–288) und des trojanischen Sagenkreises (289–368), ein wesentlich kürzeres Kapitel über die Schilderung von Caesars Aufenthalt in Alexandria in Phars. X (369–396), sodann knappgehaltene Schlußbemerkungen (397–402) und schließlich ein Literaturverzeichnis (403–462), ein Stellenindex (463–475) sowie im Anhang zwei tabellarische Zusammenstellungen zur Mythologie im Bellum civile sowie den Vorbildern von Lucans Thessalien Exkurs, die nach einzelnen Landschaften bzw. Flüssen aufgeschlüsselt werden (477–484).

In der Einleitung setzt sich Ambühl methodisch von der bisherigen Lucan Forschung ab, welche die Pharsalia herkömmlicherweise primär im Kontext entweder der Historiographie oder der Epik betrachtet (2); entscheidend ist für ihre Deutungsrichtung die bereits im ersten Vers ( Bella … plus quam civilia, 4 f.) deutlich werdende aemulatio, und zwar gegenüber griechischen Autoren (6 f.); Antipode ihrer Methodologie ist René Pichon, „der die Benutzung griechischer Texte durch Lucan — außer durch die Vermittlung römischer Autoren — pauschal in Abrede stellte“ (21). Sie geht soweit, daß sie bei Lucan sogar Reflexe der bei Thukydides beschriebenen στάσις in griechischen Städten anzunehmen geneigt ist (43 ff.); das wichtigste griechische Paradigma des römischen Bürgerkriegs bei Lucan entstamme indes dem Theben Mythos (50 f.).

Die Tendenz des Kapitels über den Gebrauch der Mythologie in Gleichnissen und geographischen Exkursen besteht darin, daß die mythische „Lüge“ nicht einfach ein „negativ besetzter Gegenbegriff zur Wahrheit“ ist (62 f.); vielmehr „verdoppeln“ und überhöhen mythische Einsprengsel das in der historischen Erzählung vorhandene Kriegsmotiv (68). Später heißt es, daß Lucans Schlachtfelder „bereits gesättigt mit negativen Mythen und Intertexten“ seien (136 f.); speziell Thessalien ist „Paradigma einer verkehrten Welt“ (160).

Die von einer sich spaltenden Flamme im Prodigienkatalog verwendete Junktur Thebanos imitata rogos sc. flamma (Phars. I 552) wird als metaliterarischer Verweis auf das thebanische Leichenfeuer gedeutet (81). Der Nachweis, daß bereits in diesem Prodigium der schließliche Tod der Bürgerkriegsantagonisten angedeutet werde (82 f.), befriedigt für Pompeius, dessen Bestattung in der Tat ebenfalls höchst problematisch und unter Zuhilfenahme eines fremden Leichenfeuers erfolgt, nicht jedoch für Caesar, in dessen Fall recht umständlich das Feuer der Vestalinnen gemäß Ovid, Met. XV 777 f. herbeigezogen werden muß.

In der Besprechung der Furiengleichnisse in Phars. I 572–577 (83) und VII 777–780 (87) gelingt der Nachweis, daß Lucan den Mythos genau kennt und präzise differenziert in verschiedenen Phasen des Werkes einsetzt (hinzugefügt sei, daß sich die beiden Gleichnisse unter der Voraussetzung der Zwölf Bücher These auch strukturell entsprechen). Es verwundert jedoch, daß das evidente und längst bekannte vergilische Vorbild des zweiten Gleichnisses (Aen. IV 469– 473) nicht einmal im Wortlaut zitiert und in Ambühls Ausführungen (88) recht deutlich marginalisiert wird. Hier hätte sich einmal die Gelegenheit geboten, Lucan und Vergil nebeneinanderzustellen und genau diejenigen Elemente zu bestimmen, die nicht von Vergil, sondern möglicherweise aus einer griechischen Tradition stammen.

In der thessalischen Geographie findet Ambühl besonders „die in der älteren Forschung oft kritisierten angeblichen geographischen „Fehler“ Lucans“ (147) signifikant und vermutet hinter der „assoziativen Geographie“ eine gezielte intertextuelle Strategie (156). Ob sich mit solch allgemeinen Überlegungen etwa das Rätsel des „thessalischen Thebens“ in Phars. VI 356–359 (110) wirklich definitiv lösen läßt (im Sinne einer „Überlagerung“ durch das mythologisch bedeutendere und atmosphärisch passende böotische Theben), mag offenbleiben. Dabei soll die von Ambühl betonte atmosphärische Relevanz des Agaue Mythos im thessalischen Kontext keineswegs bestritten werden.

Daß hinter der Verführerin Kleopatra die Figur der Helena aufscheint (129 ff.), ist fast unvermeidlich. Ihre Bezeichnung als Erinys in Phars. X 59 wird mit der entsprechenden Titulierung Helenas in Aen. II 573 zusammengestellt im Sinne einer gemeinsamen Reminiszenz an eine griechische Tragödie (nicht etwa im Sinne einer Abhängigkeit der postvergilischen Helena Episode von Lucan), was sich kaum widerlegen läßt. Allerdings scheint es mir zu weit zu gehen, wenn in die Analogie zwischen Kleopatra und Helena sogar die euripideische Helena einbezogen wird (131 f.), eine Tragödie, in welcher Helena ja gerade nicht als femme fatale dargestellt wird.

Die wichtigsten Vorbilder von Lucans thessalischer Geographie sind gemäß Ambühl der kallimacheische Delos Hymnos und Catulls carm. 64 (145 ff.). Das Peleus Epyllion möchte Ambühl am liebsten nach der Schlacht von Pharsalos im Jahre 48 a. datieren (166), so daß man Wendungen wie Pharsalum (Pontanus : Pharsaliam cod.) coeunt (Cat. 64, 37) sinister im Lichte des Bürgerkriegsgeschehens deuten (168) und Catulls derart ominös befrachtetes Hochzeitsfest als Vorbild für Lucans „Schlachtfest“ auffassen könnte (174); eine gewisse Vorbelastung von Ambühls Deutungen durch diese hypothetische Spätdatierung ist kaum zu verkennen.

Grundsätzlich zu fragen bleibt, ob die „Instabilität der Landschaft“ im Sinne Ambühls (160) als intertextuelles Abhängigkeitsindiz oder eher als allgemeines Merkmal von aitiologisch die geographische Faktizität erklärenden Exkursen zu verstehen ist.

Im zweiten Hauptkapitel geht es vor allem um die Rezeption der griechischen Theben Tragödien. Daß die Bürgerkriegsthematik im Theben Stoff erst in der lateinischen Literatur und besonders in den senecanischen Tragödien hervortritt (nach griechischer Auffassung handelt es sich ja beim Krieg der Sieben gegen Theben letztlich um den Konflikt zweier Stadtstaaten), wie Ambühl 184 f. erkennt, bildet vielleicht schon ein gewisses Gegenargument gegen die Annahme allzu intensiver Benutzung dieser Tragödien bei Lucan.

Einzelnes: Die eigentliche Schlachtschilderung in Phars. VII enthält mit dem anonymen Brudermord (VII 626–628) ein intertextuelles Substitut zum thebanischen Bruderkampf (196). Im ersten Teil der Pharsalia spielt Caesar die Rolle des verbannten Polyneikes (199 ff.), die nach der Flucht des Pompeius aus Italien in Phars. II/ III von diesem übernommen wird (210 f.–ähnliche „Rollenwechsel“ nimmt Ambühl häufiger an, vgl. etwa 132, wo Caesar zwischen Menelaos und Paris changiert). Der lucanische Erzähler mit seiner apotropäischen Haltung nimmt die Rolle der tragischen Iokaste ein (220). Cato mit seiner Bereitschaft zum Selbstopfer wird mit dem thebanischen Helden Menoikeus (227) parallelisiert. Die strukturelle Entsprechung zwischen den unglücklichen Sonnenaufgängen am Eingang des siebenten Pharsalia Buches und zu Beginn des Prologs der euripideischen Phoenissen (230 f., vgl. 78) wird, wie Ambühl weiß, dadurch eingeschränkt, daß es zumindest bei Euripides nicht um den Morgen des Schlachttages, sondern des Gründungstages der Stadt Theben geht.

Der Schluß vom Schweigenwollen des Erzählers auf die Haltung eines tragischen Boten (247) ist letztlich nicht sicher, da auch interne Erzähler im Epos wie Aeneas vor Dido lieber von ihren Leiden schweigen möchten (248).

Eine Detailbeobachtung: In dem auf S. 208 zitierten Vers Sen. Phoen. 483 Tu pone ferrum, causa qui ferri es prior sollte man prior mit pone verbinden, um auf diese Weise die Parallelität zu der vergilischen Warnung an Caesar (Aen. VI 834 Tuque prior) hervortreten zu lassen; hierzu vgl. Thomas Gärtner, Thebanischer und römischer Bürgerkrieg. Eine literarische Querbeziehung, Philologus 146 (2002) 375–379.

Auch das — als fiktiv bzw. literarisch motiviert angesehene (261) — Bestattungsverbot Caesars nach der Schlacht bei Pharsalus wird bis in Details mit den thebanischen Tragödien in Verbindung gebracht, namentlich mit der sophokleischen Antigone. Einen weiteren Reflex erhält dieser Stoff bei der notdürftigen Bestattung des ermordeten Pompeius in Ägypten (278 ff.). Indes scheint die anschließende weitergehende Parallelisierung der Fortführung des Bürgerkriegs durch Cato in Phars. IX mit dem Epigonenfeldzug der Argiver gegen Theben (284 f.) dann doch etwas über das Ziel hinauszuschießen.

Das dritte Hauptkapitel behandelt die Reflexe der trojanischen Tragödien bei Lucan; Troja ist im Gegensatz zu Theben physisch präsent im Text der Pharsalia, nämlich anläßlich von Caesars Besuch in Troja (289); andererseits bleibt der Rekurs auf die Iliupersis bei Lucan stets „kontrafaktisch“ (336), insofern die gefürchtete Brandschatzung Roms durch Caesar in Phars. II/ III unterbleibt. Methodisch erstrebt Ambühl wiederum einen Nachweis direkten Einflusses insbesondere der euripideischen Troja Tragödien unter weitgehender Ausblendung des vermittelnden Einflusses der vergilischen Aeneis (292 f.).

Hierbei konzentriert sich Ambühl zunächst auf die Reminiszenzen eines anonymen Greises an den früheren römischen Bürgerkrieg; hier soll der am Vesta Altar ermordete Priester Scaevola dem Priamus (313 f.), der in einem grausamen Sühneakt verstümmelte Marius Gratidianus, ein Neffe des Marius, dagegen der Polyxena entsprechen (314 f.). Ein nicht unerhebliches Gegenargument gegen die letztgenannte Parallelität bildet die Formulierung, daß Marius Gratidianus für einen Ermordeten der Gegenpartei büßte forsan nolentibus umbris (Phars. II 175). Daß der Adressat selbst dieses Racheopfer vielleicht gar nicht wünschte, verbietet dem Leser geradezu, an Polyxena und Achill zu denken, da der Totenschatten des letzteren die Opferung der Polyxena in allen Versionen des Mythos ausdrücklich verlangte (daß Agamemnon in den senecanischen Troerinnen dieses Opfer als unrühmlich für den Adressaten darstellt, wie Ambühl 316 hervorhebt, ändert hieran nichts). Nachvollziehbarer erscheint dagegen die wieder eindeutig in den lateinischen Bereich führende Verbindung zwischen der Verstümmelung des Marius Gratidianus und derjenigen des Deiphobus in Aen. VI 494 ff. (319 f.), insbesondere wegen der Gemeinsamkeit des Motivs, daß die Verstümmelung die Erkennbarkeit des Geschändeten beseitigt.

Schwieriger zu verifizieren sind wiederum die recht abstrakten Gemeinsamkeiten zwischen der Sprecherhaltung des anonymen Greises und der euripideischen Hekabe (328 ff.): Beide sind in ihrem fortgerückten Alter „Vertreter der Vergangenheit“ bzw. „Gedächtnis ihrer Gemeinschaft“, reflektieren vorzugsweise auf gleichgeschlechtliche Opfer und zeichnen sich durch Lebensüberdruß aus (wobei in der Tat enge sprachliche Parallelen zu lateinischen Hekabe Passagen vorliegen, 329 ff.); außerdem bestatten beide einen nahen Verwandten unter widrigen Umständen (der lucanische Greis seinen Bruder, Hekabe ihre jüngste Tochter Polyxena)–Lassen diese Parallelen einen belesenen Lucan Rezipienten tatsächlich unweigerlich an Hekabes tragische Rheseis bei Euripides als Gesamtvorbild der Binnenerzählung des lucanischen Greises denken?

In der Interpretation von Caesars Troja Besuch in Phars. IX wird die weitgehende Ausblendung der Aeneis methodisch vorbereitet durch das Raisonnement, daß der historische Caesar diese ja im Gegensatz zu vorgängiger griechischer Literatur noch nicht gekannt haben kann (348 f.). Bemerkenswerterweise wird die von Caesar geäußerte Absicht, Troja wiederzuerrichten (Phars. IX 987 ff.), nicht wie in weiten Teilen der Forschung als unzulässiger und den Sprecher diskreditierender Wiederaufbauversuch gewertet, sondern als ernstgemeinte Ankündigung einer neronischen Troja und Romrestitution (365 f., in Analogie zu dem griechischen Epigramm AP IX 387), ganz entsprechend dem auktorialen Nero Enkomion in Phars. I–wobei freilich zu erklären bliebe, wieso gerade der Bösewicht Caesar diese dann im auktorialen Sinne aufrichtig panegyrisch zu verstehende Zukunftsprophezeiung aussprechen darf.

Im letzten Kapitel wendet sich Ambühl gegen die verbreitete moralisierend negative Deutung des ägyptischen Gastmahls in Phars. X (375) und bewertet das von Caesar mit aufrichtigem Ernst geführte Gespräch über die Nilquellen als eine kallimacheische „Alternative zum (Bürger )Kriegsepos“ (395), welche letztlich dazu führe, daß die ursprüngliche Bürgerkriegsschilderung nicht fortgeführt werde (396) — womit tendenziell eine Legitimierung des überlieferten Werkschlusses als vom Autor intendiert einherzugehen scheint, wie sie in der jüngeren Lucan Forschung häufiger zu finden ist.

Über die Richtigkeit einzelner Deutungen oder über die Stringenz einzelner behaupteter Parallelitäten zu griechischen Tragödien wird man kontrovers diskutieren dürfen—als Fazit scheint sich jedoch zu ergeben, daß Ambühl zwar öfters stupende Parallelen zwischen Lucans Erzählung und dem griechischen Mythos aufdeckt, jedoch kaum einmal sprachlich signifikante Entsprechungen zwischen Lucan und griechischer Literatur nachweisen kann (seltene Ausnahmen bilden die blutigen Furchen in Phars. IV 454 und Apoll. Rhod. Arg. III 1391 f., Ambühl 100 f., oder die Zurückführung von Cleonaei … terga leonis, Phars. IV 612, auf Kallimachos, Ambühl 140); insofern scheint die oben besprochene Gegenposition von Pichon keineswegs auf breiter Front widerlegt, und der Titel des Buches sollte vielleicht eher auf die Rezeption des griechischen Mythos als der griechischen Literatur verweisen. Zumindest wird man festhalten müssen, daß die Imitation griechischer Literatur bei Lucan, sofern man sie als grundsätzliches Phänomen gelten läßt, sich nach wesentlich anderen Prinzipien vollzieht als etwa die Vergil Imitation, die ja bekanntlich nicht spart an eindeutigen und dichtgestreuten verbalen Anklängen.

Sprachlich ist die Gestaltung der zu rezensierenden Studie nahezu fehlerfrei; Druckversehen lassen sich weit und breit nicht finden (vielleicht auf S. 4: „die [den] Stoff der griechischen Literatur … bilden“?), fast genausowenig Fehlzitate (nur auf S. 226 in Phars. VII 119 ist feriat statt feriar zu lesen); unglücklich die Übersetzung auf S. 269 von inhumato funere (Phars. VII 820) durch „mit ihrem unbestatteten Leichenbegängnis“ (statt „mit ihren unbestatteten Leichen“).