BMCR 2016.01.21

Symposion 2013: Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte (Cambridge MA, 26.-29. August 2013). Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte, 24

, , Symposion 2013: Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte (Cambridge MA, 26.-29. August 2013). Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte, 24. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2015. 511. ISBN 9783700177487. €64.00 (pb).

Table of Contents

Der vorliegende Band enthält die Akten des 19. Symposions der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte und damit 15 diesbezügliche Beiträge und eben so viele Co-Referate. Wie beim Symposion üblich, wählen die Beitragenden die Themen selbst. Deren Mehrzahl betrifft das griechische Recht und davon vor allem das athenische. Nur wenige Beiträge betreffen papyrologische Quellen. Lediglich K. Harter-Uibopuu, „Rechtshistorische Überlegungen zu Dio Chrysostomus’ Rede an die Rhodier“ (Rede 31; S. 439-469) steht mit Dion Chrysostomos (wohl * nach 40; † vor 120) zeitlich am Rande. Inhaltlich aber betrifft der Beitrag durchaus das klassische griechische Recht. Dio kritisiert in der Rede nämlich die Umbenennung und Wiederverwendung von Ehrenstatuen bei den Rhodiern. Harter-Uibopuu analysiert juristische Argumente, die Dio zur Unterstützung seiner Meinung heranzieht und macht deutlich, daß Dios Vorbringen vollkommen rhetorisch ist, selbst wenn er sich auf Übung und Recht beruft. Sie zeigt somit einmal mehr, daß Rechtsfragen berührende Reden vor allem als Zeugnisse der Rhetorik, und erst hernach als — im Einzelnen zu erörternde — Belege zur Rechtsordnung zu verstehen sind. Sachlichrechtlich berührt sie mancherlei, und D.F. Leâo’s Erwiderung (S. 471-479) vertieft und erweitert ihre Sicht.

Zwei Beiträge und die einschlägigen Stellungnahmen gelten dem griechischen Recht im allgemeinen. M. Dreher, „Die Rechte der Götter“ (S. 1-26) führt die Rolle der Götter als Stifter von Recht und von Rechten, als Rechtssubjekte und als Rechtsakteure vor Augen. Die Götter waren ja aus griechischer Sicht Reflexe des menschlichen Lebens und folglich in entsprechenden Rollen tätig. Auch den Griechen ist freilich bewußt gewesen, daß kein Gott auf die Erde gestiegen ist, um seine Rechte zu vertreten; menschliche Vertreter mußten in seinem Sinne handeln, sofern er nicht mittels eines durch Menschen herbeigeführten Orakelspruchs seinen Willen kundtat. Konflikte zwischen der göttlichen und der menschlichen Rechtsordnung ergeben sich nur selten, ebenso Rückführungen des menschlichen auf das göttliche Recht (S. 3). Von Interesse ist ganz allgemein Drehers Diskussion des Verhältnisses zwischen göttlichem und menschlichem Rechtshandeln. Ph. Scheibelreiter beschränkt sich in seinem Zusatz (S. 27-38) auf Geldverwahrung bei Artemis und Sklavenverkauf an Apollo. Dreher wie Scheibelreiter machen deutlich, ohne dies ausdrücklich zu sagen, daß das rechtliche Verhalten der Götter durchaus Rückschlüsse auf die menschliche Rechtsordnung zuläßt.

D.D. Phillips, „Hubris and the Unity of Greek Law“ (S. 75-97), fragt, wie A. Lanni in ihrer Stellungnahme (S. 99-102), ob es ein gemeingriechisches Recht gegeben habe. Nach dem Sichten von Belegen und methodischen Erörterungen zeigt Phillips anhand des Rechtsinstituts der hybris, daß es tatsächlich gemeingriechische Grundauffassungen gegeben hat. Zur hybris ließe sich noch auf O. Weggel, Hybrisklage und Persönlichkeitsschutz im geltenden Recht (Jur. Diss. Erlangen 1961), sowie auf das Recht des hellenistischen Ägypten und folglich auf H.-A. Rupprecht, „Straftaten und Rechtschutz nach den griechischen Papyri der ptolemäischen Zeit“, in: Symposion 1990 …, hrsg. von M. Gagarin…. (Köln u.a. 1991, S. 139-148), verweisen. Lanni’s Anmerkungen veranlassen die Frage, in wie weit es den derzeitigen Forschungsstand zu fördern oder zu hindern vermag, wenn man die Frage nach einem gemeingriechischen Recht einstweilen dem Erscheinen neuer Zeugnisse überläßt.

Fünf Beiträge betreffen spezifisch das Recht Athens. Privatrechtlich grundlegend interpretiert L. Gagliardi, „La legge sulla ὁμολογία e i vizi della volontà nei contratti in diritto ateniese“ (S. 177-214), das oft erörterte athenische Homologiegesetz dahingehend, daß in der Form einer Homologie geschlossene Rechtsgeschäfte rechtsgültig ( kyrios) seien. Strittig ist, ob Homologien durch schlichten Konsens zustande kamen oder ob ein dingliches Element — nach der von H. J. Wolff entwickelten „Theorie der Zweckverfügung“ — den Vertrag perfizierte. Gagliardi revidiert die — neun — Belege und die modernen Meinungen dazu eingehend. Er sieht in der — seines Erachtens in zwei Gesetzen geregelten — Homologie einen konsensualen Vertragsschluß, der Willensmängel ausschlösse und zudem zusichere, daß das Vertragsobjekt mängelfrei sei. R.W. Wallace revidiert akribisch und kritisch Gagliardis Quellen und Ausführungen und verwirft letztere im Wesentlichen (S. 215-221). W.s Ausführungen entsprechen meines Erachtens eher als die Gagliardis der mehr rhetorischen als rechtstechnischen Argumentation in den Gerichtsreden. Erwähnenswert ist, daß auch Wallace der Theorie der Zweckverfügung nicht folgt (S. 219).

Die Homologie war keine auf Athen beschränkte Erscheinung, und es ist schade, daß G. die Rolle der Homologie anderwärts nicht näher erörtert (vgl. dazu etwa H. von Soden, Untersuchungen zur Homologie in den griechischen Papyri Ägyptens bis Diokletian, Köln, Wien 1973). Der Terminus kyrios „(rechts)gültig“ findet sich nicht nur im Zusammenhang mit Homologien. Entsprechende Neugier weckt daher der Beitrag von A. Dimopoulou, „Ἄκυρον ἔστω. Legal Invalidity in Greek Inscriptions“ (S. 249-275). D. beginnt mit einer kurzen Wortfelduntersuchung und zeigt dabei, welchen Wert eine modernrechtlich fundierte Betrachtungsweise für die Analyse antiker Rechtsordnungen besitzt. In der Sache geht es um inschriftlich belegte Klauseln, welche die Nichtigkeit bestimmter rechtlicher Vorgehensweisen anordnen — gegen richterliche oder schiedsrichterliche Entscheidungen sowie rechtliche Regelungen und selbst „internationale“ Abmachungen (zeitlich auch unter römischer Oberherrschaft). Zu Athen (S. 265-273) gibt es lediglich literarisches Material, und dieses betrifft private Verträge. Dimopoulou verneint dazu, daß private Abmachungen gesetzliche Verbote zu überwinden vermochten. E.E. Cohen bereichert diesen Abschnitt durch Ausführungen zu den Begriffen κυρία ἡ συγγραφή und κυριώτερον εἶναι, unter anderem zum Seedarlehen (S. 277-286).

W. Riess, „The Athenian Legal System and its Public Aspects“ (S. 153-172), faßt sein Thema eher sozialgeschichtlich auf. Sein einleitender Hinweis auf Medienaspekte eines derzeit in Deutschland laufenden Strafprozesses („Zschäpe-Verfahren“) ließe sich durch Blicke auf das derzeitige Verhalten hinsichtlich Geheimhaltung und Datenabfluß im öffentlichen Bereich ergänzen: Der Blick in die Geschichte kann sehr anregend sein … In der Sache gibt Riess einen anschaulichen Überblick zum athenischen Rechtsverfahren und zur in jedem Stadium maßgeblichen Rolle der Öffentlichkeit, welche das Verfahren legitimiert hat. Zwei Momente lassen sich hier nicht erörtern: In welchem Maße sind die überlieferten Schilderungen dem Aufbauschen spektakulärer Fälle geschuldet, und wie hat man sich das Geschehen unter Beteiligung bloß „einfacher“ Leute vorzustellen? V. Bers (S. 173-176) erwähnt Letzteres kurz und fügt in seinem Co-Beitrag Gedanken über die Zuhörerschaft von Gerichtsverfahren bei.

M. Gagarin, „Rhetoric as a Source of Law in Athens“ (S. 131-144), beleuchtet die Tatsache, daß Rechtsquelle vor Gericht im wesentlichen der Vortrag der Parteien und der Grundsatz cura novit iura also völlig unbekannt gewesen ist. S.C. Todd (S. 145-151) ergänzt mit einigen Gedanken. M.J. Sundahl, „Secured Credit in Athens: Reopening the Debate“ (S. 223-238) beginnt mit einem selbst US-amerikanische Gegebenheiten umfassenden Überblick und mustert dann hypotheke und prasis epi lysei sowie die Meinungen von M. Finley und vor allem E. Harris dazu eingehend; er endet mit einer Interpretation der einschlägigen Vereinbarungen in der Rede Dem. 37. G. Thür (S. 239-247) erhebt als juristischer Gräzist erhebliche und überzeugende Einwendungen auf der Basis der griechischen Auffassung zum Eigentum.

Den „öffentlichen Bereich“ betreffen zwei Beiträge: M. Youni, „Councils of Elders and Aristocratic Government in the Cretan Poleis“ (S. 103-126), erörtert zum einen die kärglichen epigraphischen Belege zu Räten im archaischen und klassischen Kreta sowie damit zusammenhängende Fragestellungen; zum anderen untersucht sie die daraus resultierenden, auch soziologischen Erkenntnisse zu den Verwaltungen der kretischen poleis. 8 Abdrucke von Inschriften sind beigefügt. A. Maffi (S. 127-129) unterstreicht und relativiert mit feinen Bemerkungen. L. Migeotte, „L’aliénation de biens-fonds publics et sacrés dans les cités grecques aux périodes classique et hellénistique (S. 287-301) exegiert die (überarbeitete) Inschrift SEG XXXVIII 658 hinsichtlich der Rolle, die die in seinem Titel genannten Landkategorien bei ihrer Veräußerung spielten; M. Faraguna (S. 303-312) unterstreicht die gewonnenen Ergebnisse.

Fünf Beiträge betreffen rechtliche Fragen im engeren Sinn, vor allem Verfahrensrecht: A. Scafuro, „Decrees for Foreign Judges: Judging Conventions — or Epigraphic Habits?“ (S. 365-395) greift mit den „fremden“, also aus anderen poleis beigezogenen Richtern einen Aspekt eines Themas auf, welches einer umfassenden Darstellung anhand des gesamten heutigen Materials und vielfältiger Einzeluntersuchungen noch harrt. Scafuro geht es im besonderen um jene fremden Richter, die Streitigkeiten zwischen Einwohnern einer einzigen Stadt beilegten oder entschieden. Sie analysiert das sachlich oft wenig aussagekräftige Material in jeder Hinsicht sorgsam, arbeitet Formulare heraus und erörtert die erkennbaren Klauseln und deren Einzelheiten. E. Cantarella (S. 397-399) würdigt Vorgehensweise und Ergebnisse kurz, aber angemessen.

L. Pepe, „Abortion in Ancient Greece“ (S. 39-63), widmet sich in ihrem Beitrag, in dem sie reichlich Quellen und Sekundärliteratur heranzieht, zum einen der grundsätzlichen Auffassung zur Abtreibung in den griechischen poleis und zum anderen den Fragmenten einer Abtreibung betreffenden Rede des Lysias; schließlich fragt sie – ausgehend von jener fragmentarischen Rede – nach der Einstellung der Allgemeinheit zur Abtreibung. Mit Letzterem berührt P. einen wichtigen Punkt bei der Interpretation der ja vorrangig rhetorisch ausgerichteten athenischen Gerichtsreden. Im übrigen ist ihrer Schlußfolgerung beizupflichten, daß die Verfolgung einer Abtreibung beim kyrios lag. B. Legras (S. 65-74) lenkt in seinem Co-Beitrag die Aufmerksamkeit auf das hellenistische Ägypten und entspricht damit der Aufgabenstellung des Symposions angemessen. Allerdings trägt er nichts Rechtliches bei, denn nach Eingehen auf anderweitige Belege erörtert er lediglich die lex sacra SEG XXVII 1421 und den Privatbrief P. Oxy. IV 744; beide sind nicht als rechtliche Belege aufzufassen. Dem Gedanken an ägyptische Einflüsse auf die Rechtspraxis der griechisch-hellenistischen Welt begegnet das Bedenken, daß keine Übertragungswege vorstellbar sind.

E. Jakab, „Auctions and Ownership in Ptolemaic Egypt: A Social and Economic Approach“ (S. 313-337) wie auch der Co-Beitrag von J. Velissaropoulos-Karakostas (S. 339-346) knüpfen an einschlägige Papyri und Inschriften an (unter Abdruck); beide füllen völlig das gewählte Thema mit reichen Nachweisen und Erörterungen. N. Grotkamp, „The Ptolemaic Dikasterion “ (S. 347-360) widmet sich der Prozeßeröffnung vor den ptolemäischen dikasteria, ein Thema, das in H.J. Wolffs berühmtem „Justizwesen“ keine Rolle gespielt hat. Grotkamp erörtert profund Klageerhebung und dabei Beteiligte, Zahl der Richter und Wiederaufnahmen von Verfahren. J. Mélèze Modrzejewski (S. 361-364) steuert als ausgewiesener Kenner der Materie eine Reihe von (auch allgemeineren) Beobachtungen bei.

B. Palme, „Die bilinguen Prozessprotokolle und die Reform der Amtsjournale im spätantiken Ägypten“ (S. 401-427) betrifft den Verwaltungs- und Rechtsbereich, denn die Amtsjournale waren nicht auf ein Gebiet beschränkt. Palme beginnt mit einer Darstellung der — nur ansatzweise erhaltenen — römischen Prozeßprotokolle während der Prinzipatszeit und geht dann auf die wenigen (fünf) inschriftlich überlieferten Belege von außerhalb Ägyptens ein. Sein Hauptteil gilt, dem Titel entsprechend, den bilinguen Prozeßprotokollen der Zeit ab 298 n.Chr., deren Entwicklung er mit einer Vielzahl an Beobachtungen im Großen wie im Detail vor Augen führt. Sein Beitrag wird folglich auch zu einem Beleg für die Romanisierung Ägyptens. U. Yiftach-Firanko (S. 429-437) unterstreicht Palmes Ausführungen und erweitert den Rahmen mit eigenen Beobachtungen.

Der instruktive Sammelband endet mit einem untergliederten Stellenindex (S. 481-507). Die zumeist umfangreichen Bibliographien sind den Beiträgen jeweils nachgestellt. Ein angesichts der Vielfalt der Beiträge wünschenswertes Sachverzeichnis muß man in dieser Reihe leider durchgängig vermissen. Der mehrfach auftretende Begriff hybris unterstreicht beispielhaft den Mangel. Das die e-mail-Adressen nennende Autorenverzeichnis (S. 509-511) läßt erkennen, daß die vielerorts abgeschriebene antike Rechtsgeschichte sich noch immer gegen ihren Untergang wehrt. Hervorzuheben ist schließlich, daß der Band der sprachlichen Vielfalt entspricht, die die antike Geistesgeschichte (noch?) immer beherrscht.