BMCR 2015.09.10

Performance and Culture in Plato’s Laws

, Performance and Culture in Plato’s Laws. Cambridge; New York: Cambridge University Press, 2013. xi, 460. ISBN 9781107016873. $99.00.

Preview

Der Band verdankt sein Entstehen einer Tagung an der Stanford University im Jahre 2007 und vereint neben den Beiträgen eine Bibliographie (Seite 417-442), einen allgemeinen Namen- und Sachindex (443-451) sowie einen Index zu zitierten Stellen aus Platons Dialogen (453-460). Die Herausgeberin begründet in ihrer Einleitung (1-12) das Interesse an Platons Nomoi allgemein mit der geringen Aufmerksamkeit, die dem Werk im Vergleich mit anderen Dialogen geschenkt werde, und will zugleich durch die Wahl ihres Themas zur Aufhellung eines im Besonderen wenig beachteten Gesichtspunktes platonischer Philosophie beitragen, die ‚Konzeptualisierung kultureller Praxis‘ (nach Clifford Geertz, The interpretation of cultures, Princeton 1973, 89) im Begriff der platonischen paideía, das heißt genauer im Begriff der mousiké in den Nomoi. Diese ‚Konzeptualisierung‘ bedeute einen nicht geringen Unterschied, wenn nicht einen Gegensatz zum exklusiven, transzendenten Kultur- bzw. Glücksbegriff der Politeía. Daher böten die Nomoi, freilich vom Standpunkt eines ‚athenischen Aristokraten‘, einen soziologisch umfassenderen, inhaltsreicheren und historisch differenzierteren Kulturbegriff, der sonst keine Parallele in Platons Werk habe. Diesen in den Nomoi ‚kaleidoskopisch‘ präsentierten Begriff sollen die Beiträge über die Grenzen bloß philologischer oder philosophischer Disziplinen hinaus mit Blick auf ‚Sozialanthropologie, Komparatistik und Philosophie der Kunst‘ beleuchten. Wohl um die Buntheit der Perspektiven hervorzuheben, sind die Beiträge in 14 Kapitel zu vier Teilen geordnet (siehe die Inhaltsangabe am Ende dieser Besprechung).

Zwei Kapitel nehmen das Nachleben des, wenn man so sagen darf, Kunstbegriffs der Nomoi in den Blick (Kapitel 14-15). Kapitel 15 widmet sich einer Gegenüberstellung der Beurteilungskriterien für die Musik bei Platon ( Nomoi 666 ff.) und Aristoxenos (Ps-Plutarch, De musica, 1142b-1144f). Der philologisch ermittelte Unterschied der Behandlung der Frage durch beide Autoren besteht in der unterschiedlichen Auffassung des Begriffs ἦθος: während Platon gemäß seinem Mimesis -Begriff der Politeia unter dem ἦθος das versteht, was ein Musikstück vom Nachgeahmten, dem ethisch wertvollen Denken, Reden und Handeln, her erhält und danach auch als ‚gut‘ und ‚schön‘ beurteilt wird, verwende Aristoxenos ἦθος offenbar nur im rein technischen Sinne als musikalisches Strukturmerkmal, er faßt den Begriff rein unter musikästhetischem, nicht ethischem Gesichtspunkt. Ob daraus zu folgern ist, daß die Bemerkung in 1142d, die Handhabung der Musik verlange philosophisch-pädagogische Anleitung, als eine platonische Interpolation angesehen werden muß (siehe 1136b-1137a), und folglich, ob sich durch die Zurückweisung des Mimesis -Begriffs bei Aristoxenos Platons ‚idiosynkratische‘ Sonderstellung in diesen Fragen erweist, das zu beurteilen bleibt dem Leser überlassen. In Kapitel 14 werden Bezüge auf die Nomoi bei Kallimachos aufgefunden. Wenn die Fragmente, über das Epigramm 23 Pfeiffer hinaus, auf kritische Zurückweisung auch der platonischen Kunstauffassung verweisen sollten (namentlich werden angeführt der Prolog der Aitia : das ἓν ἄεισμα διηνεκές (v. 3) beziehe sich auf Nomoi 656-658, das heißt auf die lobende Erwähnung der bereits ‚Jahrtausende bestehenden‘ Kulturpolitik in Ägypten, sowie die Fragmente 43 und 178 Pfeiffer), so wäre zumindest bei den letztgenannten zu fragen, ob Kallimachos‘ Pointe in der Anspielung auf Platons ersten Sizilien-Aufenthalt (Diogenes Laertios III 18-20) glückt, wenn tatsächlich auf Platons Befreiung durch den Loskauf eines ‚Vorfahren des Kallimachos‘, den bei Diogenes genannten Annikeris von Kyrene, angespielt würde.

Auf Nomoi 656-657 richten sich im Besonderen auch die ersten beiden Kapitel des Bandes. Kapitel 3 beschäftigt sich mit historischen Inkonsistenzen in Platons Ägyptenbild. Doch wie ist (Kapitel 2) das Lob Ägyptens zu verstehen, wenn es nicht auf die konservative Restauration einer uniform-traditionellen griechischen Nationalmusik in Magnesia zielt? Denn daß die griechische Musik selbst nahezu nichts an originaler Homogenität, vielmehr überwiegend nichtgriechische Ursprünge aufweise, wird anhand historischer Belege dokumentiert; ferner erweist sich in den Nomoi selbst das entwickelte ‚Kunsterziehungsprogramm‘ durch seine Distinktion vieler musikalischer Formen und Institutionen eben nicht nur als uniform-traditionell (heißt hier: autoritär durch die Vorschrift, musikalische Formen nicht ununterschieden miteinander zu vermischen), sondern aufgrund seiner „geographischen und kulturellen Heterogenität und Hybridität“ als „besonders abwechslungsreich und multikulturell“ (45). Allerdings scheint doch, kurz gesagt, dieser Gegensatz vor dem Hintergrund des Kapitels 15 nicht geradezu widersprüchlich oder paradox (siehe 44 und Anmerkung 11, Seite 55), sondern vielmehr konsequent: besteht die Identität einer platonischen Gemeinschaft in der Musik und deren ethnischen Individualität (was ist mit ‚musikalisch gut‘ auf Seite 49 und mit ‚Musik‘ bzw. ‚Moraltraining‘ auf Seite 50 gemeint?) oder besteht sie nicht vielmehr in einem Denken, Fühlen, Handeln vieler Einzelner, das, von der musikalischen Kultur gefördert, eines werden kann entlang der Frage ( Nomoi 715e ff.), ob etwas und, wenn ja, was gemeinschaftlich verwirklicht werden sollte?1

Der zweite Teil des Bandes versammelt 5 Beiträge, in denen Antworten auf die Fragen, die sich vor dem skizzierten Hintergrund stellen, gesucht werden. Welche Bedeutung hat (der) ‚Chor‘ bzw. χορεία in den Nomoi und welche Rolle wird dem zugewiesen? Da außer Frage steht, daß der Chor ein wichtiges Moment der Formung der Bildungsgemeinschaft ausmacht, wird sein Begriff unter dieser Voraussetzung in den Kapiteln 4-8 näher beleuchtet. Nur einige Aspekte können hier herausgegriffen werden. In Kapitel 4 wird der Schluß gezogen, daß der Athener in seinem „Monopol“ auf die Gesprächsführung mit seinem ‚Musiktraining‘ den ‚idealen‘ Gesamtkörper einer ‚chorischen Bürgerordnung‘ (93, 104) herstellt und damit die Perspektive einer utopischen „anthropopoiesis“ und „normativen Konstruktion des Menschen“ entwirft (105), die das Athen tragischer Dichtung und sophistischer Bildung, aber auch die Erziehungstraditionen melischer und sympotischer Initiations-Poesie überwinden wolle. Mit seinem ‚befremdlichen Lob der Keuschheit‘ (102) entferne sich der Athener (inwiefern?) von der Verteidigung des Eros durch Agathon, schließlich von der ‚Eros-Konzeption‘ der Diotima in Platons Symposion (105). Kapitel 5 befaßt sich mit ‚Platons Besessenheit vom symposion und Trinkstilen‘ in Nomoi I-II und kommt zu dem Ergebnis, daß Platon durch seine Kritik am spartanischen und kretischen syssition eine Neuordnung für einen ‚Idealstaat‘ anstrebe. Der Gedanke, daß das symposion der Nomoi prägnant gemeint sein könne, wird nicht weiter verfolgt. Die schöne, und vielleicht zum Zentrum der Nomoi hinführende, Studie, die das Kapitel 6 bildet, setzt das berühmte Marionettengleichnis ( Nomoi 644d-645c und 803c-804c) in sein Verhältnis zum subtilen, auch aus der dichterischen Tradition gespeisten musischen Bildungsgedanken der Nomoi und kann zeigen, daß die χορεία keine Metapher, sondern ein Symbol für menschliches Gemeinschaftsdenken und dessen politische, seelische, kosmische Dimensionen darstellt, wodurch nicht zuletzt die wichtige Vermittlerrolle des Eros, der das musische Vereinigungswerk des Apollon in Bewegung hält, für die platonische χορεία gleichsam gegen Kapitel 4 gerettet wird. Ein ganz anderes Bild ergibt sich (Kapitel 7), wenn religiöses Denken als soziologisches Denken verstanden und Platons χορεία mit Hilfe Émile Durkheims und Marcel Mauss‘ so als manipulatives ‚soziales Instrument‘ ausgelegt wird, das zur ‚Integration individueller und kollektiver Belange‘ und, vergeblich, zur Vorbeugung ‚sozialen Wandels‘ diene. Es ist, in einer eigenwilligen Dehnung seines Begriffs, der ῥυθμός, den Platon als ‚einer der ersten Somatologen‘ für die Stabilisierung moralischer Verhältnisse im „‘bodily social‘“ fixiere. Andere Momente dieses Bildungsmittels kommen hier nicht in Betracht. Ein letztes Kapitel (8) über das ‚Konzept der χορεία‘ im besonderen versucht, gewissermaßen im Anschluß an Kapitel 6, zu zeigen, daß Platon sie ‚deästhetisiere‘, indem er sie in einer endgültigen Antwort auf die Kunstkritik der Politeia (und anders als Aristoteles, Politika 7-8) vom ästhetischen Objekt zum (nicht- ästhetischen?) Subjekt erhebe; da die χορεία Nachahmung sei, behandle der Athener Lust und Freude an ihr (und nur an ihr) nicht ‚ästhetisch-objektiv‘ von seiten der Zuschauer und Zuhörer, sondern von seiten der Aufführenden ( Nomoi 655d-656a); schließlich wird die χορεία als behördlich überwachter, ‚selbst-reflexiver‘ Chorgesang der Gemeinschaft bestimmt, woraus sich (vgl. besonders etwa 665c) die nicht uninteressante Frage ergäbe, inwiefern diese χορεία nicht eher (und umfassender) den ‚Staatsakt‘ insgesamt umgreift als nur eine Frage der Kunst betrifft.

Teil drei des Buches schließlich richtet in fünf Artikeln die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung musikalisch-literarischer Genera in den Nomoi. Auch hier seien nur einige Gesichtspunkte herausgegriffen. So lassen sich die Nomoi selbst als ein ‚Genre-Mix‘ ansehen (Kapitel 9), dessen zentraler Text ein Gesetzbuch sei, dessen verschriftlichte Wahrheit Platon, anders als im Phaidros, als für alle Zeiten gültig und unveränderbar ansehe, da es von einem ‚idealen‘, mit göttlichem νοῦς ausgestatteten Gesetzgeber stamme; die Frage ließe sich weiter verfolgen, in welchem Sinne dieses (menschliche!) Gesetzbuch für die ‚Implantierung‘ in ‚unphilosophische Seelen‘ verfaßt wurde, die aus sich selbst gemäß dem Kronos-Mythos ‚göttlichem nûs ‘ Folge leisten lernen sollen (713a-714c). Viele schöne Beobachtungen enthält in eben diesem Zusammenhang das Kapitel 10, da es den Dialog (vgl. Nomoi 811c-d) selbst als eine ‚prose performance‘, χορεία als Bildung (672e), „performance“ als musischen Lebensvollzug der Einzelnen in einer Gemeinschaft begreift, die, zusammengeführt und zusammengehalten durch die ‚Gesetzesdichtung‘, auf zugemessener Verteilung von Preiswürdigem und Tadelnswertem (repräsentiert etwa in Theognis, Anakreon und Xenophanes versus Tyrtaios, Seite 268 f.) gründet mit dem Ziel, im ‚Wettstreit um Vervollkommnung‘ Freiheit und Freundschaft mit sich selbst in ihr zu entfalten (vgl. besonders Nomoi 701d7-9, 874e7-875d6, Politeia 461e5-466d5, der „ethische Kern“ platonischer Politik). Kapitel 11 und 12 behandeln die Bezüge zur Tragödiendichtung und Homer in den Nomoi unter der Leitlinie rhetorischer Benutzung und ‚Marginalisierung‘ und kommen zum Teil zu verschiedenen Ergebnissen. Daß die „musical culture“ in die „political culture“ integriert ist und daher die Beurteilung ihrer Gattungen Beachtung verdient, betont noch einmal mit Blick auf Nomoi 658c-e das Kapitel 13. So behandle Platon (vor dem nicht näher begründeten Hintergrund seiner „Antipathie gegenüber fremden Ideen“) die „performance“ der verschiedenen, teils ‚inkompatiblen‘ musischen Genres im Sinne symbolischer Synekdoché als „Projektionen“ der Polis beziehungsweise suche die „performance“ der Genres gleichsam auf der ‚Bühne seiner ethisch-politischen Prinzipien‘ institutionell, ‚soziopolitisch‘ in Kraft zu setzen. Gewonnen wird dieses Interpretament (vgl. Seite 343-345) nicht zuletzt durch Platons ‚Analogie der Polis und Seele‘.2 Wichtig ist also, die Behandlung gerade der Gattungen der Klagedichtung, Komödie, jambischen Invektive als Schulen menschlichen Denkens und Fühlens (was verdient Trauer? was ist lächerlich oder heischt Spott?) zu erkennen, die das gegenseitige Verhalten der Mitglieder jeder Gemeinschaft in Tat und Rede zueinander maßgeblich bestimmen (358), wie zutreffend hervorgehoben wird.

Dieser Sammelband zu den platonischen Nomoi unterstreicht zurecht ohne Einschränkung die Bedeutung, die sie für die Erkundung des politischen Denkens Platons haben, neben der Politeia, deren Anteil, siehe zur Einleitung in den Band oben, leider kaum berücksichtigt wird.3 Auch wenn in einigen Abschnitten das historisch bedingte Vorurteil über Platons doktrinär-antidemokratischen Standpunkt nicht zu einer sachaufschließenden Bewertung seiner Theorie menschlicher Bildung und Gemeinschaft führt und, was angesichts des weiten Spektrums der Nomoi nicht verwundert, mancher Zusammenhang, wie etwa der anagogische und theologische Grundzug des Werks, nicht durchgängig gewürdigt und ganz ausgeleuchtet werden kann, hebt die Sammlung doch an ihrem Beispiel das fraglos aktuelle Gewicht, das Platons betrachtenden Gesprächen über die menschlichen Dinge (gemäß Nomoi 716c4-d1 und Politeia 500c9-d1) eigen ist, dankenswerter Weise heraus und schlägt durchsichtige Interpretationswege vor, auf denen die Grundlagen menschlicher Kultur und deren Erhaltung, wie Platon sie aufgearbeitet hat (Plotinos VI 9,4,11-16), verstanden werden können.

Notes

1. Zu dieser κοινὴ μαθηματικὴ ἐπιστήμη Platons siehe A. Schmitt, Modernity and Plato. Two Paradigms of Rationality, Rochester (NY) 2012 (deutsch Stuttgart-Weimar 2003).

2. Dazu siehe S. Büttner Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen u.a. 2000, 152 f., 203-206, 229-232, 240-244; H. Westermann, Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten. Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen, Berlin u.a. 2002, 52-57; W. Brinker, Platons Ethik und Psychologie. Philologische Untersuchungen über thymetisches Denken und Handeln in den platonischen Dialogen, Frankfurt u.a. 2008, 41 ff., hier 43, Anmerkung 102.

3. Dazu Proklos In R. I 7,5-14,4. Siehe dagegen bereits die (in der Bibliographie aufgeführte) bekannte Histoire de l’éducation dans l’antiquité H.-I. Marrous (zuerst Paris 1948), und darin besonders das Platon gewidmete sechste Kapitel des ersten Teils, das, scheint mir, weitsichtig in die platonische Analyse musisch-mathematischer Kultur und ihrer Begründung immer noch einführen kann.