Der zu besprechende Band ist der dritte eines auf inzwischen vier Bände angelegten Companion zu Linear B; in den beiden vorausgegangenen Bänden wurde in einführend knappen, von verschiedenen Autoren verfassten Kapiteln auf die überlieferten Texte und deren Aussagekraft im Hinblick auf die mykenische Kultur eingegangen.
Dagegen enthält der dritte Band nur zwei Kapitel (17, S. 1-186 und 18, S. 187-233), wobei das von J. L. Melena – „Mycenaean writing“ überschrieben – Form und Umfang eines dem gegenwärtigen Forschungsstand entsprechenden, aber dennoch einführenden Berichts bei weitem überschreitet: Fast lexikalisch aufbereitet erhält der Leser eine Fülle von einzelnen, allerdings teilweise auch hypothetischen Informationen, verbunden mit recht breit angelegten und dabei Wiederholungen in Kauf nehmenden Ausführungen.
Zunächst wird auf die Grundlagen zur Linear B-Schrift eingegangen: Bemerkungen zur Geschichte der Linear B-Schrift folgen Listen zu den Silben- und Wortzeichen sowie Angaben zu den Schreibregeln.
Im anschließenden Abschnitt werden die in der einleitenden Übersicht genannten Aspekte nun stark ins Detail gehend abgehandelt: Es wird eine Ordnung der Silbenzeichen angestrebt, wobei mit einer sehr eingehenden Erörterung von zwei als charakteristisch angesehenen Reihen von Silbenzeichen („q-series“, „z-series“) begonnen wird.
Es folgt die nicht minder detaillierte Behandlung der weiteren Silbenzeichen, die weniger häufig vorkommen, wobei allerdings auch die von Zufälligkeiten bestimmte Überlieferungslage eine Rolle spielen könnte. Darüber hinaus sind einige auf den Autor zurückgehende und bisher nicht allgemein anerkannte Transliterationsvorschläge einbezogen.
Nicht weniger ausführliche Darlegungen gelten Rechtschreibregeln für die Zeichen der mykenischen Silbenschrift.
Ein umfangreicher Abschnitt ist schließlich den Zeichen mit Wortbedeutung gewidmet. Nach einleitenden Bemerkungen zu den Arten von Logogrammen folgt eine nach Deutungen gegliederte Zusammenstellung der Linear B-Logogramme, wobei die Zeichen für Zahlen, Maße und Gewichte einbezogen sind. Auch in diesem Fall sind Transliterationen aufgenommen, denen eine allgemeine Bestätigung bisher fehlt. Allzu geringe Beachtung wird der Tatsache geschenkt, dass es auch im Mykenischen bei der Entwicklung der Schrift entsprechender gestalterischer Fähigkeiten bedurfte, vor allem im Hinblick auf die ideographischen Logogramme. Über welches künstlerische Können die Schreiber verfügten, deuten die abgebildeten Zeichnungen auf den Rückseiten einiger weniger Schrifttäfelchen an, die zuletzt als zwar einen gewissen gestalterischen Ehrgeiz offenbarende, aber lediglich als dem Zeitvertreib dienende Kritzeleien bewertet wurden.
Abgeschlossen wird das Kapitel durch eine Appendix zur Schreibung von entlabialisierten Labiovelaren im Mykenischen, ein Glossar, eine Liste der Abkürzungen und Sigla, ein Abbildungsverzeichnis, dem allerdings weiterführende Angaben bzw. Nachweise fehlen, sowie einem Verzeichnis der verwendeten Literatur.
Gewiss nützlich ist, dass die Aussagen von zahlreichen, sehr detailliert gegebenen Belegen gestützt werden; andererseits ist dies der bei einem Companion zu fordernden Übersichtlichkeit und Lesbarkeit weniger dienlich.
Das zweite Kapitel des Bandes ist der Frage nach der Beziehung zwischen der homerischen Dichtung und der ägäischen Spätbronzezeit gewidmet: Bieten die homerischen Epen Hinweise zum Gebrauch von Linear B? Lassen sich Erkenntnisse für die Welt der ägäischen Spätbronzezeit gewinnen? Für den Verfasser J. Bennet bildet dabei ein die historischen Interpretationen besonders berücksichtigender Überblick über die Geschichte der von Widersprüchen bestimmten Homerforschung den Ausgangspunkt.
Im Folgenden werden die Auswirkungen auf die Beurteilung der homerischen Epen als historische Quelle beschrieben, die die Entzifferung von Linear B bzw. die Feststellung hatte, dass es sich bei der hinter dieser Schrift stehenden Sprache um Griechisch handelt. Was die Beziehung zwischen homerischer Dichtung und der Spätbronzezeit angeht, wird als Ergebnis festgehalten, dass die Epen im späten 8. Jahrhundert v. Chr. oder etwas später entstanden sind und nicht in der Spätbronzezeit und dass auf die Bronzezeit deutende Angaben und Hinweise in den Epen eher mit mündlicher als mit auf die ägäische Bronzezeit zurückgehender schriftlicher Überlieferung zu verbinden seien.
Dass es eine bestimmte Art mündlicher dichterischer Vorträge in der ägäischen Spätbronzezeit bereits gegeben habe, wird anschließend an Hand von sprachlichen Erscheinungen in Linear B-Texten und in den homerischen Epen dargelegt sowie aus bronzezeitlichen archäologischen Zeugnissen – Darstellungen von Leierspielern und Bildern erzählenden Charakters – erschlossen. Es wird im Hinblick auf das Zeugnis von Linear B für die Entwicklungsgeschichte der homerischen Epen und auf die mündliche dichterische Vortragspraxis in der Spätbronzezeit der doch wohl etwas zu weitgehende Schluss gezogen, dass mündlicher Vortrag und Schreiben in der ägäischen späten Bronzezeit Gegensätze gewesen seien. Außer acht gelassen wird dabei der mögliche bzw. wahrscheinliche Verlust nicht dauerhafter Schriftträger: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Fähigkeit des Schreibens auch in der ägäischen Spätbronzezeit der Niederschrift literarischen Schaffens gedient haben könnte.
Geschlossen wird das Kapitel mit einigen weitergehenden, größtenteils aber eher auf Annahmen beruhenden Schlussfolgerungen zu den frühesten griechischen Schriftzeugnissen, den Linear B-Texten und den homerischen Epen und deren Verhältnis zueinander, d. h. zur homerischen Dichtung und deren geschichtlichem – früheisenzeitlichen wie spätbronzezeitlichen – Hintergrund, weiterhin zur Frage des mündlichen dichterischen Vortrags und zu schriftlich festgehaltener Literatur im Hinblick auf mutmaßliche Vorstellungen der spätbronzezeitlichen ägäischen Oberschicht sowie zur Epik der endenden Bronzezeit.
Auch diesem Kapitel ist ein Verzeichnis der berücksichtigten Literatur beigefügt.
Mehrere ausführliche, von Y. Duhoux erstellte Indizes (S. 235-292), in denen sich auch Verweise auf die Indizes der beiden vorausgehenden Bände finden, ergänzen die beiden Kapitel.
Trotz den kritischen Anmerkungen sind die beiden Kapitel wesentliche, den Stand der Linear B-Forschung auf wichtigen Teilgebieten wiedergebende bzw. Erkenntnisse zur mykenischen Kultur beschreibende Arbeiten, die hohen Ansprüchen genügen.