Die Schrift De humoribus (Über die Säfte) nimmt eine besondere Stellung im Corpus Hippocraticum ein. Zwischen ausgefeilten theoretischen Abhandlungen, Praxisliteratur, Lehrschriften und Behandlungsberichten zeigt sich in diesem Text eine zusammenhangslose Verknüpfung von Begriffen und Notizen, die für die Erfassung und Interpretation der Schrift seit jeher zahlreiche Fragen aufwarf. Aus diesem Umstand resultiert darüber hinaus, dass der Text im Verlauf seiner Überlieferung oftmals verändert und ergänzt wurde und uns heute in verschiedenen, stark voneinander abweichenden Fassungen vorliegt.
Die kritische Ausgabe des Textes, die Oliver Overwien im Band I 3,1 des CMG vorlegt, stellt vor diesem Hintergrund für die Hippokrates-Forschung eine lang ersehnte Publikation dar, die den schwierigen Text erstmals nach modernen wissenschaftlichen Kriterien ediert und auf diese Weise eine weiterführende Erforschung der Säfteschrift ermöglicht.
Dem eigentlichen Text und seiner Übersetzung stellt der Herausgeber eine umfangreiche Einleitung voran, die sich mit der Überlieferung sowie inhaltlichen und formalen Fragen befasst. Den weitaus größten Raum nimmt dabei eine Besprechung der Textquellen ein, mit der Overwien seinen Band beginnen lässt. Dieser unvermittelte Einstieg wäre vielleicht für manch einen Leser, der mit der komplexen Schrift wenig vertraut ist, durch eine kurze Charakterisierung der Form und des Inhalts der Schrift erleichtert worden. So beginnt die Darstellung jedoch direkt mit der schwierigen Überlieferungslage des Textes, die sich in 23 griechischen Handschriften (10.–16. Jahrhundert) und einer arabischen Übersetzung (9. Jahrhundert) manifestiert. Overwien konzentriert sich zunächst auf die beiden Hauptzeugen, Marcianus Gr. 269 und Parisinus Gr. 2253, die sich bekanntlich auf einen gemeinsamen Archetyp zurückführen lassen, an dessen Text die Kopisten jedoch zahlreiche Veränderungen und Ergänzungen vorgenommen haben. Anschließend werden die recentiores der Marcianustradition besprochen, deren Erforschung im Falle des behandelten Traktats durch dessen Kürze besonders erschwert ist. Der Herausgeber ordnet diese Handschriften zwei unterschiedlichen Familien zu und ergründet eingehend ihre Datierung, Bezüge und Unterschiede. Dieser Abschnitt zeigt sich an einigen Stellen recht spekulativ, was Overwien jedoch selbst einräumt und auf die problematische Überlieferungssituation zurückführt.
Im Anschluss wird die arabische Übersetzung in den Blick genommen, die, aus dem 9. Jahrhundert stammend, vornehmlich in einem Manuskript aus dem 13. Jahrhundert überliefert ist. Die Grundlage für diese Übersetzung bilden die Lemmata des Galenkommentars, die dem Übersetzer vermutlich in einer syrischen Fassung vorlagen. Overwien erkennt der arabischen Übersetzung eine hohe Qualität und Originaltreue zu, ergründet darüber hinaus aber Ursachen verschiedener Art für Abweichungen der arabischen Übertragung vom vorliegenden Original.
Das gesamte Quellenkapitel zeichnet sich dadurch aus, dass der Herausgeber über die gründliche Inhalts- und Formanalyse hinaus auch eine Bewertung der verschiedenen Fassungen vornimmt, die nachfolgend als eine wertvolle Grundlage für seine Edition dient. Die angezeigten Besonderheiten werden durch zahlreiche Textbeispiele veranschaulicht.
Über diese genannten Textzeugen hinaus berücksichtigt Overwien auch die Nebenüberlieferung, die sich jedoch abgesehen vom Galen-Kommentar als nicht sehr ergiebig erweist. Dennoch vermögen einzelne Einträge aus dem Hippokratesglossar des Erotian zu einem verbesserten Textverständnis beizutragen, zusätzlich helfen Zitate bei Aretaios von Kappadokien sowie weitere Erwähnungen im Werk Galens bei der Textrekonstruktion. Erst nach der Betrachtung der Nebenüberlieferung folgen Stemmata zur handschriftlichen Überlieferung, die auch schon an früherer Stelle hilfreich gewesen wären.
Das gewaltige Unterkapitel zu den Textquellen schließt mit einer chronologischen Zusammenstellung von Editionen und Übersetzungen der Schrift De humoribus. Die Druckausgaben werden ebenfalls eingehend beschrieben und bewertet, wobei auch die von ihnen verwendeten Quellen berücksichtigt werden, soweit diese ergründet werden können. Die Hinweise auf die Vorlagen zeigt Overwien an zahlreichen Beispielen auf. Durch die Darlegung der Mängel der früheren Texteditionen erschließt sich dem Leser der große Wert der vorliegenden Ausgabe, da der Herausgeber überzeugend belegt, dass der Umgang mit den Quellen zuvor oftmals unsystematisch und darüber hinaus die arabische Übersetzung den Editoren (mit Ausnahme der Teilausgabe Demonts) nicht bekannt war.
Die Erörterung der literarischen Verhältnisse der Schrift, die das zweite Unterkapitel der Einleitung bildet, fällt vergleichsweise knapp aus. Overwien zeigt darin die großen Schwierigkeiten auf, die seit jeher bei der Einordnung und Interpretation der Schrift bestanden, und kommt hinsichtlich der Gattung zu dem plausiblen Ergebnis, dass es sich bei De humoribus um eine Notizsammlung handelt, die nicht zum Gebrauch durch andere Leser bestimmt war. Die offensichtliche Zusammenhangslosigkeit der Abschnitte wird anhand der Verwendung von Partikeln aufgezeigt. Mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht der Herausgeber die assoziative Arbeitstechnik des Verfassers. Die Annahme, dass auf diese Weise sehr unterschiedliche Quellen kompiliert wurden, wird überzeugend verifiziert. Die Existenz von Parallelversionen einzelner Abschnitte (insb. in den Epidemien) begründet Overwien durch auf Tafeln konservierte medizinische Textarchive.
Die Schrift wird als zweigeteilt betrachtet, da zunächst Krankheiten in Verbindung mit dem Körper und der Seele des Menschen, im zweiten Teil hingegen Krankheiten im Zusammenspiel des Menschen mit seiner äußeren Umwelt behandelt werden. Diese Einteilung wirkt insbesondere für den ersten Abschnitt etwas willkürlich, da das Themenspektrum innerhalb des genannten Gebiets sehr weit ausfällt. Dass diese Notizensammlung eine Vorarbeit für eine andere Abhandlung gewesen ist, wie Overwien es annimmt, ist plausibel, lässt sich jedoch sondern auch anhand der Struktur erweisen. Weniger überzeugend ist leider die Argumentation im Abschnitt zu „Titel und Thema“, die den Titel der Schrift lediglich darauf zurückführt, dass der Verfasser ein Humoralpathologe sei und das Säfteverhältnis im Körper der Menschen, das auch von äußeren Faktoren bestimmt wird, als Basis für Gesundheit und Krankheit anführe. Dieser Argumentation zufolge müssten tatsächlich sehr viele hippokratische Schriften den Titel De humoribus tragen. Dass in dem behandelten Werk die Körpersäfte vielleicht dennoch stärker im Fokus stehen als in anderen Schriften, wäre daher in einer eigenständigen, ausführlicheren Betrachtung darzulegen.
Bezüge zu den möglicherweise sogar älteren Schriften De aeribus und den Aphorismen übergeht der Herausgeber sehr schnell, konzentriert sich stattdessen auf die Epidemien II, IV und VI und erläutert die Parallelen auf mehreren Ebenen. Schließlich führt er diese Schriften auf einen gemeinsamen medizinischen Kreis zurück, wenngleich er die Verfasserfrage bewusst offen lässt.
Im Vergleich zu dem so eingehend erörterten Quellenkapitel bleibt der Abschnitt zu den literarischen Verhältnissen der Schrift etwas hinter den Erwartungen zurück. Es zeigt sich hier der klar sprachlich ausgerichtete Charakter der Edition. Dennoch greift Overwien auch die wesentlichen Fragen der inhaltlichen Erforschung der Säfteschrift auf, für seine neuartigen Ansätze der Beantwortung fällt die Argumentation jedoch zu knapp aus.
Das „Nachleben in Antike und Mittelalter“ lässt Overwien bei Erotian beginnen und verfolgt die Rezeption der Schrift u.a. über Galen, Oreibasios, die Alexandrinische Schule, die Übersetzergruppe um Ḥunayn ibn Isḥāq sowie weitere Werke in arabischer Sprache bis in die Renaissance. Dieses Kapitel zeichnet sich durch eine kurze Charakterisierung der erwähnten Autoren und Schriften aus und verschafft dem Leser einen nützlichen Überblick über die Wahrnehmung und weitere Bearbeitung der Säfteschrift. Der Abschnitt enthält jedoch viele Wiederholungen der Erläuterungen zur Überlieferungsgeschichte, so dass durch eine Zusammenführung dieser Partien eine konzisere Darstellung hätte erreicht werden können.
Das Kapitel „Zu Dialekt und Orthographie in A und M“ leitet zu den Grundlagen der Edition über und erläutert vor allem den Umgang mit dialektalen Besonderheiten der Hauptzeugen. Die „Prinzipien der Edition“ schließlich zeigen als letztes Kapitel der Einleitung erneut die Besonderheiten und Herausforderungen des hippokratischen Textes auf und knüpfen an die Zusammenstellung der bislang erschienenen Ausgaben an, indem sie die große Bedeutung der arabischen Übersetzung für die kritische Edition herausstellen. Deren Einbeziehung in die Textrekonstruktion macht tatsächlich die vorliegende Ausgabe so wertvoll für die künftige Hippokrates-Forschung. Anhand mehrerer Szenarien der Überlieferungslage führt Overwien dem Leser vor Augen, aufgrund welcher Grundsätze er seine editorischen Entscheidungen jeweils getroffen hat. Darüber hinaus erläutert er den Aufbau der Apparate und die Prinzipien seiner Übersetzung.
Sodann folgt gewissermaßen das Herzstück der hier besprochenen Publikation, bestehend aus dem griechischen Text, einer Übersetzung und einem ausführlichen Kommentar. Diese zeichnen sich durch eine äußerst gewissenhafte Umsetzung der zuvor dargelegten Grundsätze aus. Der besseren Verständlichkeit halber entschied sich der Herausgeber für eine Anreicherung der allzu knappen Satzstrukturen durch Ergänzungen in der deutschen Übersetzung, die mit Hilfe von Klammern als solche ausgewiesen werden. Das typografische Bild wirkt auf diese Weise zwar sehr diffus, jedoch lässt sich der Inhalt durch den Leser tatsächlich leichter erfassen. Der Kommentar liefert in erster Linie sprachliche Erläuterungen, geht jedoch auch auf inhaltliche Aspekte ein, durch die Overwien einen Rückschluss auf die Säfte als Hauptthema der Schrift zu erzielen sucht. Dies gelingt in vielen Fällen, dennoch erweist sich eine systematische Analyse der Schrift als Ganzes, für die durch diese wertvolle Ausgabe nun das Fundament gelegt ist, immer noch als Desiderat.
Als Appendix schließt sich die arabische Übersetzung mit deutscher Übertragung und Anmerkungen an. Diese wurde bereits in der Einleitung (S. 49f.) angekündigt. Dort zeigte Overwien auf, dass durch Heranziehung der Parallelüberlieferung und sämtlicher Lesarten der griechischen Handschriften der arabische Text der Edition von J. N. Mattock (1971) verbessert werden konnte.
Der Textausgabe ist ein Literaturverzeichnis beigefügt, das der Einleitung vorangestellt ist; vier Indices am Schluss des Bandes verhelfen dem Leser zum Auffinden einzelner Textstellen und verwendeter Quellen.
Overwiens Publikation vereint eigentlich mehrere Arbeiten in einem Band: Sie enthält eine umfassende Untersuchung zur Überlieferung der Schrift, eine Textausgabe mit Übersetzung und Kommentar sowie eine Edition der arabischen Übersetzung mit zusätzlichen Anmerkungen. Durch diese inhaltliche Vielfalt zeigt sich das Buch in mehrfacher Hinsicht als überaus wertvoll und nützlich für die Forschung.
Insbesondere die Berücksichtigung und eingehende Bewertung aller bekannten Überlieferungsträger führt dazu, dass erstmals eine Rekonstruktion des griechischen Textes nach modernen wissenschaftlichen Kriterien erzielt werden konnte. In dem beigefügten Kommentar und der reich belegten Analyse in der Einleitung des Bandes wird die sprachlich-formale Seite hervorragend beleuchtet. Es ist zu wünschen, dass in einer weiteren Arbeit auch die inhaltliche Seite bezüglich der medizinischen Lehre eine ähnlich sorgfältige Bearbeitung erfährt.