In dieser außerordentlich umfangreichen Heidelberger Habilitationsschrift (von 933 Seiten allerdings 178 Seiten Literaturverzeichnis1 und Indices) sucht Lothar Willms einen Zugang zur antiken Tragödie (und bis zu einem gewissen Grade auch Komödie). Der enorme Umfang der Arbeit hängt auch damit zusammen, dass Willms in stupender Fülle nicht nur die klassisch-philologische Forschung, sondern auch die einschlägige moderne Literaturtheorie nicht nur herangezogen, sondern wirklich verarbeitet hat. Manche Formulierungen sind dabei an der Grenze der Sofortverständlichkeit, so z.B. der Ausdruck „transgressive Zwangssemiogenese“ (215) oder ein Satz wie: „Die Verortung der tragischen Desubjektivierung in der Handlungsstruktur bedeutet keinen monokausalen Sozialdeterminismus“ (56).
Der entscheidende Begriff ist „Transgression“. Er bedeutet zugleich „Metatheater“. Tragik gilt als „Unterform der Transgression“ (6). „Transgression“ meint aber nicht die Einbettung der Textinterpretation in einen sozialgeschichtlichen oder einen ritual-mythischen Kontext, sondern ist „Binnenhermeneutik“ (6) und führt als „irreduzible Potentialität“ in das „Wesen der Kunst“ (188).
Dabei sieht Willms die dramentheoretischen Grundlagen seiner Konzeption grundsätzlich kompatibel mit der aristotelischen Poetik, was zu einer extensiven Auseinandersetzung mit der neueren Forschung zur Poetik führt (110-198), ohne dass die Position vom Willms völlig deutlich wird.
Deutlicher und gewinnbringender wird dies an den fünf exemplarischen Drameninterpretationen. Bei den Persern des Aischylos (199-282) sieht W. zwei zunächst lokal-geographische Transgressionen, die Grenzüberschreitung der Perser durch die Meerengen und die Verlegung der Bühne in das ferne Persien als literarische Transgressionen mit normativem Charakter, symbolisiert einerseits durch die Schiffsbrüche und andererseits durch die Nekromantie des Dareios, die ihrerseits als „Metatheater“ und „Transgression“ die Grenze zur Vergangenheit überschreitet. Diese Transgressionen in entgegengesetzte Richtungen führen in die Tiefenstruktur der Tragödie und in ihren Kontrasten (göttlicher Herrscher – missratener Sohn, demokratisches Athen – hierarchisches Perserreich) zu dem dramenübergreifenden Phänomen der Tragik. Mit Recht konstatiert Willms, „dass Aischylos’ Perser kein opulentes Historiendrama vor orientalischer Kulisse, sondern eine politische Tragödie sind, die vor dem Hintergrund einer theonomen Weltordnung spielt.“ Diese Tragödie weise „bereits eine erstaunlich vollständige Typologie der Transgression auf“ (280).
Das Kapitel über den König Oidipus (283-404) ist fast ein kleines Buch für sich. Willms findet darin, wieder in exzessiver Auseinandersetzung mit der Forschung, eine „Kette von Transgressionen“ (338). Schon das Oidipus gegebene Orakel in Delphi sei „eine massive soziale Transgression“(348). Die zentrale Transgression des Oidipus sei die Tötung der Reisegruppe mit Laios am Dreiweg (289), die in roher Gewalt betont außerhalb der Polis erfolgte (331). Die Transgression liegt damit außerhalb der Handlung, deren Erforschung Gegenstand der Handlung ist, die das „präzivilisatorische Monstrum“ Oidipus (338) durch Transgressionen gegenüber Kreon, Teiresias und sich selbst vollzieht. Der Auftritt des Oidipus nach seiner Blendung sei „selbstinszeniertes Metatheater“ (385) und das ganze Drama weder Charakter- noch Schicksalstragödie, sondern ein „Lehrstück über das Wirken der Götter in der menschlichen Existenz“ (404), weil die Transgressionen auf die Grenzen der menschlichen Vernunft verweisen.
Die euripideischen Tragödien Medea und Bakchen werden nicht ganz so ausführlich nach der gleichen Methode untersucht (404-532), in genauer Analyse der Stücke und exzessiver, mitunter auch polemischen Auseinandersetzung mit der Forschung. „Transgression“ wird dabei als „Integritätsverletzung“ interpretiert. In diesem Sinne hat Medea Transgressionen erlitten und begeht mit der Tötung der Kinder ihrerseits eine Transgression als „intertheatralischen Triumph“, während in den Bakchen die Transgression des Pentheus in dessen Haltung gegenüber Dionysos besteht, wodurch die Transgression die Beziehung zwischen Mensch und Gott betrifft.
Nach einigen Ausführungen über die nachklassische Tragödie und die Stoa (557-575) sowie über ein „Interludium“ zur Komödie mit einer Interpretation der Eingangsszene der Frösche des Aristophanes („Grenzüberschreitung im Hades“,533) bezieht Willms dankenswerterweise auch die römische Tragödie im seine Analyse ein, nicht den Oedipus des Seneca (was vielleicht näher gelegen hätte), sondern Senecas Phaedra, wiederum in großer Ausführlichkeit (577-720). Willms plädiert für eine offene, explorative Lektüre der Tragödien Senecas (also unabhängig von stoischen Theoremen) und sieht in einer doch einigermaßen komplizierten Interpretation der Phaedra in dem in dieser Tragödie 17mal genannten „furor“ ein paralleles Merkmal zur „Transgression“. Eine Zusammenfasssung (721-748) beschließt die Untersuchung. In ihr wird noch einmal der Begriff der Transgression als literarisches Deutungsinstrument hervorgehoben, und zwar in einem großen Facettenreichtum sowohl horizontal (Meerenge, Perserreich) wie auch vertikal (Grenze zwischen Ober- und Unterwelt) als Aufhebung der Grenzen des mimetischen Raumes. Tragik gilt dabei als „Spielart der Transgression“, die als heuristisches Prinzip von großer Reichweite ein Mittel zur Analyse des Dramas darstellt.
Es ist Willms mit dieser schwergewichtigen Arbeit zweifellos gelungen, einen in dieser Form neuen Zugang zur griechischen Tragödie gefunden zu haben, wobei trotz des kritischen Referates zahlreicher Tragikkonzepte nicht mit letzter Klarheit deutlich wird, wie sich „Tragik“ von „Transgression“ unterscheidet. Dass aber mit Hilfe dieses heuristischen Prinzips das Verständnis der griechischen Tragödie auch in den Einzelanalysen erheblich gefördert wird, ist als bedeutender Gewinn anzusehen. Wer sich künftig mit der griechischen Tragödie wissenschaftlich beschäftigen wird, kommt an der Auseinandersetzung mit dieser Arbeit nicht vorbei.
Notes
1. Seltsamerweise fehlen in dem extensiven Literaturverzeichnis die neueren Monographien über Aischylos (Sabine Föllinger 2009), Sophokles (Hellmut Flashar 2000; 2. Aufl. 2010) und Euripides (Martin Hose 2008), ferner der umfangreiche Kommentar zur Poetik des Aristoteles von Arbogast Schmitt (2008), obwohl alle kleineren Arbeiten dieser Autoren zum gleichen Themenkreis lückenlos aufgeführt sind.