BMCR 2014.12.16

Kinship in Thucydides: Intercommunal Ties and Historical Narrative

, Kinship in Thucydides: Intercommunal Ties and Historical Narrative. Oxford; New York: Oxford University Press, 2013. xii, 443. ISBN 9780199697779. $150.00.

Preview

In der überarbeiteten Fassung ihrer 2010 entstandenen Dissertation befaßt sich Fragoulaki mit den bei Thukydides dargestellten zwischenstaatlichen Beziehungen mit dem Ziel, “to make a contribution to the political, social, and cultural history of ancient Greece of the classical period … and to offer new readings and appreciations of the author’s narrative technique and style, and his interaction with literary context and contemporary and later audiences“(S. 26).

In der Einleitung (S. 1-31) stellt sie fest, daß Thukydides mit dem Begriff ξυγγένεια (“kinship“) nur selten eine familiäre, sondern fast immer eine auf gemeinsamer ethnischer Abstammung und gemeinsamen mythischen bzw. historischen Banden beruhende Beziehung zwischen einer Mutterstadt und ihrer Kolonie bezeichnet. Davon werden andere, ‘nicht-biologische’ Verbindungen wie Freundschaft (φιλία) oder Gastfreundschaft (ξενία) terminologisch unterschieden, was zeigt, daß Thukydides und seine Zeitgenossen “were fully aware of the difference between the natural and the social orders of kinship both on the interpersonal and intercommunal level“ (S. 9). Nach einem kurzen Überblick über den Stand der Forschung stellt Fragoulaki ihre eigene Methode vor, die neben althistorischen und philologischen auch kulturanthropologische und soziokulturelle Ansätze berücksichtigt.

Im zweiten Kapitel (S. 32-57) folgt eine semantische Studie der Begriffe ξυγγένεια/ ξυγγενής als “racial/ethnic“ bzw. “colonial kinship“ (S. 35), ἀποικία/ἄποικος als Terminus für die Kolonie und weiterer, die Verwandtschaft bezeichnender Begriffe wie μητρόπολις, οἰκιστής, Ableitungen des Stammens οἰκίζω/οἰκέω bzw. κτίζω/κτίσις, ἀλλότριος, γένος und ἔθνος. Während etwa ξυγγένεια eine natürliche Stammverwandtschaft bezeichnet, drücken οἰκειότης oder φιλία eine emotionale Bindung auch zwischen nicht-stammverwandten Gemeinschaften aus. In vielen Fällen wird aber bei Thukydides nicht explizit auf ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen zwei Gemeinwesen hingewiesen, sondern subtil ein solches angedeutet (S. 54f.). Da bisher eine solche systematische Wortfeldstudie fehlte, ist dieses Kapitel sehr nützlich.

In den folgenden Kapiteln werden die wichtigsten im Werk behandelten Beziehungen untersucht: Zunächst werden in Kapitel 3 die Beziehungen zwischen Korinth und seinen Kolonien betrachtet (S. 58-99). Im ersten Teil steht der Konflikt mit seiner Kolonie Kerkyra im Mittelpunkt (Thuk. 1,24-55), der eine wichtige Ursache für den Ausbruch des Kriegs darstellte. Daß in der Antilogie in Athen zwischen Korinthern und Kerkyraiern (1,32-43) die Verwandtschaft zwischen Mutterstadt und Kolonie und die daraus von beiden Seiten unterschiedlich gedeuteten Verpflichtungen eine bedeutende Rolle spielen, wird von Fragoulaki einleuchtend dargelegt. Im weiteren wird das gut funktionierende Verhältnis zwischen Korinth und seiner Kolonie Syrakus nachgezeichnet, das ein Gegenbeispiel zu Kerkyra bildet. Kurz werden schließlich Hermokrates’ Reden in Gela (4,59-64) und Kamarina (6,76-80) behandelt, in denen der Redner eine auf der ethnischen (dorischen) Verwandtschaft beruhende Identität der sizilischen Griechen postuliert.

Das vierte, dem aiolischen Stamm gewidmete Kapitel (S. 100-139) beleuchtet einerseits den Aufstand der Mytilenaier, andererseits die Beziehung zwischen Theben und Plataiai. Dieser innerboiotische Zwist bildet das Gegenstück zum Streit zwischen Korinth und Kerkyra und ist ebenso durch Gefühle von Haß und Mißgunst (μῖσος, ἐχθρά) geprägt (S. 121), wie die Reden zeigen: Während für die Thebaner die Verwandtschaft im Mittelpunkt steht, erinnern die Plataier die Spartaner an die aus ihren Verdiensten um die Lakedaimonier im Kampf gegen die Perser erwachsene Beziehung.

Das fünfte Kapitel (S. 140-208) umfaßt Spartas Beziehungen zu verschiedenen dorischen Gemeinden in Griechenland (wie Herakleia Trachinia oder Kythera) und Unteritalien, wobei zu beachten ist, daß einiges von Fragoulaki zitiertes Quellenmaterial, das mögliche verwandtschaftliche Beziehungen Spartas belegt, nicht aus Thukydides stammt: so gilt etwa für die Beziehungen zu Taras oder Kyrene, daß “intercommunal kinship ties remain unspoken“ (S. 182). Es ergibt sich, daß “from an ethical and religious perspective, xyngeneia was important for the generally traditional and religious Spartans and could influence political and military decisions, but it could not alone supersede necessities and obstacles imposed by a war where Dorian and non-Dorian Greeks alike fought for survival and dominance“ (S. 144). Dies gilt besonders auch für Melos, das als Kolonie Spartas galt (5,84). In Spartas Verhältnis zu den nicht- stammverwandten Griechen ist beachtenswert, daß Brasidas mehrmals emotionale Argumente, die sonst in Verwandtschaftsbeziehungen gebraucht werden, verwendet und durch öffentliche Riten in Skione (S. 192f.) und in Amphipolis (S. 196ff.), das Brasidas als neuen Oikisten anstelle des Atheners Hagnon (5,11) wählt, eine neue Art der zwischenstaatlichen Beziehungen begründet.

Im sechsten Kapitel (S. 209-281) untersucht Fragoulaki zunächst Athens von Thukydides zwar vorausgesetzten, aber nicht besonders fokalisierten, mythologisch begründeten Anspruch auf Autochthonie. Daß Thukydides bei der Erwähnung von Theseus’ Synoikismos (2,15) den Rezipienten implizit dazu bringt, Perikles mit Theseus zu identifizieren, ist wohl richtig. Hingegen kann m.E. im Verhältnis zu Zakynthos (2,66,1) aus Thukydides’ Text nicht abgeleitet werden, daß das Bündnis der Inselbewohner mit Athen eine Folge ihrer achaiischen Abstammung war.1

Im siebten Kapitel (S. 282-316) werden die Gemeinden mit einer gemischten Bevölkerung in Italien und Sizilien analysiert, soweit sie zu den Akteuren des Peloponnesischen Kriegs Beziehungen unterhielten. Darüber, daß auch zwischen den Athenern und den Etruskern, die auf ihrer Seite an der Expedition gegen Syrakus teilnahmen, ein (von Thukydides nirgends erwähntes) Verwandtschaftsverhältnis propagiert wurde, kann indessen nur spekuliert werden.

In Kapitel 8 (S. 317-320) werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefaßt. Es folgen zwei Appendizes (S. 321-372), in denen Fragoulaki zum einen zu neuen Erkenntnissen über das Phänomen der Kleruchien bei Thukydides gelangt und zum andern alle relevanten Mitteilungen über die zwischenstaatlichen Beziehungen der Kolonien bei Herodot und Thukydides tabellarisch aufzeichnet.

Das Literaturverzeichnis, der Stellen- und der allgemeine Index runden das Werk ab. 2

Die Kernthese Fragoulakis, daß “close attention to the kinship factor in Thucydides’ pages reveals much explicit, and less explicit but existent and important nevertheless, concern for culture, and not solely from the perspective of a total insider as a matter of fact“ (S. 25) und daher das Bild des Thukydides als “foundational figure of modern political realism” und “cultureless rationalist, mainly or solely preoccupied with power relations” (S. 318) abzulehnen sei, mag zwar als Korrektiv gegen die Auffassung einiger Forscher, die Thukydides wie einen modernen Kollegen behandeln, dienen, ist aber, für sich genommen, zu einseitig und radikal, da einerseits bei einer solchen ‘traditionellen’ soziokulturellen Verortung andere zeitgenössische Einflüsse auf Thukydides wie die Naturwissenschaften oder die Sophistik vernachlässigt werden, andererseits genaue Analysen der angeführten Textstellen bisweilen andere Deutungen als diejenigen Fragoulakis suggerieren. Im folgenden sollen exemplarisch einige Punkte illustriert werden:

Daß Thukydides mit der en passant gemachten Bemerkung, daß sich die Kerkyraier damit brüsteten, daß vor ihnen die Phaiaken die Insel bewohnten (1,25,4),3 einen Schlüssel für die Interpretation der Episode geben wollte, gemäß dem die schmachvolle Abweisung der Epidamnier durch die Kerkyraier (1,24,7) “becomes even more dramatic seen against the successful supplications of the Homeric Odysseus to the royal oikos of the Phaiakians“ (S. 68), überzeugt nicht, weil Thukydides nirgends einen Hinweis gibt, daß er die Rezeption durch dieses mythologische Muster lenken will, und weil die Unterschiede zwischen den beiden Situationen (Odysseus ist ein Individuum, das kein Verwandtschaftsverhältnis zu den Phaiaken aufweist und das in einem Konflikt mit dem Gott Poseidon steht, während die Epidamnier die mit ihnen verwandten Kerkyraier in ihren innenpolitischen Konflikt hineinziehen wollen) gegenüber den Gemeinsamkeiten (Hikesie) überwiegen. Dasselbe gilt auch, wenn in Umkehrung der mythischen Folie der Zorn Poseidons auf Odysseus mit dem Haß der Korinther auf die Kerkyraier gleichgesetzt wird (S. 79).

Bei der Interpretation des Melierdialogs (5,85-113, S. 162-179) betont Fragoulaki mit Recht, daß im Gegensatz zu den Debatten zwischen den stammverwandten Korinthern und Kerkyraiern bzw. den Thebanern und Plataiern gerade das Fehlen “of any claim of kinship between Melians and the Athenians, either of xyngeneia or of the relatedness type“ (S. 166) es ermögliche, einen sehr wirksamen, abstrakten Dialog zu schaffen.4 Als Parallele erkennt sie die sympotische Literatur (S. 169ff.), da der Dialog wie ein Symposion in einem privaten Kreis stattfinde und wie dieses auch allgemeine Themen betreffe. Daß aber im Melierdialog eine Situation nachgebildet werde, in der “the conventional erotic and educational relationship between an older man and a boy in the symposium could be replaced by the Athenians trying to woo the Melians out of their old and revered relationship with their mother-city, Sparta, into a new alliance with those who possess power and resources“ (S. 172f.), überzeugt nicht, weil es darin um Leben und Tod geht und dies auch im Widerspruch zu der von Fragoulaki erwähnten Definition des Symposions, in dem παρρησία πλείστη μετὰ παιδιᾶς ἀναμέμικται (Plut. Symp. Quaest. 707e), steht. Ob Platons Symposion, in dem Alkibiades eine prominente Rolle spielt und eine Situation um 416 v.Chr. evoziert wird, also kurz vor Alkibiades’ Engagement in Argos und Melos – interessant ist aber, daß Thukydides über Alkibiades’ Rolle in Melos im Gegensatz etwa zu Plutarch schweigt –, vom Melierdialog beeinflußt worden sei (S. 173f.), kann angesichts des Fehlens intertextueller Bezüge zwischen den beiden Werken nicht nachgewiesen werden. Dasselbe gilt für die Parallele zwischen dem von den Athenern im Dialog vorgegebenen Thema der Rettung (5,101 σωτηρία) und der Situation Hektors (=Melier) vor der Tötung durch Achilleus (=Athener) (Il. 22,157-161). Ob schließlich die Melier durch den Hinweis auf die Verwandtschaft mit Sparta “create a psychological state of resistance to fear, which was reflected in their composed attitude” und ob “their confidence in their kinsmen’s help is not so irrational after all“ (S. 175) oder ob es sich dabei nicht um eine verderbenbringende Illusion handelt, die implizit von Thukydides getadelt wird, bleibe dahingestellt.

Daß bei der Sizilienexpedition die mehrmals von Thukydides erwähnte Verwandtschaft mit Leontinoi ein wichtiger Faktor der Motivation gewesen sei (6,6,2.19,1.20.1) und nicht bloß zu Propagandazwecken gedient habe (6,50,4), steht im Widerspruch zu der von Fragoulaki nicht kommentierten auktorialen Aussage (6,6,1), daß der wahrste Grund der Expedition das Verlangen der Athener, die ganze Insel zu beherrschen, gewesen sei. Die als Erklärung für die Tatsache, daß Thukydides “underplayed the Greek dimension in the Egestaian ethnicity, but did not entirely conceal it“ (S. 312), von Fragoulaki angeführten “artistic aspirations and unique contribution and commitment to his genre“ (S. 320) lassen vielmehr den Schluß zu, daß für Thukydides bei der Sizilienexpedition das Argument der Verwandtschaft als Beweggrund – wenigstens auf Seiten der Athener – nur marginal war und vor allem als rhetorisches Argument in Nikias’ Rede gegen die Egestaier (6,11,7) und von den Athenern als offizielle Begründung (6,50,4) eingesetzt wird, während Thukydides selbst die Rezeption auktorial lenkt (6,6,1) und dabei andere Motive anführt. Gerade in dieser Beziehung wäre eine Unterscheidung zwischen den loci, an denen Thukydides auktorial als Narrator-Fokalisator solche Termini verwendet, und denjenigen, in denen diese Begriffe in oratio obliqua bzw. in oratio recta – was in sehr vielen Fällen geschieht – von den am Geschehen beteiligten historischen Akteuren in ihrer Argumentation verwendet werden, wünschenswert gewesen.

Insgesamt gibt Fragoulakis sorgfältige Arbeit interessante Anregungen und Denkanstöße. Doch vermag nicht nur die Interpretation einzelner Stellen, sondern auch die einseitige Festlegung des Historikers auf einen “keen concern for cultural, emotional, and moral parameters, which are related both to his historical evaluations and to his authorial personality and aspirations“ (S. 318) nicht zu überzeugen. ​

Notes

1. Fragoulaki schlägt vor (S. 251), den Satz εἰσὶ δὲ Ἀχαιῶν … ἄποικοι καὶ Ἀθηναίοις ξυνεμάχουν mit “they where colonists of the … Achaians, and therefore they were allied to the Athenians“ zu übersetzen, und meint, daß “καί can also have a consecutive force, functioning as an equivalent of ὥστε καί“, ohne dafür aber Parallelen bei Thukydides oder anderen Autoren zu nennen. Der Hinweis auf J.D. Denniston, K. J. Dover, The Greek Particles, Oxford 1954 2, 299 ist nicht hilfreich, weil dort nur Beispiele für ὥστε καί stehen.

2. In Bezug auf die verwendete Sekundärliteratur ist eine Bevorzugung von neueren englischsprachigen Werken festzustellen, während die ältere und fast die gesamte deutschsprachige Literatur keine Beachtung findet.

3. Die Kerkyraier postulieren kein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden Völkern, sondern erwähnen lediglich eine προενοίκησις durch die Phaiaken.

4. Fragoulaki diskutiert nicht die Möglichkeit, daß Thukydides eine (inschriftlich belegte) Bündnisbeziehung zwischen Melos und Athen (vgl. die Literaturhinweise bei C. Scardino, Gestaltung und Funktion der Reden bei Herodot und Thukydides, Berlin; New York 2007, 467f., Anm. 217 und 487, Anm. 267) absichtlich verschweigt. ​