In drei großen Kapiteln widmet sich Isabella Wiegand ihrer komplexen Fragestellung. Das Buch basiert auf ihrer in München unter der Anleitung von Martin Hose entstandenen und 2011/12 abgeschlossenen Dissertation. Es geht Wiegand darum festzustellen, welche Sicht die Literaten in der Zeit von Tiberius’ Prinzipat auf das Regime offenbaren. Gibt es eine Spezifik dieser Epoche, ist es überhaupt eine Epoche, stehen die Autoren der nunmehr so offensichtlich nicht mehr rückgängig zu machenden monarchischen Staatsform kritisch gegenüber, und wie blicken sie auf die Republik und besonders auf die Zeit der Bürgerkriege zurück? Einerseits eine einleuchtende Themenstellung, ist doch die augusteische Zeit oder die neronische unter ähnlichen Aspekten vielfach behandelt worden; andererseits sieht Wiegand selbst die Probleme (Kap. I). Kann man überhaupt eine Epoche abtrennen, gibt es so etwas wie eine epochentypische „Signatur“? Wie steht es um die Überlieferung (15-20) – aus den „disiecta membra“ muss zunächst ein sinnvolles Untersuchungskorpus zusammengestellt werden.
Die Probleme sind Wiegand bewusst, und sie argumentiert sorgfältig für ihr Korpus, das sie letztlich auf Velleius Paterculus, Valerius Maximus, Seneca d. Ä. und Phaedrus beschränkt. Auch den Epochenbegriff problematisiert sie (z. B. 34) und wählt, um ‚ihre‘ Zeit, die Regierungszeit des Tiberius, abzugrenzen, den Weg, die augusteische und neronische Zeit, in der Forschung deutlich beschrieben, als Randmarken zu setzen. Diese an sich kluge Entscheidung führt dann leider zu ausgedehnten Referaten sowohl der literarischen wie der historischen Umstände (Augustus: 33-79; Nero: 80-105), die nichts Neues bieten.1
Ihre „Textuntersuchungen“ (106-293) beginnen ebenfalls jeweils mit Referaten von Handbuchwissen (zu Leben und Werk der einzelnen Autoren). Aber hier zeigt sich auch die Fähigkeit von Wiegand zur literarischen Analyse und Extraktion von Leitgedanken aus ihrem Material. Sie operiert für Velleius Paterculus (Kap. II.1) mit einem Modell, in dem die literarische Kontinuität die politische Diskontinuität überdeckt (erläutert z. B. 113) und identifiziert Schlüsselbegriffe und – mechanismen, wie z. B. den Verweis auf das Altbewährte (Wortfeld ‚alt‘, Begriffe mit dem Präfix ‚re-‘). Velleius arbeitet mit Kontinuitäten, z. B. in antiquarischen und genealogischen Erörterungen, und mit Rückprojektionen, die sich nicht immer als konsistent erweisen. Jedoch muss er, um eine bruchlose Abfolge der Ereignisse zu insinuieren, Kompromisse machen bei der Ausführlichkeit der Darstellung („Gewichtung“, z. B. 141). Es lässt sich bei Velleius, so Wiegand, eine bewusst uneindeutige Sicht auf die politische Situation der Gegenwart feststellen, eher Mehrstimmigkeit als stringente Konzeption geschichtlicher Abläufe.
Für das völlig anders konzipierte Werk des Valerius Maximus stellt Wiegand (Kap. II.2) die Frage nach dem Adressatenkreis. Sie wendet sich zu Recht gegen eine Sicht als bloßes „Repertorium ohne leitendes Darstellungsprinzip“. Allerdings wird dies wohl in der heutigen Forschung kaum noch vertreten.2 Wiegands pragmatischer Vorschlag, die Vermittlung von rhetorischem Handbuchmaterial und die Moraldidaxe als Intentionen anzusehen, vereint die Sicht der älteren Forschung mit den moderneren Thesen etwa Bloomers und Langlands’.3 Zum nur scheinbar schlichten Text von Valerius gelingen Wiegand schöne Beobachtungen, die jedoch zu oft in die Fußnoten verbannt werden (z. B. 163, Anm. 130 zur Technik des mise en abyme; auch 166 Anm. 145, oder zur Medialität 180 Anm. 256 mit Bezug auf die Thesen von Krasser 2011). Sie zieht das Fazit, dass Valerius das Lob der Alten zwar hochhält, aber nicht in Kontrast mit der Gegenwart setzt. Durch eine Technik der Überblendung und Verschiebung und indem er rhetorisierte und historische Exempla unterscheidet, schafft der antike Autor zwei Ebenen der Beurteilung, so dass Parallelen oder Identifikationen von Vergangenheit und Gegenwart nicht offenbar werden. Dabei nimmt er Widersprüche und Anachronismen in Kauf. Die Genese politischer Entwicklungen wird dabei nicht thematisiert. Wiegands Lektüre des Valerius ist stimmig und überzeugend.
Das Kapitel zu Phaedrus (II.3) beginnt wiederum mit einem Resümee der Forschungsdiskussion zu den biographischen Daten. Wiegand spricht sich mit Champlin und Henderson und gegen z. B. Bloomer 1997 für eine Datierung in Tiberius’ Lebenszeit aus (190) und betont, dass Vorsicht bei der Identifikation von Autor und persona geboten ist. Obwohl sie für Buchzahl und Anordnung der Fabeln beim ignorabimus bleibt (193), führt sie doch, im Wesentlichen nach Holzberg, einiges zur Gattung und zur Innovationskraft des Experiments ‚Versfabelbuch‘ aus. Für Phaedrus’ Beziehung zu Aesop findet sie die intelligente Formulierung von „Legitimierung … und gleichzeitiger Distanzierung“ (197). Phaedrus, so argumentiert sie, sei ein „Schwellenautor“ (206), der die Augusteer noch nicht als kanonisch wertet, sondern in komplexer Intertextualität auch auf Ennius Bezug nimmt. Auf der anderen Seite ist Augustus mythifiziert gesehen (z. B. in App. 8), aber eine Thematisierung des Bruchs zwischen Republik und Prinzipat lässt sich im Werk nicht nachweisen. Die Gattung der Fabel vermag sich der Stellungnahme zu Staat und Historie zu entziehen. Die treffende Bilanz, dass bei Phaedrus wie bei den zuvor besprochenen Autoren „ ‚Republik‘ … keine Epoche, sondern ein Synonym für intakte Moral und exemplarische Verhaltensmuster“ sei, zieht sie 225 Anm. 329.
Seneca Rhetor bedient sich, so Wiegand in den einführenden Bemerkungen zu Kap. II.4, der persönlichen Elemente im Werk und der Pose des belehrenden Vaters als Instrument der Selbstdarstellung. Inszenierte Spontaneität verleiht seiner Anthologie Autorität und Authentizität. Wiegand unterscheidet zwischen der Aussagekraft der Praefationes und der Sammlung rhetorisierter Äußerungen Dritter. Die Abgrenzung der Zitate ist bei Seneca nicht immer eindeutig; hier hätte Wiegand vielleicht auf grundsätzliche Überlegungen zum Zitatbegriff eingehen können (U. Tischer u. a.).4 Auch die Frage nach der Veröffentlichung des Werkes und den Schutzmaßnahmen des Autors vor Plagiaten wird im Augenblick intensiv diskutiert, z. B. von McGill.5 Hier ergäben sich text- und literaturtheoretische Fragen, die allerdings über Wiegands Themenstellung hinausreichen. Wiegand kommt zum Fazit, dass aus der Charakteristik des Werkes die beobachtbare Enthaltsamkeit bezüglich der Tagespolitik erwächst; auch wo Seneca Regimekritiker auftreten lässt, bleibt dies unpolitisch; Kritik wie Lob verharren im Bereich der Topik. Eine Deutung Senecas als politisch motivierter Kritiker am Verfall der Redekunst ist verfehlt. Wiegand konstatiert, dass Seneca sich auf den Bereich der rhetorischen Unterweisung beschränkt und macht das am Unterschied zwischen declamatio und oratio deutlich. Leider ist auch für diese zentrale These die Diskussion der Belege in die Fußnoten verbannt (270, Anm. 258-262). Zudem wären moderne Arbeiten zur Deklamation heranzuziehen gewesen, die für die rhetorische Unterrichtspraxis in der Kaiserzeit Aufschluss bieten, nicht nur für die Spätantike.6 Wiegand beobachtet, dass das rednerische Vorbild und Ideal Cicero bei Seneca und seinen Quellen dekontextualisiert und dadurch zur „Vignette“ wird. Personen aus republikanischer Zeit bleiben, bei allem Lob exemplarischer fortitudo, unhistorisch. Also entsteht kein zusammenhängendes Bild eines vorbildhaften Römertums. Auch die Einschätzung der Bürgerkriege bildet nur zuweilen den Hintergrund. Die Redekunst wird als einigendes Band über die Grenze des Regimewechsels hinweg konstruiert. So bleibt eine gewisse Polyphonie bestehen, und es sind Inkongruenzen in der Sicht der historischen Abläufe bis Aktium erkennbar, aber durch den beschützten Raum der Deklamatorenschule enthalten selbst die heterodoxen Darstellungen keinen politischen Zündstoff.
Im dritten Hauptkapitel versucht Wiegand eine Antwort auf die Frage nach dem „tiberianischen Element“. Gemeinsam ist inhaltlich, dass die memoria des Bürgerkrieges nun Eingang in die literarische Produktion findet. Neue Gattungen bilden sich aus, Gattungsgrenzen werden überschritten (294-296). Sie erkennt einen gemeinsamen produktionsästhetischen Pragmatismus, der sich auch in einer Tendenz zur Wissenssystematisierung niederschlägt. Das ist freilich ein wichtiger Punkt. Hier hätte Wiegand von aktueller Forschung, z. B. von Claudia Moatti und Jason König,7 profitieren können. Richtig ist sicher, dass das Anlegen von Sammlungen (extensiv bei Valerius Maximus, in verengender Sicht bei Velleius Paterculus) die intellektuelle Szene der Zeit charakterisiert. Richtig ist auch, dass ideologische Widersprüche in solchen Sammlungen und Werkgruppen neuen Stils (wie bei Phaedrus) nicht notwendig Ausdruck von versteckter Kritik sein müssen (301). Nicht ganz deutlich wird mir Wiegands Argumentation, wenn sie 302f zwar von einer Tendenz, eine „augusteische Klassik“ wahrzunehmen, spricht, dann aber für Seneca einen Gegensatz herstellt zwischen dem Empfinden und dem Konstruieren einer Epoche.8 Auch die Intertextualitätsproblematik (wird Ennius noch als bekannt vorausgesetzt?) scheint mir komplexer als von Wiegand 206ff und 303 dargestellt.
Jedoch stimme ich Wiegand zu, wenn sie vor einer regimekritischen Lektüre ihrer Autoren warnt. Es gelingt ihr, literarische Darstellungsweisen nachzuweisen: Harmonisierung, Projektion für Velleius, Ausblendung, Überblendung und Verschiebung bei Valerius, Spannung zwischen historischem und rhetorisch engagiertem Diskurs bei Seneca und rein terminologische Wertekontinuität bei Phaedrus (306-314). Alle vier Autoren stehen dem Prinzipat grundsätzlich positiv gegenüber und stellen eine Kontinuität von Republik, augusteischer Zeit und ihrer Gegenwart fest oder her.
Leider macht Wiegand dem Leser die Lektüre nicht leicht. Im Bemühen um inhaltlichen Zusammenhang bringt sie eine übergroße Fülle von Querverweisen an, die mehr verwirrt als orientiert. Redundanzen und Wiederholungen sollen vermutlich der Benutzbarkeit dienen, mich haben sie eher gestört. Ebenso empfinde ich die äußerst kleinteilige Gliederung mit bis zu 6 Teilpunkten im numerischen System (Beispiel: II 2.2.3.1 (1); oft nur einige Zeilen auf einer Seite) nicht als hilfreich. Dass Wiegand in reichem Umfang die Sekundärliteratur historisch und literaturwissenschaftlich wahrgenommen hat, ist löblich; nicht jedoch, dass sie das dokumentiert, indem sie mitunter an jedem einzelnen Wort eines Satzes eine Fußnote anbringt. Nicht immer ist sie auf der Höhe des gerade laufenden Diskurses (z. B. zu den archäologischen Befunden zum frühen Prinzipat, s. o. Anm. 1), aber das kann man bei der weiten Spanne ihrer Darstellung auch nicht erwarten. Wenn Wiegand auf Horaz’ viertes Oden- und Properz’ viertes Elegienbuch eingeht (74; nötig wäre das nicht unbedingt gewesen), sollte sie eine zu einseitige Sicht dieser Werke als panegyrisch vermeiden. Die Kallimachos-Rezeption in Rom ist ein zu weites Feld, um in zwei Fußnoten mit Bezug auf Wimmel abgetan zu werden (203). Wie oben schon angemerkt, sind wichtige Punkte bisweilen in die Fußnoten verbannt: Zum Verhältnis von Beschreiben und Verstreichen von Zeit verweist eine kärgliche Erwähnung (162, Anm. 122) auf White; Wortuntersuchungen z. B. 226, Anm. 339 sind kaum verständlich und hätten im Text argumentierend vorgestellt werden sollen. Stil ist Geschmackssache, doch Wiegand hat eine Vorliebe für die Verlängerung von Sätzen durch Doppelpunkte (z. B. 53, 64), die der Stringenz nicht immer dient. Die sogenannte alte Rechtschreibung ist seit 1996 abgeschafft; ich sehe keinen Sinn darin, ihr anzuhängen. Einige Druckfehler und Trennfehler sind der Endredaktion entgangen, aber nichts, was den Sinn entstellt. Die Zeichensetzung ist etwas eigenwillig. Diese letzten Punkte zeigen, dass vermutlich die Entstehungsgeschichte der Arbeit nicht ganz einfach war, dass das Vorhaben anspruchsvoll ist und dass man junge Kolleginnen und Kollegen (und ihre Ratgeber) ermuntern sollte, herzhafter an die Redaktion und eine gut lesbare Darstellung ihrer Ergebnisse zu schreiten. Denn interessante und bedenkenswerte Ergebnisse hat Wiegand vorzuweisen. Die Einzelanalysen und die Zusammenschau dieser nicht auf den ersten Blick zusammengehörigen vier Textgruppen sind gelungen. Wiegand macht deutlich, dass eine voreingenommene Sicht auf die Werke – so sympathisch einem die Kritik an unserem durch Tacitus gefärbten Tiberiusbild auch wäre – unangebracht ist und gelangt zu neuen Einsichten über literarische Strategien und literatursoziologische Zusammenhänge.
Notes
1. Für die augusteische Zeit verweist Wiegand in vielem auf die seinerzeit neue Wege beschreitende Dissertation von Mauch (Mauch, H., O laborum dulce lenimen. Funktionsgeschichtliche Untersuchungen zur römischen Dichtung zwischen Republik und Prinzipat am Beispiel der ersten Odensammlung des Horaz, Frankfurt, Bern, New York 1986). Auch die zahlreichen Verweise auf Zankers Arbeiten (z. B. 75; neuere Erkenntnisse zum Augustusforum bleiben unberücksichtigt) zeigen, dass Wiegand in diesem Kapitel Bekanntes wiederholt. Für die neronische Zeit warnt Wiegand 105 zu Recht vor einer voreingenommenen politischen, d.h. oppositionellen Deutung.
2. Wiegand verarbeitet die reiche Sekundärliteratur in erstaunlicher Fülle. Allerdings fehlen die zahlreichen Arbeiten von R. Guerrini zu Valerius Maximus und seiner Wirkungsgeschichte, die ihr hätten zeigen können, dass eine differenzierte Sicht auf die literarische Strategie dieses Autors seit Jahren im Fokus steht, vgl. z. B. Guerrini, R., Studi su Valerio Massimo, Pisa 1982.
3. Bloomer, W. M., Valerius Maximus and the rhetoric of the new nobility, Chapel Hill 1992. Ders., Latinity and literary society at Rome, Philadelphia 1997. Langlands, R., “’Reading for the moral’ in Valerius Maximus: the case of severitas”, Classical Journal 54, 2007, 160-187. R. Langlands und M. Roller bereiten größere Arbeiten zu Exemplarität als Spezifikum römischer Geschichtssicht vor.
4. Tischer, U., Binternagel, A. (Hrsg.), Fremde Rede – eigene Rede. Zitieren und verwandte Strategien in antiker Prosa, Frankfurt a. M. 2010.
5. McGill, S., Plagiarism in Latin Literature, Cambridge 2012, zu Seneca 146-177.
6. Vgl. u. a. die Arbeiten von A. Stramaglia und seiner Arbeitsgruppe zu Ps-Quintilian.
7. Z. B. C. Moatti, La Raison de Rome. Naissance de l’esprit critique à la fin de la République, Paris, 1997; J. König, T. Whitmarsh (eds.), Ordering Knowledge in the Roman Empire, Cambridge 2007.
8. Hierzu jetzt Labate, M., Rosati G. (Hrsg.), La costruzione del mito augusteo, Heidelberg 2013.