BMCR 2014.07.39

Sokrates bei Xenophon: Moral – Politik – Religion. Classica Monacensia, Bd 49

, Sokrates bei Xenophon: Moral - Politik - Religion. Classica Monacensia, Bd 49. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2014. xii, 279. ISBN 9783823368632. €58.00 (pb).

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Auf der Suche nach dem „historischen Sokrates“ glaubte man den „echten Sokrates“ nicht in Xenophons sokratischen Schriften ( Memorabilien, Symposion, Oikonomikos oder Apologie), sondern – wenn überhaupt – nur in Platons frühen Dialogen finden zu können. In ihrer jetzt im Druck vorliegenden Bamberger Dissertation (2011) distanziert sich Olga Chernyakhovskaya von dieser Sichtweise. Man werde Xenophons sokratischen Schriften nicht gerecht, wenn man sie als biographische Quellen zu interpretieren und das dort entwickeltes Sokrates-Bild auf seine historische Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen versuche. Eine „Rehabilitation des Xenophontischen Sokrates“ – so Chernyakhovskaya – sei dennoch denkbar, wenn man sich der schon von Olof Gigon (1947) und anderen vertretenen Empfehlung anschließe, die Frage nach der Persönlichkeit und der Lehre des geschichtlichen Sokrates als unbeantwortbar aufzugeben und die sokratische Literatur – einschließlich der Dialoge Platons – unbefangen als „Dichtung“ zu verstehen.

Wenn auch die „Sokratische Frage“ als unlösbar gelte, sei es dennoch möglich, die unterschiedlichen Sokrates-Gestalten – vor allem bei Platon und Xenophon – zu vergleichen und dabei weniger auf die Ermittlung eines „historischen“ Sokrates zu zielen und statt dessen zwei von einander weitgehend unabhängige Sokrates-Bilder sichtbar zu machen. So konzentriert sich Chernyakhovskaya nicht mehr darauf, Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen Xenophons und Platons Sokrates-Bildern in ihrer Authentizität zu bewerten, sondern vor allem die von Xenophon „geschaffene Sokrates-Figur“ in ihrer Eigenständigkeit zu beschreiben. Diese Sokrates-Figur wird in sechs Kapiteln zu folgenden Themen vorgestellt und veranschaulicht: Lebensweise des Sokrates – Enkrateia und Akrasia – der Begriff der Tugend – der Begriff der Freundschaft – Gesetze und Gesetzestreue – Xenophons Sokrates und die Götter.

Der entschiedene Verzicht auf die Rekonstruktion des historischen Sokrates lässt eine andere Frage in den Vordergrund treten: Was wollte Xenophon mit seiner Sokrates-Figur vermitteln, wenn es ihm primär nicht um den historischen Sokrates ging? Xenophon fand auf diese Weise eine Form der Selbstdarstellung, ohne jedoch einen autobiographischen Anspruch zu erheben. Er ließ allenfalls erkennen, wie er von seinem eigenen Sokrates-Bild geprägt wurde und was er ihm zu verdanken hatte. Die „Lebensweise des Sokrates bei Xenophon“ (Chernyakhovskaya) spiegelt Xenophons eigene Lebensweise. Mit dem Bild des Sokrates idealisiert Xenophon seine eigene Lebensweise. Indem er in den Memorabilien Sokrates’ Handeln und Verhalten rechtfertigt, rechtfertigt er sein eigenes Handeln und Verhalten. So sind die beiden Hauptzüge der Persönlichkeit des literarisch-xenophontischen Sokrates, Ausdauer ( karteria) und Enthaltsamkeit ( enkrateia), für Xenophon selbst von zentraler Bedeutung. Indem Chernyakhovskaya, die literarische Figur des xenophontischen Sokrates charakterisiert, arbeitet sie die wesentlichen Merkmale der xenophontischen Selbstdarstellung heraus. Es ist aber offensichtlich ein Merkmal dieser „Sokrates-Dichtung“, dass man weder zwischen dem historischen und dem literarischen Sokrates noch zwischen diesem und Xenophons Selbstdarstellung eine klare Grenze ziehen kann.

Chernyakhovkayas Untersuchungen zeichnen folgendes Bild des xenophontischen Sokrates:

1. Er vertritt in den zentralen ethischen und ästhetischen Fragen eine dezidiert relativistische Position. So gibt es z. B. „kein abstraktes Nützliches oder Nützliches als solches in der Ethik des Xenophontischen Sokrates“ (S. 105, Anm. 26). Das Nützliche ist immer „das Nützliche für etwas“. Entsprechendes gilt für „das Gute“. Dieser Sokrates kennt kein Gutes, das nicht für oder gegen etwas gut ist (vgl. bes. Memorabilien 3, 8). So ist das Gute nichts anderes als ein Mittel gegen das Schlechte, und auch unter dem Schönen versteht Xenophons Sokrates stets „das für etwas Schöne“. Von einem Schönen an sich zu sprechen, ist nicht möglich. Alles Schöne kann nur als schön (d. h. als zweckmäßig oder nützlich) gelten, wenn es seinen Zweck erfüllt (3, 8, 5-7 und 4, 6, 8-9).

2. Xenophons Sokrates interessiert sich weniger für die theoretische Frage, ob das Wissen vom Guten das Böse unmöglich macht. Er weist aber mit Nachdruck darauf hin, dass das Gute, wenn überhaupt, nur durch Handeln wirksam und erkennbar ist. In diesem Zusammenhang (bes. 116-22) hätte man den für Xenophon so wichtigen Handlungsaspekt der Tugend noch mehr betonen können und den Aspekt des Nicht-Handelns im Zusammenhang mit dem Tugendbegriff nicht so stark in den Vordergrund zu rücken brauchen, obwohl die vorwurfsvolle Bemerkung des Hippias im Gespräch mit Sokrates nicht zu überhören ist: Er sage nur, was die Gerechten nicht tun ( Memorabilien 4, 4, 11). Sokrates weist diesen Vorwurf zurück, indem er den Gehorsam gegenüber den Gesetzen, d. h. den Verzicht auf Gesetzwidrigkeit, nicht als passives Verhalten, sondern als gerechtes Handeln versteht. Dieses besteht im Falle des Gehorsams gegenüber den Gesetzen in der bewussten Entscheidung für den Verzicht auf Ungehorsam.

3. In einem kurzen Abschnitt über das „Glück“ im Kapitel über die Tugend (S. 144-54) werden die wichtigsten Gedanken der bisherigen Darstellung zusammengeführt. Hier scheint das Sokratesbild besonders stark von Xenophons Selbstverständnis geprägt zu sein: der praxisorientierte und „instrumentalistische Charakter“ der „Ethik des Xenophontischen Sokrates“ lässt sich nicht mehr übersehen, wenn die Tugend der Anstrengung ( ponos) als das entscheidende Mittel zur Verwirklichung des Glückes definiert wird. Chernyakhovskaya macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Xenophons Sokrates in Mem. 2, 1, 28-30 seine Meinung über das Glück und seine Komponenten deutlich erkennen lässt: „Wer aber freiwillig etwas auf sich nimmt, freut sich, weil er sich in froher Hoffnung anstrengt. So mühen sich zum Beispiel die Jäger in der Freude auf den Fang besonders ab. Und derartiger Lohn für die Mühe hat nur wenig Wert. Wenn sich aber jemand bemüht, gute Freunde zu bekommen und Feinde zu bezwingen oder an Körper und Seele tüchtig zu werden, sein Hauswesen wohl zu bestellen, den Freunden wohlzutun und dem Vaterland zu nützen, dann muss man doch glauben, dass er sich gern für solche Zwecke anstrengt und voll Freude lebt, zufrieden mit sich selbst, gelobt und nachgeahmt von den anderen“ (S. 144, Anm. 131). Xenophon hebt das für ihn selbst zentrale Motiv der „freudigen Anstrengung“ mit dem unmittelbar folgenden Hesiodzitat ( Erga 287 ff.) und der Wiedergabe der Prodikosfabel von Herakles am Scheideweg ( Memorabilien 2, 1, 21-34) nachdrücklich und anschaulich hervor. Anstrengung und Glück gehören für Xenophons Sokrates und für Xenophon selbst zusammen. Denn Anstrengung ist eine notwendige Bedingung des Glückes.

4. Es ist nur konsequent, dass Xenophon, der in seinen Memorabilien die „Nützlichkeit“ des Sokrates für seine Mitwelt beweisen wollte, den utilitaristischen Charakter der Freundschaft so stark betont. Denn wenn der gegenseitige Nutzen der entscheidende Zweck ist, Freundschaften zu schließen, ist jemand, der viele Freunde hat, vielen Menschen auch nützlich.

In diesem Zusammenhang befasst sich Chernyakhovskaya ausführlich mit dem als Spudaiogelaion zu verstehenden Gespräch zwischen Sokrates und der schönen Hetäre Theodote ( Mem. 3, 11). Hier wolle dieser auf scherzhaft-lockere Weise die Überlegenheit des Rationalen gegenüber dem Körperlichen demonstrieren. Das Gespräch ist als ein Duell der Schönheit (Theodote) mit dem Logos (Sokrates) zu verstehen: Theodote fordert Sokrates auf, möglichst oft zu ihm zu kommen und ihr auf der Jagd nach Freunden zu helfen. Aber Sokrates – so behauptet er – hat keine Zeit: „Und dann sind da auch noch meine eigenen Freundinnen, die mich Tag und Nacht nicht fortgehen lassen . . .“ Mit diesen „Freundinnen“ sind – so Chernyakhovskaya – die „Freuden“ gemeint, die der xenophontische Sokrates in dem lebenslangen Prozess seiner Selbstoptimierung empfindet (so u. a. auch Mem. 4, 8): es sind die Freuden bei der Anstrengung im Ringen um Arete und beim ununterbrochenen Training in Enkratie und Karterie. Diesen „Freundinnen“ kann und will Sokrates nicht widerstehen; denn er ist von ihrer Magie bezaubert. Dass Chernyakhovskaya auf die zentrale Bedeutung des Theodote-Kapitels ( Mem. 3, 11) für Xenophons Sokratesbild (und sein Selbstbild) hinweist, verdient besondere Erwähnung.

5. Im vorletzten Kapitel der Darstellung skizziert Chernyakhovskaya Sokrates’ Verhältnis zu den Gesetzen der Polis. Obwohl er den Gesetzgebern die notwendigen Kompetenzen abspricht, plädiert er für die Achtung vor den gegebenen Gesetzen. Dieser Widerspruch ließe sich auflösen, wenn Gesetz und Recht identisch wären. Aber Sokrates lehnt diese Gleichsetzung als wirklichkeitsfremd ab. Er vertritt vielmehr die Auffassung, dass es ein Gerechtes noch außerhalb des Gesetzlichen gebe. Doch die Gleichung „gesetzlich = gerecht“ leuchtet dann wieder unter der Voraussetzung ein, dass man „gerechtes Handeln“ ebenso wie auch „gesetzliches Handeln“ für nützlich erklärt; so scheint die Gleichung „gesetzlich = gerecht“ Bestand zu haben: Wenn gesetzlich gleich nützlich und gerecht gleich nützlich bedeutet, dann ist gerecht gleich gesetzlich. Doch Chernyakhovskaya weist mit Recht darauf hin, dass diese Argumentation logisch nicht akzeptabel ist, auch wenn sie Sokrates im Gespräch mit dem Sophisten Hippias ( Mem. 4, 4) einzuleuchten scheint. Schon in dem kurzen Gespräch zwischen Alkibiades und Perikles ( Mem. 1, 2, 41-6) wurde erörtert, was ein Gesetz sei. Als ein Gesetz könne nur ein gerechtes Gesetz gelten. Dieses komme aber niemals durch Gewalt, sondern nur durch Überzeugungsarbeit zustande. Chernyakhovskaya zieht daraus folgenden Schluss: weil das Übertreten eines Gesetzes ebenfalls Gewalt bedeutet, kann selbst ein ungerechtes Gesetz nur durch Überzeugungsarbeit revidiert werden. „Sokrates erlaubte seinen Schülern (wenn er auch nicht dazu aufrief), die geltenden Gesetze kritisch zu betrachten, und folglich nahm er (wenigstens rein theoretisch) die Möglichkeit an, dass Gesetze ungerecht sein können – die Möglichkeit, die er im Gespräch mit Hippias gänzlich ausschließt“ (S. 213). Was gerecht ist, ist also verhandelbar. Dass Sokrates selbst nicht in diesem Sinne „verhandelte“, als er z. B. Weisungen der Dreißig Tyrannen ignorierte, übersieht Chernyakhovskaya nicht (S. 227, Anm. 94).

6. Den Abschluss der Studie bilden die religiösen Überzeugungen des Sokrates. Er betont immer wieder den Wert der Frömmigkeit, die sich in der Anerkennung der göttlichen Ordnung der Welt ausdrückt . „Der anthropozentrische und rational-theologische Charakter des Aufbaus des Universums, welchem nach dem Xenophontischen Sokrates das Prinzip des Nutzens für den Menschen zugrunde liegt, beweist nach seiner Meinung einerseits dessen göttlichen Ursprung und andererseits die Philanthropie der Götter“ (S. 232)

Olga Chernyakhovskaya legte eine gedankenreiche, fundierte, anregende und gut lesbare Darstellung des Xenophontischen Sokrates vor, mit der sie zugleich – und darin besteht der besondere Wert der Arbeit – ein facettenreiches Bild des Autors selbst zeichnete. Die Arbeit ist durch eine gute Gliederung so überschaubar, dass ein Register der zentralen Begriffe und der erwähnten antiken Autoren neben der Auflistung der diskutierten Xenophon-Stellen nicht erforderlich erscheint. Da bereits Karl Joël (1893/1901) einen „Xenophontischen“ von einem „echten“ Sokrates unterschied und Hans Rudolf Breitenbach in seinem großen RE-Artikel ( RE 9, A 2 [1967], 1569-2052) Joëls methodischen Ansatz für maßgebend erklärte, hätte eine etwas ausführlichere forschungsgeschichtliche Anmerkung zu Joëls Argumentation die Studie vielleicht noch ein wenig bereichert, ohne Antisthenes zu viel Ehre zu erweisen und das Xenophontische durch allzu viel Antisthenisches zu verwässern. Es würde sich lohnen, das von Chernyakhovskaya so erfolgreich angewandte Verfahren auch für die Interpretation anderer Schriften Xenophons wie zum Beispiel der Kyrupädie oder des Hieron zu nutzen und das spezifisch Xenophontische an Xenophons Bild des Kyros oder des Simonides herauszuarbeiten.