War Platon Platoniker? Die antiken Interpreten, angefangen mit Aristoteles, haben diese Frage einhellig bejaht. Ebenso entschieden verneint die Mehrzahl der zeitgenössischen Platoninterpreten die Frage. Vor allem in der englischsprachigen Forschung besteht ein breiter Konsens, daß Platons Philosophie kein „Platonismus“ war, während es in Kontinentaleuropa von Leon Robin und Julius Stenzel über Hans Joachim Krämer, Konrad Gaiser und Thomas Alexander Szlezák bis zu Giovanni Reale und dem Rezensenten eine wachsende Minderheit gibt, die die Frage durchaus bejaht und dementsprechend eine Lehrkontinuität zwischen Platon, seinen Schülern in der Akademie und den Platonikern der späteren Antike wie Plotin und Proklos annimmt. Lloyd P. Gerson, der mit Arbeiten über den Neuplatonismus und Aristoteles bekannt geworden ist – vor allem durch sein 2005 erschienenes Buch Aristotle and Other Platonists – stellt die Frage nach dem Platonismus Platons aufs Neue und entscheidet sie gegen den Mainstream: Platon war selbst Platoniker.
So provokativ diese These für die Mehrheit der angelsächsischen Leser zweifellos ist, sowenig neu und überraschend ist sie für den deutschsprachigen Leser. Vor allem Hans Joachim Krämer hat in seinen beiden grundlegenden Werken Arete bei Platon und Aristoteles (1959) und Der Ursprung der Geistmetaphysik (1964) detailliert und mit stupender Gelehrsamkeit gezeigt, daß Platons Philosophie in ihrem systematischen Kern eine Metaphysik des transzendenten Einen und des als Geist und Denken seiner selbst verfaßten Ideenkosmos ist und daß ferner zwischen der Alten Akademie und dem Neuplatonismus, speziell Plotin, eine Lehrkontinuität belegt werden kann, die das „Neu“ im „Neuplatonismus“ mehr als fragwürdig erscheinen läßt. Schon vor Krämer hatte Philip Merlan in seinem Werk From Platonism to Neoplatonism (1953) bewiesen, daß sich so gut wie alle systembildenden Motive des „Neuplatonismus“ bereits in der Alten Akademie nachweisen lassen, also mindestens bei den unmittelbaren Schülern Platons wie Speusipp, Xenokrates, Hermodor oder Aristoteles. Gleichwohl bedeutet Lloyd Gersons neues Buch nicht nur in der anglophonen Provinz, sondern auch für die kontinentale Forschung einen bedeutenden Fortschritt, weil seine Argumentation für den Platonismus Platons ausgesprochen originell, umsichtig und von dogmatischen Vorannahmen unbelastet ist. Wenn Gersons Argumentation überzeugt – und den Rezensenten hat sie überzeugt –, dann könnte dieses Buch einen Durchbruch bedeuten, es könnte das Schisma zwischen der überwiegend anti-metaphysischen angelsächsischen und der metaphysikaffinen kontinentalen und zumal deutschen Platonforschung heilen.
Gersons entscheidender Zug ist eine Neubestimmung dessen, was „Platonismus“ eigentlich bedeutet und beabsichtigt. Dem ist der erste und wohl gewichtigste Teil seines Buches gewidmet („Plato and his Readers“: S. 3-129). Ausgangspunkt ist die auf den ersten Blick wenig aufregende und ganz gewiß zutreffende Beobachtung, daß ein durchgehender und dominanter Zug aller Dialoge Platons ihr Anti-Naturalismus ist. Bei genauerem Zusehen läßt sich dieser Anti-Naturalismus in fünf Richtungen spezifizieren: die Platonischen Dialoge vertreten – gegen Positionen, die sämtlich von den Vorsokratikern und den Sophisten entwickelt wurden – einen Anti-Nominalismus, Anti-Mechanismus, Anti-Materialismus, Anti-Relativismus und Anti-Skeptizismus. Diesen fünffach spezifizierten Anti-Naturalismus nennt Gerson „Ur-Platonismus“ (UP). „Platonismus“ ist für Gerson nun der Versuch, auf dieser Grundlage eine philosophische Position zu entwickeln, welche die fünf Antis des UP in einem kohärenten Gedankengebäude systematisch verbindet und begründet – kurz: „Platonismus“ ist das positive Gegenstück des anti-naturalistischen UP in Gestalt einer ausgeführten philosophischen Theorie, wir können auch sagen: in Gestalt einer Metaphysik (S. 9-19). Gerson folgert daraus, auch Platons eigene philosophische Position sei in genau diesem Sinne „Platonismus“ (S. 19-33). Daraus folgt aber weiter, daß nur eine solche Lesart der Platonischen Dialoge „platonisch“ und legitim ist, die das Ziel einer positiven metaphysischen Antwort auf den Naturalismus im Auge behält. Zumal vor dem Hintergrund der von Antimetaphysikern dominierten angelsächsischen Platonforschung ist damit Entscheidendes gewonnen. Auf dieser Grundlage kann Gerson nämlich die vor allem von Gregory Vlastos (und seinen zahlreichen Nachfolgern) vertretene Deutung Platons als eines Sokratikers, der nur Fragen gestellt und die Antworten anderer kritisiert, aber keine eigene positive Theorie vertreten hätte, zurückweisen (S. 34-72). Auch der Streit zwischen einer unitarischen Platondeutung, die in und hinter den verschiedenen Dialogen eine einheitliche und im Wesentlichen konstant bleibende philosophische Position sucht, und den Anhängern einer entwicklungsgeschichtlichen Deutung, für die Platon seine Position – im Extremfall in jedem Dialog – immer wieder neu und vor allem immer wieder anders entwickelt, wird entschärft und im Prinzip im Sinne des Unitarismus entschieden. Denn der UP kennzeichne alle frühen, mittleren und späten Dialoge Platons gleichermaßen und darum dienten sie alle dem Ziel, eine positive Antwort auf den UP zu finden. Dies schließe nicht aus, daß sich Platons Antwort im Detail entwickelt habe, aber die Zielrichtung sei immer dieselbe und ändere sich nicht (S. 75-83). Eine Deutung Platons als Dichter und Künstler, der gar keine philosophische Position vertreten wolle (wie sie vor allem auf Friedrich Schlegel zurückgeht), werde durch den UP definitiv ausgeschlossen (S. 83-91). Entscheidend ist, daß Gerson Platons Selbstzeugnis im Phaidros und im 7. Brief ernstnimmt, demzufolge die Dialoge Platons Philosophie weder vollständig noch in systematischer Entfaltung und Begründung enthalten (S. 91 ff.). Um Platons positive und ausgeführte metaphysische Antwort auf den Naturalismus der Vorsokratiker und Sophisten zu rekonstruieren, reichen seine Dialoge nicht aus. Wir müssen dafür auf die reiche antike Überlieferung einer „ungeschriebenen Lehre“ Platons zurückgreifen, die inhaltlich über die Dialoge hinausgeht, und zwar vor allem was die Fundamente der Philosophie Platons betrifft. Für Gerson sind dabei die ausführlichen Zeugnisse des Aristoteles zentral. Aristoteles selber deutet Gerson als einen Platoniker, also als einen Philosophen, der eine anti-naturalistische Metaphysik als Antwort auf den UP entwickelt habe. Allerdings unterscheidet sich Aristoteles’ eigene Antwort auf den UP deutlich von derjenigen seines Lehrers. Gerade deswegen aber sind Aristoteles’ Referate über Platon unbeschadet ihres polemischen Charakters zuverlässig und grundlegend für ein „platonisches“, also historisch und sachlich angemessenes Verständnis Platons. Harold Cherniss’ Generalangriff auf die Zuverlässigkeit des Hauptzeugen Aristoteles weist Gerson zurück – wie vor ihm schon Sir David Ross, Paul Wilpert, Cornelia de Vogel und vor allem Krämer. Die Zuverlässigkeit bewährt sich auch darin, daß wir genau unterscheiden können zwischen den Referaten der Prinzipien- und Ideal-Zahlenlehre Platons und Aristoteles’ Kritik an diesen Lehren, die durch Aristoteles’ eigene Version des „Platonismus“ motiviert wird, die sich von jener Platons am deutlichsten durch die Immanenz der Ideen in den Dingen und der Prinzipien in ihren Prinzipiaten unterscheidet (S. 97-129).
Aufbauend auf diesem neu gewonnen Verständnis von „Platonismus“ unternimmt Gerson eine Neubestimmung des Verhältnisses des historischen antiken Platonismus zu Platon selbst. Dies geschieht in zwei Schritten, die die Teile II und III seines Buches bilden. Teil II deutet die Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin als eine creatio continua des Platonismus (S. 133-223). Grundlegend war dafür die Alte Akademie und deren wichtigster Denker nach Platon selbst war Speusipp – und zwar vor allem durch seine henologische Prinzipientheorie, die mit der absoluten Transzendenz des Einen auf den Neuplatonismus vorausweist, aber auch durch seine holistische Konzeption von Erkenntnis, wonach die Erkenntnis einer bestimmten Wesenheit ein implizites Wissen des systematischen Beziehungsganzen aller Wesenheiten (Ideen) voraussetzt (S. 134-53). In weiteren Kapiteln behandelt Gerson die akademische Skepsis (S. 163 ff.), den Mittelplatonismus (S. 179 ff.) und – als wichtigsten mittelplatonischen Vorgänger Plotins – Numenios (S. 208 ff.). Gerson orientiert sich hier weitgehend an den maßgebenden Forschungen von Hans Joachim Krämer und John Dillon. Am originellsten ist wohl seine überzeugende Neubewertung der akademischen Skepsis, die er von seinem Ansatz aus als einen echten, wenn auch negativen Platonismus verstehen kann. Denn die Kritik der akademischen Skeptiker zielt gegen den stoischen Naturalismus und steht damit offenkundig auf dem Boden des UP. Ob sie nun eine positive metaphysische Antwort auf den Naturalismus ex negativo vorbereiten soll (was einige Quellen nahezulegen scheinen und was Hegel glaubte) oder nicht, jedenfalls ist der UP das gemeinsame Fundament der akademischen Skepsis wie des metaphysischen Platonismus. Wenn das richtig ist, dann übergreift die Kontinuität des antiken Platonismus auch die metaphysikfeindliche Epoche des Hellenismus. Den von Heinrich Dörrie gegen Krämers Kontinuitätsthese behaupteten „Bruch“ zwischen der Alten Akademie und dem im 1. Jh. v. Chr. vermeintlich neu konstituierten Platonismus der Kaiserzeit gibt es nicht.
Der III. Teil des Buches ist Plotin gewidmet, dem „Exegeten der Platonischen Offenbarung“ (S. 227-304). Gerson geht aus von Plotins Selbstauslegung als Interpret Platons und nimmt diese Selbstauslegung radikal ernst: er deutet Plotins Philosophie mit aller Konsequenz als systematische Rekonstruktion der Metaphysik Platons auf der Grundlage der Dialoge und der Zeugnisse über Platons „ungeschriebene Lehre“. Plotins Metaphysik des überseienden Einen und seiner „Hypostasen“ Geist, Seele und Materie realisiert den „Platonismus als System“ (S. 227-54). In zwei weiteren Kapiteln behandelt Gerson zentrale theoretische und praktische Aspekte von Plotins Platonrekonstruktion: den Begriff der Materie (S. 257 ff.), das Verhältnis von Sein und Werden (S. 263 ff.), die Kategorien der intelligiblen Welt (S. 270 ff.) und Plotins konsequent monistische Deutung des Verhältnisses der Unbestimmten Zweiheit zum absoluten Einen (S. 276 ff.) sowie das Verständnis des menschlichen Selbst als denkende Geistseele (S. 284 ff.), die Gleichwerdung mit dem Göttlichen als Ziel des Lebens (S. 293 ff.) und Plotins vehemente Verteidigung der Freiheit und moralischen Verantwortlichkeit des Menschen gegen den naturalistischen Determinismus der Stoiker (S. 299 ff.). Gerson bestätigt dabei in der großen Linie das Ergebnis, zu dem schon Krämer in seinem Ursprung der Geistmetaphysik (1964) kam, ebenso der Rezensent in Der Aufstieg zum Einen (1992): Plotins Philosophie ist viel weniger originell und enthält viel mehr genuinen Platon als allgemein angenommen (S. 305 ff.). Das spricht nicht gegen, sondern für Plotins herausragenden Rang als Denker: er ist der eigentliche Wiederhersteller der Platonischen Metaphysik, als den ihn schon Proklos gepriesen hat. Erst durch das Medium der Metaphysik Plotins erkennen wir, was „Platonismus“ in seiner philosophisch anspruchsvollsten und systematisch kohärentesten Form ist. Und genau darum erfassen wir auch erst durch Plotin den wahren denkerischen Rang Platons, die ganze philosophische Kraft seiner Ansätze und Einsichten.
Zu den wichtigsten Erträgen von Gersons reichem Buch gehört die Einsicht in die enorme innere Variationsbreite dessen, was legitimerweise „Platonismus“ heißen kann. Das läßt sich auch auf Gerson selbst anwenden. So sehr man seine energische Neubestimmung des Platonismus aus dem anti-naturalistischen Grundansatz Platons und seine vorbehaltlose Öffnung für die kontinentale Platondeutung begrüßen darf, so möchte man doch seinen Interpretationen in manchen Details widersprechen. Daß etwa Platons Anti-Nominalismus ausgerechnet gegen die Eleaten gerichtet sein soll (S. 12), leuchtet mir überhaupt nicht ein – im Gegenteil: Parmenides legt mit der Einheit von Denken und Sein (B3 DK) das Fundament des Anti-Nominalismus. Mein Dissens gilt speziell manchen Aspekten von Gersons Plotindeutung. Sie ist die Verstandesansicht einer Vernunftphilosophie. Plotins paradoxienverliebter Denkstil, seine gegen die Gegenstandsfixiertheit des rationalen Denkens konsequent andenkende und auf Entgegenständlichung abzielende Dialektik, seine explizite Kritik am Aristotelischen Widerspruchsprinzip (die Cusanus und Hegel aufnehmen und radikalisieren), seine konsequent negative Theologie des absolut transzendenten Absoluten, die konstitutive Bedeutung, die Platons Parmenides – und speziell die erste Hypothese (137 C – 142 A) – für Plotins Begriff des Einen hat – all das kommt zu kurz oder bleibt unterbelichtet. Statt dessen wundert man sich, wenn Existenz und Essenz im Einen zusammenfallen sollen (Plotin spricht dem Einen beides ab) oder wenn das Eine als Urgrund der Ideen alle Ideen schon in sich enthalten soll (Plotin lehrt dagegen, daß die Unbestimmte Zweiheit als Vorform des Geistes die Ideen im Transzendenzbezug zum undenkbaren Einen selber erst hervorbringt und dadurch Geist wird). Ein ganzer Abschnitt behandelt das Gute als Eros (S. 280-2) – Gerson nimmt da ein kühnes Gedankenexperiment Plotins in VI 8, 15 als dogmatisch gültige affirmative Aussage, obwohl Plotin affirmative Aussagen über das Eine sonst (besonders auch in VI 8) kategorisch ablehnt.
Doch der Dissens betrifft nur Details. Ich kenne keine andere englischsprachige Monographie, die Plotins Selbstauslegung als Interpret Platons so konsequent zur Grundlage der Plotindeutung nimmt und die so energisch für die Legitimität von Plotins Rekonstruktion der Metaphysik Platons eintritt. Mit Gersons Buch scheint die „Tübinger Schule“ endlich auch in der anglophonen Welt angekommen zu sein. Gerson rezipiert sie von einem eigenen und originellen Ansatz aus, der eine wichtige neue Perspektive eröffnet. Man wünscht diesem wichtigen Buch viele aufmerksame Leser. Es würde eine Übersetzung ins Deutsche verdienen.