BMCR 2012.12.37

Diodore d’Agyrion et l’histoire de la Sicile. Dialogues d’histoire ancienne supplément, 6

, Diodore d’Agyrion et l’histoire de la Sicile. Dialogues d’histoire ancienne supplément, 6. Besançon: Presses universitaires de Franche-Comté, 2011. 230. ISBN 9782848674117. €21.00 (pb).

Table of Contents

Nachdem Diodor lange als unselbständiger „Schreiberling“ galt, der vornehmlich als Florilegium für die Rekonstruktion nicht erhaltener Werke älterer Historiker taugte, wird heute sein Bemühen gewürdigt, mit eigenständiger Orientierung Geschichte zu schreiben, durch welche das moralische Urteil seiner Leser gefördert werden sollte. Ferner ist anerkannt, dass er sich nicht zum Sklaven seiner Vorlagen machte und pointiert seine Einschätzungen zur Aufgabe der Geschichtsschreibung mit ihren moralischen und didaktischen Seiten vorstellte. Als Autor der späthellenistischen Zeit zeigte er sich dabei als Verfechter einer kosmopolitischen Toleranz in einer als Einheit gesehenen Welt. Originell war seine Bündelung von Themen der damaligen Historiographie, darunter seine Betonung der týche und der prónoia bedeutender historischer Figuren, deren innere Haltung und Politik wie die Gelons und Timoleons von Mäßigung und philanthropía geleitet waren.

In diese (und andere) von der Herausgeberin einleitend (9-17) skizzierten Tendenzen und Ergebnisse moderner Diodor-Forschung fügt sich vorliegender Sammelband ein, der einige Druckfehler aufweist, aber insgesamt sorgfältig produziert ist. Seine sieben Beiträge, zunächst 2009 während einer rencontre in Lyon vorgestellt, analysieren die Werkpartien, die Diodor seiner Heimatinsel Sizilien im universalhistorischen Rahmen der koinè historía widmete. Gestützt u.a. auf die reiche Historiographie über Sikeliká (FGrHist 554-577), betrachtete er Sizilien nicht als Nabel der Welt, wohl aber neben den anderen Polen Rom und Hellas als annähernd gleichbedeutenden Teil derselben mit wertvollen, eigenständigen Traditionen. Die Beiträge untersuchen teils die methodische Seite seiner Darstellung Siziliens, teils deren Wert für die Rekonstruktion der Geschichte der Insel. Sie unterstreichen mehrfach, dass Perspektiven des 1. Jh.s v.Chr. Diodors Berichte über die Vergangenheit Siziliens prägten. Insgesamt ist der Band als ein vielseitiger und positiver Beitrag zu einem differenzierten Bild von Arbeitsweisen und Intentionen des Historikers Diodor zu werten, der sich auf einen geographischen und historischen Teil der Universalgeschichte fokussiert, welcher ihm besonders am Herzen lag. Hier kann es nur darum gehen, einige Interpretationswege und Ergebnisse der einzelnen Essays zu skizzieren.

Welchen Platz nahm das mythische und das historische Sizilien in der Gesamtarchitektur der Bibliothéke ein, lautet die Frage von Pascale Giovannelli-Jouanna (21-41). Sie untersucht den strukturellen Beitrag der Sizilienpassagen für den Aufbau der Universalgeschichte auf drei Ebenen: einmal ihre Verteilung innerhalb der koinaì práxeis in mythischer Zeit und im spatium historicum. Sizilien fand dabei Aufmerksamkeit sowohl innerhalb der katà génos angelegten mythischen Bücher als auch in denen, die nach den Schauplätzen des Geschehens gegliedert sind oder durch dominierende Personen (Dion, Timoleon etc.) bestimmt sind. Die anderen Ebenen sind die Einfügung Siziliens in das Konzept der moralischen Geschichtsschreibung, das er verfocht, und der privilegierte Platz, den Diodor der Insel zuwies. Sizilien diente unverkennbar als ein eigenes principe structurel der Bibliothéke, bei dem der Lokalpatriotismus des Autors durchschlug. Fürsorge und Wohltaten, mit welchen Götter und Helden Sizilien früher als andere Regionen ausgezeichnet hatten, sind die Basis seiner Bedeutung. Hervorragende Taten mythischer wie historischer Akteure dienten Diodor als paradeígmata; ihre Leistungen (etwa für die Förderung der Zivilisation) konnten und sollten als Vorbilder für die Leser wirken, da sie den Moralvorstellungen Diodors entsprachen. Zentrale Werte waren hierbei Seelengröße, Mäßigung und philanthropía. Gelon oder Dion verkörperten sie; moralisch abschreckende Gegenbeispiele waren Tyrannen wie Agathokles. Diese paradeígmata bewiesen weiter, dass Sizilien ein erstrangiges Gebiet griechischer Entwicklung war, das Zivilisation und Fortschritt beheimatete. Wie Giovannelli-Jouanna herausarbeitet, war Diodors ‚sizilischer’ Patriotismus nicht politisch geprägt, sondern bestimmt durch den Beitrag der Insel zur gemeinsamen Kultur der Griechen und generell zu ihrer Geschichte. Dabei bezog er sich auf unterschiedliche Referenzrahmen: auf die Beziehungen der Sikelioten zu Hellas, die zwischen dem griechischen Sizilien und Rom und die Bedeutung Agyrions für die übrigen Sikelioten. So zeigte etwa die Schlacht von Himera diese als erste siegreich gegen die Barbaren, während die Griechen im Mutterland zunächst unterlegen waren. Daran ließ sich sogar die moralische und ideologische Priorität Siziliens festmachen. Roms Herrschaft begrüßte Diodor, betonte aber den Eigenwert der sikeliotischen Traditionen.

Das mythische und historische Erbe Siziliens war für Diodor unstreitig höchst wertvoll, schenkte es doch der Kulturwelt nicht nur den Getreideanbau. Wie Renaud Robert illustriert (43-68), hob er den Heros Daidalos hervor, der sich in zahlreichen materiellen Zeugnissen fassen ließ, als Zivilisationsheld, dessen Bauten auf die Dionysios’ I. und Timoleons vorauswiesen. Wie Herakles, dessen reiche Spuren auf der Insel Diodor verfolgte, präfigurierte auch er der griechischen Kolonisation und rechtfertigte sie im voraus. Siziliens Landkarte war ferner besetzt von Orten und Monumenten, welche den zivilisierenden Einfluss und die dahin wirkende Präsenz von Göttern und Heroen spiegelten. Der Mythos manifestierte sich in der Landschaft, die als Erinnerungsort wirkte, und dies trug zum Prestige Siziliens bei. An Malern, Bildhauern und ihren Kunstwerken war Diodor dagegen kaum interessiert. Kunstwerke, die er mit Luxus verknüpfte, führte er gelegentlich an, um die Prosperität zu belegen, verwies aber auch auf ihre Problematik, da der in ihnen greifbare Reichtum Gier, Plünderungen und Sakrilegien auslösen konnte. Moralische Qualitäten waren für ihn zentrales Charakteristikum ‚großer Männer‘ und Grundlage guter Regierung, deren Prinzipien Diodor Poseidonios entlehnte.

Die Herausgeberin selbst befasst sich mit Sizilien im 5. Jh. (71-112), das Diodor (wie Timoleons Ära) als eine Art Goldenes Zeitalter der Insel gesehen hat. Freilich ergaben die enorme Prosperität Siziliens und die zahlreichen innergriechischen Auseinandersetzungen sowie die mit den Barbaren ein ambivalentes Bild, das Collin Bouffier auf politischem, ökonomischem und kulturellem Gebiet untersucht. Die Entwicklung Siziliens wurde im Geschichtsbild Diodors – analog zur eigenen Lebenszeit – bestimmt durch große politische Akteure; positiv wirkte Gelon, der als herausragender Führer, als euergétes, sotér und basileús gekennzeichnet, in der Kategorie der Heroen rangierte, von denen nach Auffassung des Historikers letztlich der Fortschritt der ganzen Menschheit vorangetrieben wurde. Da Diodor durch die Darstellung vorbildhafter Menschen pädagogisch wirken wollte, kam es ihm nicht auf die Verfassungsformen an; eine Diskussion der Vor- und Nachteile von Monarchie oder Demokratie unterblieb daher. Betont hat er den Gegensatz zwischen Gelon und Theron sowie die Konfliktlinien zwischen Euboiern und Doriern, weiter die Rivalität zwischen Agrigent und Syrakus sowie die der als Einheit betrachteten Griechen Siziliens und der Karthager/Barbaren. Ferner hob er die Einheit der Sikelioten hervor und die Gleichrangigkeit ihrer Leistungen im Barbarenkampf mit denen ihrer mutterländischen Vettern. Seine Betonung der Prosperität Siziliens (vor 409), die allerdings begleitet wurde von einem ständigen Fortlauf von Neuansiedlungen, Landverteilungen und Vertreibungen, die Altbürger, griechische Kolonisten, Söldner und Fremde betrafen, ist zu pauschal, um den differenzierten Gegebenheiten archäologischer Befunde entsprechen zu können. Aufgrund enormer Bevölkerungsfluktuationen hatte das 5. Jh. für den Historiker revolutionäre Aspekte. Im Unterschied zu solchen soziopolitischen Problemen betrachtete Diodor die kulturelle Entwicklung als uneingeschränkt positiv. Die rege profane und sakrale Bautätigkeit nach 480 war eines ihrer Indizien. Den Luxus der Elite, den Diodor anhand der Verhältnisse in Akragas exemplifizierte, nahm er nicht als Ansatzpunkt einer Kritik sikeliotischer tryphé, sondern als Indiz des Wohlstandes der Poleis. Insgesamt tendierte Diodor zu einem panegyrischen Bild der Insel, ohne aber Spannungen, Umstürze etc. des 5. Jh.s zu übergehen. Obwohl er die Verhältnisse eher statisch im Sinne einer insgesamt wirtschaftlich aufblühenden Insel darstellte, bietet sein Bericht hinsichtlich der damaligen kulturellen, sozioökonomischen und politischen Entwicklungen wichtige Anknüpfungspunkte für archäologische Untersuchungen, deren (Teil-)Ergebnisse Collin Bouffier mit Diodors Ausführungen vergleicht.

Als Teil der antiken Welt spiegelte auch Sizilien den Konflikt zwischen Hellenen und Barbaren, hier kulminierend in der Auseinandersetzung mit den Karthagern. Nicola Cusumano (113-135) ordnet Diodor in die Reihe von Autoren ein, die mit Hilfe des Antagonismus Griechen – Barbaren zur Definition und steten Re-Definition der Hellenen und der Konstruktion von Identitäten beitrugen. Bei ihm sind die Karthager des 5. und des 4. Jh.s der typische und härteste Gegner der Sikelioten und Verkörperung der alterité ihnen gegenüber schlechthin. Cusumano analysiert anhand der Belagerung von Selinunt und Motye, wie die Karthager als Erzfeinde der Griechen dargestellt und der Hass zwischen den beiden Völkern akzentuiert wird, besonders durch die Brutalitäten der Belagerungskämpfe. Hass ist das historiographische Leitthema dieser Schilderungen und der Herausarbeitung von kultureller Identität und Fremdheit sowie des Gegensatzes zwischen Zivilisation und Rohheit. Hass und Feindschaft der Sikelioten gegenüber den Barbaren sind in ihrer Konzeption anthropologisch begründet und heben sich daher ab vom politisch fundierten Tyrannenhass. Die Beziehungen zwischen Sikelioten und Karthagern schwankten laut Diodors Darstellung zwischen Reziprozität und Asymmetrie. Zwar können sich ihre Rollen gelegentlich umkehren, was letzteren aber grundsätzlich fehlt, ist die zivilisatorische und pädagogische Berufung der Griechen. Unklar lässt dieser Beitrag, ob die differenzierte Darstellung der Beziehungen, die Reziprozität und Umkehrbarkeit der Rollen beider Gruppen ebenso einschließt wie die Betonung einer letztlich unüberbrückbaren Verschiedenheit, auf Diodor zurückgeht oder nicht eher auf einen Vorläufer unter den Geschichtsschreibern Siziliens.

Die beiden folgenden Essays thematisieren, anknüpfend an eine moderne, weniger hellenozentrische Betrachtungsweise, die Akkulturation, Hellenisierung, Barbarisierung und die alterité zweier nichthellenischer Völker Siziliens. 1

Nach Aude Cohen-Skalli (137-153) stellte Diodor die Elymer des 6. und 5. Jh.s nicht als ethnische Einheit vor, sondern behandelte die Polis Segesta und das Aphroditeheiligtum am Eryx separat. Ihre nichtgriechische Herkunft wurde nicht verschwiegen, doch galten sie Diodor als hellenisierte Zentren. Die Autorin veranschaulicht, dass er sich hierbei von den Verhältnissen seiner Zeit leiten ließ, in der alte ethnische Gegensätze bedeutungslos geworden waren und Polis wie Heiligtum als bedeutende Traditionsträger Anerkennung genossen, sowohl seitens hellenischer und hellenisierter Provinzialen wie auch der Römer. Ein Vergleich mit Ciceros Verrinen bestärkt den Eindruck, dass die zeitgenössische Perspektive dominierte, die Vergangenheit der Elymer seit dem 6. Jh. überprägte und ihre Differenzen gegenüber den Griechen in den Hintergrund rückte.

Sandra Péré-Noguès (155-170) konzentriert sich auf die Darstellung der Sikeler und ihres berühmten Anführers Duketios. Diodor betonte Mischung und Akkulturationen zwischen den Bevölkerungsgruppen Siziliens und deren ethnische Vielgestaltigkeit. Er überzeichnete freilich die Homogenität der Sikeler unter der Führung des Duketios. Dieser wurde als ein bedeutender ‚heroischer‘ Führer gedeutet, der in der Erinnerungskultur der Sikelioten weitertradiert wurde wie ‚große Männer‘ in Hellas, weil er für rund zwanzig Jahre eine immense Bedrohung für die Griechen der Insel dargestellt hatte. Zugleich wurde er in Anlehnung an ihre Deutungsmuster als Städtegründer charakterisiert und seine Aktivitäten mit denen der Tyrannen verglichen. Aufgrund seiner historischen Bedeutung und seiner engen Bindung an Palike und sein Heiligtum war Duketios eine historische Figur, die im 1. Jh. von Interesse war für ein sizilisches, provinziales Lesepublikum, das Diodors ausführliche Erörterung der Lokalgeschichte Siziliens um die Mitte des 5. Jh.s zu genießen verstand.

Sylvie Pittia bilanziert anhand der Exzerpte aus byzantinischer Zeit im längsten Abschnitt des Bandes zunächst die Überlieferungsgeschichte der Bücher 21-40 und sodann deren Sizilien in der republikanischen Epoche betreffende Teile (171-226). Trotz mancher Unsicherheiten bleiben diese fragmentarischen Texte unverzichtbar, um historische Zusammenhänge zu rekonstruieren, die Pyrrhos, Hieron II. oder die Sklavenrevolten des 2. Jh.s betreffen. Dies macht Diodor auch als Historiker Roms wertvoll. Er konzentrierte sich sehr stark auf militärische und diplomatische Aktivitäten, auch wenn die Auszüge aufgrund von Verkürzungen und Heterogenität möglicherweise einen einseitigen Eindruck vermitteln. Auffällig ist seine Vorliebe für Zahlenangaben zu Truppenstärken, revoltierenden Sklaven etc. Nach dem verfügbaren Textbestand berücksichtigte er eingehend die Geographie und die jeweiligen Identitäten und individuellen Entwicklungen der einzelnen Städte. Hierbei stützte er sich offenbar auf ausgezeichnete Vorlagen, doch geht Pittia der Frage nach den Quellen dieser Werkteile nicht nach. Von den ‚großen‘, für Sizilien relevanten Persönlichkeiten republikanischer Zeit fand Hieron II. Anerkennung als guter König, offenbar primär wegen seiner Romtreue. Positiv gezeichnet sind auch karthagische Generäle der Mitte des 3. Jh.s, deren römische Kontrahenten eher schlecht wegkommen. Generell eher kritisch sah er römische Magistrate, die auf der Insel wirkten, und Exzesse der Provinzialpolitik lehnte er ab. Insgesamt scheint seine Geschichte Siziliens vom Beginn des 3. Jh.s an inhomogen gewesen zu sein. Mit Pittia ist anzunehmen, dass hierin unterschiedliche Interessenschwerpunkte seiner Vorlagen durchschlagen. Als Grundzug ist aber zu erkennen, dass Diodor mehr auf die einzelnen Städte als auf eine sizilische Gesamtheit schaute, welche die Sicht der römischen Provinzialherrschaft bestimmte. Sein roter Faden waren die ständigen Auseinandersetzungen konkurrierender Mächte, die um Sizilien kämpften.

Notes

1. Ein anscheinend geplanter Beitrag über die Sikaner (15) fehlt.