BMCR 2012.12.20

Der pseudovergilische Culex: Text, Übersetzung, Kommentar. Hermes. Einzelschriften Bd 105

, Der pseudovergilische Culex: Text, Übersetzung, Kommentar. Hermes. Einzelschriften Bd 105. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2012. 260. ISBN 9783515098953. €54.00 (pb).

Sabine Seelentags Kommentar zum pseudovergilischen Culex ist ein wichtiges und materialreiches Arbeitsinstrument, das der Erschliessung eines der in der sog. Appendix Vergiliana überlieferten Gedichte dient, die im Laufe der Überlieferung Vergil zugeschrieben wurden, heute jedoch grossmehrheitlich als unecht gelten. Die Einleitung zum Kommentar (S. 9-45) ist nach klassischem Schema strukturiert: nacheinander abgehandelt werden Autorschaft und Datierung, Gattungsfrage, narrative Gestaltung, Sprache und Metrik sowie Text und Überlieferung. Dabei werden zuweilen—insbesondere beim Teilkapitel zu Sprache und Metrik—Einzelerkenntnisse aus dem Lemmakommentar gebündelt und in einer Zusammenschau vorausgreifend präsentiert. Es folgen der lateinische Text inkl. deutsche Prosaübersetzung (S. 46-65) und im Anschluss daran der fast zweihundert Seiten starke Lemmakommentar (S. 66-247), dessen Fokus auf Textkritik sowie Wort- und Phrasenerklärungen mit ausführlichen Parallelstellenbelegen liegt. Daran schliessen sich eine Bibliographie (S. 248-256) sowie ein knapper Schlagwortindex (S. 257-260) an; ein Stellenindex fehlt leider.

Im Folgenden seien selektiv zwei der insgesamt fünf Teilkapitel aus der Einleitung herausgegriffen und diskutiert: dasjenige zu Autorschaft und Datierung einerseits (S. 9-17) und dasjenige zur Gattungsfrage andererseits (S. 17-25). Was die Werkdatierung angeht, so referiert und teilt Seelentag die seit Dieter Güntzschels Dissertation (1972) vorherrschende (und m.E. grundsätzlich zu befürwortende) communis opinio, dass die Abfassungszeit des Culex in die Tiberianische Zeit, also zwischen 14 und 37 n.Chr., anzusetzen sei1 und es sich somit trotz der einhellig positiven Evidenz vonseiten der antiken Testimonien um ein ‘unechtes’, sprich nicht Vergil (70-19 v.Chr.) zuzuschreibendes Werk—und schon gar nicht um dessen Jugendwerk—handle. Zu bemerken ist freilich, dass keines der zahlreichen Argumente, die die Forschung vor, mit und seit Güntzschel diesbezüglich vorgebracht hat, für sich genommen eine zwingende Evidenz für eine nachvergilische Abfassung des Gedichts darstellt—so ist etwa die Deutung des Mückengrabes (Vv. 390-398) als Persiflage auf das 28 n.Chr. der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Augustusmausoleum schlüssig, aber eben nicht im eigentlichen Wortsinn ein Beweis.

Ähnliches gilt mutatis mutandis für die zahlreichen intertextuellen Berührungspunkte mit den Werken Ovids, die eine Abhängigkeit des Culex von Ovid nahelegen, aber im Einzelnen rein theoretisch auch in die umgekehrte Richtung denkbar sind. Mit anderen Worten: Es ist vielmehr die Summe der Puzzleteile, die—im Sinne einer ‘Indizienbeweiskette’—alle in dieselbe Richtung deuten, sprich eine Datierung in die Periode nach Oktavians Herrschaft implementieren. Ferner ist es sehr zu begrüssen, dass Seelentag den in der Vergangenheit zahlreich erfolgten (und gescheiterten) Autorenzuschreibungen des Culex kritisch gegenübersteht. Anregend und einige weiterführende Gedanken wert ist in diesem Zusammenhang ihre Bemerkung bezüglich dem “in der Klassischen Philologie vorherrschende[n] Verlangen nach Kontinuität” und der damit verbundenen “Vorstellung von antiker Literatur als einer (möglichst lückenlosen) Abfolge großer Namen” (S. 16), worin Seelentag den tieferen Grund für unseren Wunsch nach eindeutiger Bestimmung der Autorschaft sieht. Damit ist m.E. viel Wahres über unser Antikebild gesagt: Unser Streben nach möglichst vollständiger Entanonymisierung und Entfragmentarisierung all dessen, was uns unvollständig erscheint, spiegelt letztlich die Vorstellung einer idealisierten Antike, welche sich — plakativ gesprochen — um “edle Einfalt und stille Grösse” dreht und Unsicherheiten wie das Nichtwissen um Datierung und Autorschaft eines Textes nicht zulässt.

Was die Gattungsfrage angeht, so verortet Seelentag den pseudovergilischen Culex im Kontext der (terminologisch aus der Bibelwissenschaft übernommenen) Tradition der Pseudepigraphie, wobei zu Recht der Unterschied betont wird zwischen einer effektiven, d.h. mit arglistiger Täuschungsabsicht verbundenen Fälschung einerseits—als Beispiel dafür werden die berüchtigten Hitlertagebücher genannt—und einem literarisch motivierten Fake im Sinne einer “kreative[n] Fiktion”, eines “literarischen Erkennungsspiel[s]” (S. 17) andererseits.2 Der Culex gehört, so Seelentag, eindeutig in letztere Kategorie, suggeriert er doch mit seiner Apostrophe an Kaiser Augustus im Eingangsvers ( Lusimus, Octavi) eine vergilische Autorschaft, unterminiert diese jedoch im Folgenden mit offensichtlich bewusst eingesetzten Anachronismen wieder (z.B. den Anspielungen auf das Augustusmausoleum; s.o.) und lädt somit den Rezipienten dazu ein, das “literarische Rollenspiel” (S. 18) als “spielerische und augenzwinkernde Fälschung” (S. 21) zu enttarnen und zu geniessen und somit letztlich als “kreative[n] Kommentar zu Person und Werk des Dichters” (S. 18) zu lesen. Auf die eklatante strukturelle wie inhaltliche Parallele mit der späthellenistischen pseudohomerischen Batrachomyomachie, die in der Antike als Jugendwerk Homers galt, wird leider nur en passant verwiesen mit dem Hinweis, dass die Frage, “[o]b der Dichter die Batrachomyomachie kannte und ob er es [recte: sie] als pseudoepigraphon erkannte oder es [recte: sie] für ein echtes homerisches Jugendwerk hielt” (S. 21), nicht zu beantworten sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Frage, ob der Culex -Dichter die Batrachomyomachie gekannt und gelesen habe, doch wohl nur bedingt relevant ist. Von Interesse gewesen wären vielmehr Überlegungen zur Intertextualität der beiden Texte und zur Frage, ob sich daran allenfalls ein pseudepigraphisches Gattungsbewusstsein ablesen lasse.

Ebenfalls nur am Rande gestreift wird die Klassifizierung des Culex als Epyllion (die kurze Diskussion findet überdies seltsamerweise im Teilkapitel zu Erzähltechnik und Komposition statt, S. 27-28): Obwohl sich die Autorin zumindest in Ansätzen der Problematik dieses erst in der Neuzeit geprägten und ex post auf die Antike applizierten Gattungsbegriffs bewusst ist, bezeichnet sie ihr Mückenepos dennoch durchgehend und unbekümmert als “neoterisches Epyllion”. Gerade durch die Verknüpfung einer (vermeintlichen) Gattung ‘Epyllion’ mit einer (nebulösen) Vorstellung einer generisch aus der alexandrinischen Dichtung herzuleitenden ‘Neoterik’ wird jedoch in der Tat eine Pandorabüchse geöffnet. Seelentags Aussage, der Culex -Dichter “charakterisier[e] das Epyllion deutlich als neoterisch und ordne[] es so innerhalb des vergilischen œuvres den dichterischen Anfängen zu” (S. 29), ist in jedem Fall mit Zurückhaltung zu geniessen.3

Auf die Einleitung folgen der lateinische Text—ein aus bestehenden kritischen Ausgaben konstituierter Lesetext—und die deutsche Übersetzung. Seelentags Prosaübertragung ist angenehm lesbar, wortgetreu und—soweit ich ersehen kann—frei von Irrtümern. Hilfreich, da benutzerfreundlicher, wären allenfalls Zeilenumbrüche zwecks optischer Abgleichung mit dem Originaltext gewesen. Problematisch scheint mir allerdings Seelentags Praxis, lateinische historische Präsentien konsequent mit einem äquivalenten deutschen Präsens wiederzugeben. Die Kategorie des historischen Präsens existiert zwar auch in der deutschen Sprache,5 doch ist dessen Anwendung deutlich stärker eingeschränkt als in der lateinischen Dichtersprache. Insbesondere ist das tableauartige Changieren zwischen Präsens, Imperfekt und Perfekt, das in der lateinischen Dichtung ein häufiges und kunstvolles Stilmittel darstellt und bekanntlich gerade bei Ovid, einem wichtigen Vorbild des Culex -Dichters, zu künstlerischer Vollendung geführt wird,6 im Deutschen schlecht nachzuahmen. Dass diese falsch verstandene Genauigkeit die sonst gelungene Übersetzung streckenweise ein wenig entstellt, ist überaus schade.

Der Lemmakommentar kommt sowohl inhaltlich wie auch formal traditionell daher. So liegt der Fokus der meisten Lemmata auf Textkritik, Motivparallelen und Erklärungen zu Wörtern und Wendungen inkl. ausführliche Parallelstellenbelege, während z.B. übergreifende Analysen zu den einzelnen narrativen Einheiten des Textes eher knapp gehalten sind. Auf Fussnoten wird ebenso verzichtet wie auf Übersetzungen der z.T. recht ausführlichen lateinischen (und griechischen) Zitate; beides wäre im Sinne der Leserfreundlichkeit m.E. wünschenswert gewesen. Quantitativ jedoch lässt der Kommentar kaum Wünsche offen—wer mit dem oder am Text arbeiten will, findet Material und Informationen in Hülle und Fülle. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass der Culex sehr schlecht überliefert ist und somit eine erkleckliche Zahl dorniger textkritischer Probleme mit sich bringt. Seelentag hat in diesem Bereich fast schon eine kleine Herkulesarbeit geleistet, indem sie an allen textkritisch problematischen Stellen eine möglichst umfassende Diskussion der bestehenden Varianten und Emendationsversuche bietet. Dem Gräzisten fällt ferner auf, dass an der einen oder anderen Stelle ein zusätzlicher Hinweis auf griechische Parallelen (die die Autorin an manchen Stellen durchaus bietet!) fruchtbar hätte sein können —so z.B. (um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen) im Kommentar zu V. 175 zur Wendung ducem gregis, die ohne Zweifel “den Hirten in humoristischer Weise in die Reihe der großen epischen duces ” stellt (S. 150), v.a. aber auch eine komische Inversion der homerischen Metapher vom militärischen Anführer als dem “Hirten der Völker” darstellt—eine Metapher, die in der Ilias u.a. stereotyp für Agamemnon ist (vgl. z.B. Ilias 2.243 ᾿Αγαμέμνονα ποιμένα λαῶν) und somit als intertextueller Farbton die vorliegende Stelle in ihrer Komik noch deutlicher hervortreten lässt.

Auch an der einen oder anderen Stelle entgeht der Autorin m.E. die eine oder andere komische Nuance: So greifen etwa die Verse 161-162 Stratus humi dulcem capiebat corde quietem, / ni Fors incertos iussisset ducere casus, wie Seelentag sinngemäss richtig bemerkt, eine verbreitete narrative Technik des Epos auf: das sog. sideshadowing, zu Deutsch auch bekannt als ‘Beinahe-Episoden’. Mittels dieser Technik wird dem Rezipienten ein kurzer Seitenblick auf einen möglichen Alternativverlauf der Erzählung und somit ‘aus’ der eigentlichen Erzählung ‘heraus’ ermöglicht—wobei im Epos sehr häufig z.B. das mögliche Weiterleben eines Helden angedeutet wird, ‘wenn er nicht in dem Moment von einem Feind getötet worden wäre’.7 Die humoristische Note dieser Culex -Stelle, die Seelentag anscheinend entgeht, scheint nun m.E. klar darin zu liegen, dass diese in ihrer Banalität mit einer ganzen Reihe ‘ernster’ epischer Intertexte kontrastiert: Nicht ein anderer, glücklicherer Verlauf des restlichen Lebens o.ä., sondern lediglich der ungestörte Mittagsschlaf des Hirten wird als alternativer Erzählhergang aufgezeigt. Dass der schläfrige Hirte dabei wie ein getöteter Held “am Boden dahingestreckt” liegt, trägt zu der humoristischen Kontrastwirkung noch zusätzlich bei.

Doch können und wollen wir uns hier nicht in der Diskussion von weiteren Details und Quisquilien ergehen. Das Gesamturteil kann nur positiv ausfallen: Einen Text, der nicht nur ein gerüttelt Mass an textkritischen Knacknüssen aufweist, sondern darüber hinaus auch sonst mit streckenweise schwer gepanzertem Latein aufwartet (man mag sich im Teilkapitel der Einleitung zu Sprache und Metrik, S. 33-40, ein Bild davon machen), so umfassend zu kommentieren, ist kein leichtes Unterfangen. Der Kommentar zur Mücke ist, zugegeben, proportional gesehen fast schon ein Elefant geworden. Doch das kleine Insekt hat das Elogium verdient.

Notes

1. Dieter Güntzschel, Beiträge zur Datierung des Culex, Münster (1972) 9-56.

2. Dass es bisweilen auch Fälle literarischer Fälschungen gibt, deren Zuordnung (böswillige Täuschung vs. literarisches Täuschungsspiel) nicht (mehr) eindeutig zu rekonstruieren ist, lässt sich am Beispiel der sog. Belgrader Petron-Fragmente zeigen, die möglicherweise ursprünglich nicht als Fälschung gedacht, aber nach ihrer Veröffentlichung und Enttarnung als solche rezipiert wurden; vgl. Walter Stolz, Petrons Satyricon und François Nodot (ca. 1650-ca. 1710). Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Fälschungen, Stuttgart (1987).

3. Vgl. Manuel Baumbach / Silvio Bär (Hrsg.), Brill’s Companion to Greek and Latin Epyllion and Its Reception, Leiden/Boston (2012).

4. Vgl. z.B. Elke Hentschel / Petra M. Vogel (Hrsg.), Deutsche Morphologie, Berlin / New York (2009) 336- 337.

5. Vgl. z.B. Ulrike Auhagen, Der Monolog bei Ovid, Tübingen (1999) 66-77, zur Tempusstruktur in Ovids Heroides 10.

6. Zu dieser narrativen Technik im antiken Epos vgl. Heinz-Günther Nesselrath, Ungeschehenes Geschehen. ‘Beinahe-Episoden’ im griechischen und römischen Epos von Homer bis zur Spätantike, Stuttgart (1992).